Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.10.1998

LSG NRW (gaststätte, tätigkeit, wohnung, versicherungsschutz, unfallversicherung, wechsel, sgg, treppenhaus, treppe, arbeitsunfall)

Landessozialgericht NRW, L 17 U 119/98
Datum:
28.10.1998
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
17. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 17 U 119/98
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 23 U 108/97
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 2 U 3/99 R
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 23. Februar 1998 abgeändert. Die Beklagte wird unter
Aufhebung des Bescheides vom 12. Mai 1997 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 19. August 1997 verurteilt, das Ereignis
vom 22. März 1997 als Arbeitsunfall zu entschädigen. Die Beklagte hat
der Klägerin die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu
erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob die Sturzverletzungen der Klägerin Folge eines
Arbeitsunfalls sind.
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Die 1957 geborene Klägerin ist als selbständige Betreiberin einer Gaststätte in E ... bei
der Beklagten versichert. Die Gaststätte ist im Erdgeschoß eines zweigeschossigen
Hauses gelegen, dessen obere Etage die Klägerin mit ihrer Familie bewohnt. Die
Geschosse sind durch ein Treppenhaus verbunden, das dem Publikumsverkehr nicht
offen steht. Am 22.03.1997 stürzte die Klägerin gegen 15.10 Uhr auf dem Weg von ihrer
Wohnung in die Gaststätte auf der Treppe und zog sich Verletzungen des linken Beines
zu.
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Mit Schreiben vom 02.05.1997 teilte die Klägerin der Beklagten ergänzend zu ihrer
Unfallanzeige vom 07.04.1997 mit, sie habe sich in der Wohnung umgezogen und sei
sodann zum Bedienen in die Gaststätte hinuntergegangen, wobei sie auf der Treppe
umgeknickt sei; Betriebsmaterialien habe sie nicht bei sich geführt. Mit Bescheid vom
12.05.1997 lehnte die Beklagte eine Entschädigung des Unfalls ab, weil die versicherte
Tätigkeit erst mit dem Erreichen bzw. Verlassen der wesentlich betrieblich genutzten
Räume beginne. Da die Wohnung und das Treppenhaus zum unversicherten privaten
Wirkungsbereich zählten, sei zum Zeitpunkt des Unfalls der Betriebs bereich noch nicht
erreicht gewesen, so daß Ansprüche nicht bestünden.
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Die Klägerin legte am 03.06.1997 Widerspruch ein und machte geltend, sie habe sich
nach dem Reinigen der Gaststätte umziehen und duschen wollen, um die Gaststätte
sodann zu öffnen. Es sei ungerechtfertigt, sie versicherungsrechtlich schlechter zu
behandeln, als denjenigen, der seine Gaststätte außerhalb seines Wohnhauses
betreibe.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 19.08.1997 wies die Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück und führte aus, da die Wohnung und das Treppenhaus nicht
überwiegend betriebsbedingt genutzt würden, zähle dieser Bereich zum unversicherten
privaten Wirkungskreis.
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Die Klägerin hat am 10.09.1997 Klage vor dem Sozialgericht - SG - Dortmund erhoben.
Sie hat zum einen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren unter Überreichung
der Kopie der Bauzeichnung des Gebäudes, in dem die Gaststätte gelegen ist, sowie
von sechs Fotografien des Treppenhauses wiederholt. Zum anderen hat sie angegeben,
daß sie in der Wohnung Betriebsmaterialien wie Tischwäsche etc. verwahre und der
unfallbringende Weg betrieblich veranlaßt gewesen sei, weil sie sich nach der
Reinigung der Gaststätte auf den weiteren Betrieb der Gaststätte habe vorbereiten
wollen.
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Das SG hat die Klage mit Urteil vom 23.02.1998 abgewiesen. Auf die
Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
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Gegen das ihr am 19.03.1998 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17.04.1998
Berufung eingelegt. Sie macht geltend, der Weg von der Gaststätte in ihre Wohnung
bzw. zurück sei ausschließlich betriebsbedingt erforderlich gewesen, weil es
offensichtlich sei, daß sie nicht in der gleichen Bekleidung, in der sie die
Reinigungsarbeiten in der Gaststätte vorgenommen habe, anschließend die Gäste habe
bedienen können. Da sie sich in den Betriebsräumen nicht habe waschen und
umkleiden können, habe es sich um das Zurücklegen eines Betriebsweges gehandelt,
der unter Versicherungsschutz stehen müsse.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des SG Dortmund vom 23.02.1998 abzuändern und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 12.05.1997 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 19.08.1997 zu verurteilen, ihr wegen des als Arbeitsunfall
anzusehenden Ereignisses vom 22.03.1997 Entschädigungsleistungen zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Senat hat die Klägerin im Verhandlungstermin angehört; wegen ihrer Angaben wird
auf die Sitzungsniederschrift vom 28.10.1998 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist begründet.
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Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn der angefochtene
Ablehnungsbescheid beschwert die Klägerin i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz - SGG -, weil sie am 22.03.1997 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
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Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des durch Art. 1 des Unfallversicherungs -
Einordnungsgesetzes - UVEG - vom 07.08.1996 (BGBl. I S. 1254) zum 01.01.1997 in
Kraft getretenen Siebten Sozialgesetzbuchs (Gesetzliche Unfallversicherung) - SGB VII
- sind Arbeitsunfälle Unfälle vom Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz
nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte
Tätigkeiten sind auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit
zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8
Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Daß Versicherungsschutz nach letzterer Bestimmung nicht
bestanden hat, hat das SG zu Recht dargelegt. Befinden sich betriebliche und privat
genutzte Räume in verschiedenen Stockwerken desselben Hauses, so ist
Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ausgeschlossen, weil Wege i.S.
dieser Bestimmung erst an der Außenhaustür beginnen können (vgl. Bereiter-
Hahn/Schieke/ Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung - Handkommentar -, 5. Aufl.,
Anm. 7.14.2 zu § 8 SGB VII; Lauterbach/Schwerdtfeger, Unfallversicherung (SGB VII), 4.
Aufl., Rdn. 460 zu § 8 SGB VII; Ricke, Kasseler Kommentar, Rdn. 188 zu § 8 SGB VII
jeweils m.w.N. zur Rechtspr. des BSG).
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Jedoch stand die Klägerin nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII unter Versicherungsschutz,
weil sich der Unfall auf einem sog. Betriebsweg, also einem Weg der in unmittelbarem
Betriebsinteresse zurück gelegt worden ist (vgl. Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens a.a.O.
Anm. 7.14 zu § 8 SGB VII), ereignet hat.
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Der Senat sieht dabei folgenden Sachverhalt als erwiesen an: Die Klägerin hatte sich
gegen 12.30 Uhr in die Gaststätte begeben, um diese einschließlich der vorhandenen
Sanitäreinrichtungen - Toiletten - zu reinigen. Diese Arbeiten dauerten bis ca. 13.45
Uhr/14.00 Uhr. Anschließend war sie in ihre Wohnung zurück gekehrt, um sich zu
duschen und für die späteren Arbeiten in der Gaststätte umzukleiden. Gegen 15.10 Uhr
begab sie sich zur weiteren Arbeit wieder in die Gaststätte hinab, wobei sie auf der
Treppe zu Fall kam. Die Feststellungen beruhen im wesentlichen auf den glaubhaften
Angaben der Klägerin, wie sie sie auch schon zeitnah nach dem Unfallereignis
gegenüber der Beklagten gemacht hat und die auch von letzterer wie auch dem SG
nicht in Zweifel gezogen worden sind.
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Soweit das SG hierzu ausgeführt hat, daß Wege zwischen privaten Wohnräumen und
Betriebsstätten, die in einem Hause gelegen sind, grundsätzlich dem unversicherten
Lebensbereich zuzurechnen sind, sofern die Verbindungswege - Treppen - nicht auch
wesentlich betrieblichen Zwecken dienen, ist dies zutreffend (BSGE 11, 267, 270; 12,
165, 167; BSG NJW 1993, 2070; Brackmann/Krasney, Handbuch der
Sozialversicherung - Gesetzliche Unfallversicherung -, 12. Aufl., Rdn. 183 zu § 8 SGB
VII; Lauterbach/Schwerdtfeger a.a.O. Rdn. 461 zu § 8 SGB VII). Auch gehört das
Anlegen bzw. der Wechsel der Kleidung in der Regel zum unversicherten Wirkungskreis
(BSGE 18, 143, 147; SozR Nr. 39 zu § 542 RVO a.F.; BSG Breithaupt 1957, 902, 903;
Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, Rdn. 64 zu § 2).
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Eine Ausnahme hiervon gilt jedoch dann, wenn der Weg zwischen häuslichem und
betrieblichem Bereich infolge der bereits aufgenommenen versicherten Tätigkeit
erforderlich geworden ist, etwa, wenn - wie hier - infolge der zuvor ausgeübten
versicherten Tätigkeit die Körperreinigung und der Wechsel der Kleidung erforderlich
geworden ist, um die versicherte Tätigkeit weiter fortsetzen zu können (BSG SozR Nr.
54 zu § 542 RVO a.F. = Breithaupt 1963, 24; BSG, Urteil vom 08.07.1980 - 2 RU 25/80 -;
Kater/Leube a.a.O.; Lauterbach/Schwerdtfeger a.a.O. Rdn. 461 zu § 8 SGB VII; wohl zu
weitgehend Bayer. LSG Breithaupt 1955, 584). Hieran ist auch nach der jüngeren
Rechtsprechung des BSG festzuhalten, wonach der Versicherungsschutz voraussetzt,
daß ein innerer Zusammenhang zwischen der unfallbringenden Handlung mit der im
Gesetz genannten versicherten Tätigkeit besteht, der es rechtfertigt, das entsprechende
Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, wobei es einer Wertentscheidung
bedarf und wobei Überlegungen nach dem Zweck des Handelns des Versicherten im
Vordergrund stehen (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 97; SozR 3-2200 § 548 Nrn. 19, 27, 30
m.w.N.).
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Der Wechsel von den betrieblichen Räumen in den Wohnraum beruhte hier maßgeblich
auf dem Willen der Klägerin, sich gründlich zu reinigen und die Kleidung für ihre spätere
Tätigkeit in der Gaststätte zu wechseln. Diese Handlungen und der damit verbundene
Wechsel in den privaten Bereich waren aber objektiv erforderlich, da es offensichtlich
ist, daß die Klägerin nach den Putzarbeiten in der Gaststätte ihre Arbeit, die vornehmlich
im Bedienen der Gäste besteht, nicht ohne eine entsprechende Herrichtung ihrer
Person, die mangels entsprechender Einrichtungen in der Gaststätte selbst nicht
vorgenommen werden konnte, aufnehmen konnte.
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Dieser betriebliche Zusammenhang wird auch nicht dadurch gelöst, daß der Aufenthalt
in der Wohnung durch die Vornahme von nicht betriebsbezogenen Handlungen - Kaffee
trinken und Zigaretten rauchen - verlängert worden ist. Angesichts der Gesamtzeit
zwischen Beendigung der Reinigungsarbeiten und Wiederaufnahme der Tätigkeit in der
Gaststätte von ca. 1 1/4 Stunden kommt letzteren Handlungen keine so wesentliche
Bedeutung angesichts ihrer zeitlichen Dauer von weit unter einer Stunde zu, um den
betrieblichen Zusammenhang zwischen dem Aufsuchen der Wohnung und der zuvor
ausgeübten versicherten Tätigkeit zu lösen. Der Wechsel in den privaten Bereich hat
sein wesentliches Gepräge durch die zuvor verrichtete Tätigkeit erhalten und ist
durchgehend hiervon bestimmt worden, denn die daneben ausgeführten Handlungen
sind von so offensichtlich untergeordneter Bedeutung, daß sie weder nach Art noch
nach zeitlicher Dauer als wesentlich für die Handlungstendenz der Klägerin angesehen
werden können.
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Im Hinblick auf die bei dem Unfall erlittenen Verletzungen kommen
Entschädigungsansprüche der Klägerin gegen die Beklagte weiterhin in Betracht, so
daß diese dem Grunde nach (§ 130 SGG) zu Leistungen zu verpflichten war.
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Auf die Berufung der Klägerin mußte das Urteil des SG daher mit der auf § 193 SGG
beruhenden Kostenentscheidung geändert und der Klage stattgegeben werden.
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Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden
Rechtsfrage die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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