Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20.11.2003

LSG NRW: somatoforme schmerzstörung, fremder, fortbewegung, orthopädie, schwimmbad, gleichstellung, parkplatz, fahren, fibromyalgie, adipositas

Landessozialgericht NRW, L 7 SB 73/03
Datum:
20.11.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 7 SB 73/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 13 (14) SB 47/01
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Köln vom 10. März 2003 wird zurückgewiesen. Kosten
haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu
erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des
Nachteilsausgleichs "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG).
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Der Beklagte stellte bei der im Jahre 1947 geborenen Klägerin mit Bescheid vom
14.12.1998 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest.
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Im Oktober 1999 beantragte die Klägerin im Rahmen eines Änderungsverfahrens die
Feststellung eines höheren GdB. Der Beklagte veranlasste eine ärztliche Begutachtung
der Klägerin und stellte den GdB mit Bescheid vom 29.11.2000 mit 60 unter
Berücksichtigung der folgenden Leidensbezeichnungen (LBZ) fest: "1.
Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, der oberen und unteren Extremitäten bei
Verschleiß und Bandscheibenschäden, Fibromyalgiesyndrom, 2. rezidivierende
Sinubronchitis, Bronchialasthma, Lungenventilationsstörung, Allergie, 3. Inkontinenz, 4.
psychovegetative Dysregulation mit depressiven und Organfunktionsstörungen,
Cephalgie und 5. Nierensteindiathese". Die Klägerin erhob gegen diesen Bescheid
Widerspruch und beantragte zugleich die Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Der
Beklagte erteilte unter dem 28.12.2000 einen Abhilfebescheid, mit dem er den GdB auf
80 festsetzte. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.01.2001 lehnte der Beklagte die
Zuerkennung des Merkzeichens "aG" ab. Wegen der Gründe wird auf den Inhalt dieses
Bescheides Bezug genommen.
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Die Klägerin hat am 29.01.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben und
vorgetragen, dass sie "ohne normale Gehhilfe" nicht zu gehen in der Lage sei. Sie
könne keine längeren Wegstrecken von mehr als 50 m zurücklegen. Teilweise könne
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sie schon nach 5 m nicht mehr weitergehen.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines urologischen Gutachtens von Dr. T,
eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Dr. S und eines orthopädischen
Gutachtens von Dr. S. Die Sachverständigen schätzten den Gesamt-GdB auf 80 ein und
sahen die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" als nicht erfüllt an. Ferner hat das
SG die Vorprozessakte S 12 SB 26/98 beigezogen.
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Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 10.03.2003 abgewiesen. Auf die
Entscheidung wird Bezug genommen.
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Gegen den am 14.03.2003 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am
08.04.2003 Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter. Sie weist darauf hin,
dass es ihr nicht um die Zuerkennung eines höheren GdB gehe, sondern ausschließlich
um die Zuerkennung des Merkzeichens "aG".
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Die Klägerin beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 10. März 2003 abzuändern und den
Beklagten unter Abänderung des Widerspruchsbescheides vom 11. Januar 2001 zu
verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich
"aG" festzustellen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
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Der Senat hat Befundberichte von dem Arzt für Orthopädie L und dem Heilpraktiker G
eingeholt. Sodann hat der Senat den Facharzt für Orthopädie und Rheumatologie Dr. N
mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dr. N ist zu dem
Ergebnis gelangt, dass sich auch in der Zusammensicht der bestehenden Diagnosen im
Bereich des Bewegungsapparates, hier insbesondere im Bereich der Beine, keine
außergewöhnliche Gehbehinderung nachvollziehen lasse. Die Fortbewegung sei ohne
fremde Hilfe mit nicht ungewöhnlich großer Anstrengung, außerhalb des
Kraftfahrzeuges möglich.
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Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Klägerin eine ärztliche Bescheinigung
ihres behandelnden Orthopäden L vom 18.11.2003 überreicht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der Schwerbehindertenakte des Beklagten und der Vorprozessakte (S 12
SB 26/98) verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist durch den angefochtenen
Bescheid vom 11.01.2001 nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz
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(SGG) beschwert, denn dieser Bescheid ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat keinen
Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Die gesundheitlichen
Voraussetzungen für diesen Nachteilsausgleich liegen nicht vor.
Es bedurfte keiner Aussetzung des Verfahrens zur Durchführung eines Vorverfahrens,
obwohl der Widerspruchsbescheid vom 11.01.2001 erstmals Ausführungen zum
Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" enthält.
Ein Widerspruchsbescheid ist aus prozessökonomischen Gründen dann nicht mehr
erforderlich, wenn sich aus der Klageerwiderung ergibt, dass die Sache erneut überprüft
wurde und der Widerspruchsbescheid voraussichtlich nichts anderes enthalten würde
als die Klageerwiderung (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Aufl., § 78 SGG, Rz.
3d m.w.N.). Diesen Anforderungen wird die Klageerwiderung vom 06.06.2001 gerecht.
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Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" ergeben sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 1
Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 14
Straßenverkehrsgesetz (StVG) und Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO)
erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV). Danach sind als Schwerbehinderte
mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen
der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer
Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen:
Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte,
Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig
Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder
nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder
armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher
Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis
gleichzustellen sind.
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Die Klägerin gehört nicht zu diesem Personenkreis, da bei ihr weder eine
Gliedmaßenamputation noch eine Querschnittslähmung besteht.
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Sie ist dem in Nr. 11 VV zu § 46 StVO benannten Personenkreis auch nicht
gleichzustellen.
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Eine Gleichstellung erfordert, dass die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße
eingeschränkt ist und der Betroffene sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie
der oben genannte Personenkreis oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann.
Die Gehfähigkeit des Betroffenen muss so stark eingeschränkt sein, dass es ihm
unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Der vollständige Verlust der
Gehfähigkeit ist hierbei nicht erforderlich (Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom
10.12.2002 - AZ.: B 9 SB 7/01 R -). Ferner ist nicht darauf abzustellen, welche
Wegstrecke in Metern der Betroffene ggf. unter Verwendung orthopädischer Hilfsmittel
noch zurücklegen kann. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, unter welchen
Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit
großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten
außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden
Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere
Wegstrecken zurücklegt (BSG a.a.O.)
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Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin nach dem Gesamtergebnis des
Verfahrens nicht erwiesen. Weder ist sie beim Gehen ständig auf fremde Hilfe
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angewiesen noch bewegt sie sich nur unter ungewöhnlich großer Anstrengung fort. Dies
ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den schlüssigen und überzeugenden
Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen. Aus dem eigenen Vortrag der
Klägerin zu ihrem Gehverhalten ergibt sich bereits, dass sie sich nicht nur mit fremder
Hilfe fortbewegen kann. Die Klägerin verwendet beim Gehen Unterarmgehstützen oder
einen Rollator. Mit diesen Hilfsmitteln ist sie beispielsweise in der Lage, den
nächstgelegenen Supermarkt - etwa 200 m entfernt - aufzusuchen. Ferner gibt sie an,
gelegentlich ihre außergewöhnlich gehbehinderte Mutter mit dem Pkw abzuholen, um
Besorgungen zu machen oder ins Schwimmbad zu fahren. Es besteht nach den
Schilderungen der Klägerin kein Anhaltspunkt dafür, dass sie hierbei ständiger fremder
Hilfe bedarf.
Darüber hinaus hat sich durch die Beweisaufnahme nicht bestätigen lassen, dass sich
die Klägerin nur noch mit großer Anstrengung von den ersten Schritten an außerhalb
des Kraftfahrzeuges bewegen kann. Zunächst einmal ist bei der Klägerin kein
Krankheitsbild gegeben, welches sich vordergründig in der Weise auf ihre Gehfähigkeit
auswirkt wie es bei der Vergleichsgruppe anzunehmen ist. Bei ihr besteht eine
Adipositas Grad II, die sich sicher auf ihre allgemeine Bewegungsfähigkeit auswirkt,
aber keinen unmittelbaren Einfluss auf die Gehfähigkeit hat. Ferner hat sie im rechten
Kniegelenk einen Knorpelschaden, der zu einer leichten Funktionsbehinderung führt.
Auch hieraus kann nicht auf eine ungewöhnliche Gehbehinderung geschlossen werden.
Schließlich liegt bei der Klägerin ein Ganzkörperschmerzsyndrom vor. Zwar ist letztlich
nicht abschließend geklärt, ob es sich - wie die Klägerin annimmt - um ein sog.
Fibromyalgiesyndrom handelt oder - wie die Sachverständigen annehmen - um eine
somatoforme Schmerzstörung. Zweifel an dem Vorliegen einer Fibromyalgie ergaben
sich sowohl bei der Begutachtung durch Dr. S als auch bei der Begutachtung durch Dr.
N. Die sog. Tenderpoints waren sämtlich positiv, aber auch alle Kontrollpunkte lösten
bei der Klägerin Schmerzen aus. Das spricht dafür, dass bei der Klägerin eher an eine
somatoforme Schmerzstörung zu denken ist. Letztlich kann das aber dahinstehen, da
nicht die Diagnosestellung im Vordergrund steht, sondern die mit der Erkrankung
verbundene Funktionsstörung und hier insbesondere die Auswirkungen auf die
Gehfähigkeit. Wie die Ausführungen des Dr. N belegen, war die Bestimmung des
Beschwerdeausmaßes bei der Klägerin schwierig. Die Klägerin hat nahezu bei
sämtlichen Bewegungsprüfungen, die die unteren Extremitäten betrafen, mit
Gegenspannen und sofortiger Schmerzangabe reagiert. Demgegenüber war sie aber in
unbeobachteten Momenten zu derartigen Bewegungen durchaus in der Lage. So war
bei den Kniegelenken im Liegen bei freier Streckbarkeit beidseits eine maximale
Kniebeugung von 40 Grad möglich, bei dem danach eingenommenen Sitz auf der
Liegenkante waren beide Kniegelenke in 90-Grad-Position frei herabhängend.
Demgemäß stellte Dr. N eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Untersuchungsbefund
und dem sonstigen Verhalten fest. Ferner beschreibt Dr. N, dass die Klägerin mit dem
eigenen Pkw zur Untersuchung erschien und den Weg vom Parkplatz in das
Krankenhaus, welcher die Bewältigung einer steilen Auffahrt beinhaltet, selbständig
zurücklegte. Bei der Klägerin bestehen zwar degenerative Veränderungen im Bereich
der Lendenwirbelsäule und des rechten Kniegelenkes, jedoch nicht in einer
Ausprägung, die auf eine außergewöhnliche Gehbehinderung schließen lassen würde.
In Anbetracht der bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen, ihrer eigenen
Schilderungen zu ihrem Gehverhalten und denjenigen der Sachverständigen kann es
nicht als gerechtfertigt angesehen werden, sie funktionell mit einer Gehbehinderung von
Querschnittsgelähmten oder Doppelunterschenkelamputierten gleichzustellen. Nach
den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. N, der diesbezüglich mit
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sämtlichen vorher gehörten Sachverständigen übereinstimmt, ist die Fortbewegung der
Klägerin zwar durchaus mit Anstrengung verbunden, jedoch nicht mit der geforderten
ungewöhnlich großen Anstrengung von den ersten Schritten außerhalb des
Kraftfahrzeuges an.
Das ärztliche Attest des Herrn L, welches die Klägerin in der mündlichen Verhandlung
überreicht hat, rechtfertigt weder eine andere Beurteilung noch sah sich der Senat zu
weiteren Ermittlungen veranlasst. Der behandelnde Orthopäde berichtet von einer
akuten Erkrankung im Bereich des rechten Kniegelenkes, die innerhalb einer Zeitdauer
von sechs bis 24 Wochen abheilt. Im Schwerbehindertenrecht sind allein nicht nur
vorübergehende Funktionsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen, wobei als nicht nur
vorübergehend ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten gilt (vgl. Anhaltspunkte für die
ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz, Stand 1996, Nr. 17 S. 28). Sollte die Erkrankung entgegen
der Erwartung des behandelnden Arztes nicht ausheilen, wäre die Klägerin gehalten
ggf. einen neuen Antrag bei dem Beklagten zu stellen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Es besteht kein Anlass, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen.
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