Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 31.08.2004

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Landessozialgericht NRW, L 10 SB 116/03
Datum:
31.08.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 10 SB 116/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 5 SB 142/01
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold
vom 24. September 2003 wird zurückgewiesen. Kosten sind im zweiten
Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
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I.
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Die 1944 geborene Klägerin begehrt einen höheren Grad der Behinderung (GdB) nach
dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen - (SGB IX).
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Mit Abhilfebescheid vom 03.06.1998 hatte der Beklagte bei der Klägerin wegen der
Gesundheitsstörungen 1.Harnblasenmuskelschwäche 2.Fibromyalgiesyndrom,
3.Funktionsstörung der Wirbelsäule, 4.Psychovegetative Störungen einen GdB von 30
festgestellt.
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Am 06.11.2000 beantragte die Klägerin einen höheren GdB. Zur Begründung gab sie
an, dass eine chronische Halswirbelsäulen-Erkrankung und eine Skoliose
hinzugetreten seien, zudem sei eine Bluthochdruckerkrankung zu berücksichtigen. Der
Beklagte zog von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. T einen Befundbericht bei,
dem Fremdarztberichte beigefügt waren. Nach vorsorgungsärztlicher Auswertung der
Unterlagen lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin mit auf § 48 Zehntes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB X) gestütztem Bescheid vom 09.01.2001 mit der Begründung
ab, dass sich zwar die Funktionsstörungen der Wirbelsäule verschlimmert hätten, aber
die Auswirkungen der insgesamt vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen nicht so
schwerwiegend seien, dass sie den bisher festgestellten GdB erhöhten. Mit ihrem
Widerspruch führte die Klägerin ergänzend an, dass sie an einer Bänderschwäche im
linken Fuß leide, die bei längerem Gehen und Stehen zu starken Schmerzen führe. Die
Beklagte zog daraufhin Befundberichte von dem Arzt für Frauenheilkunde Dr. F und
dem Facharzt für Orthopädie Dr. E bei. Nach gutachtlicher Stellungnahme wies der
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Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 27.04.2001
zurück. Zur Begründung führte er u.a. aus, die Gesundheitsstörung "Minderbelastbarkeit
des linken Fußes" sei keine Funktionsbeeinträchtigung im Sinne des
Schwerbehindertengesetzes, weil sie keinen GdB von wenigstens 10 bedinge.
Mit ihrer Klage vom 22.05.2001 hat die Klägerin vorgetragen, der Beklagte sei auf die
neu hinzugetretene Skoliose nicht eingegangen. Deshalb sei von einem höheren GdB
auszugehen; dafür spreche auch das chronische Halswirbelsäulensyndrom. Ferner
seien die gravierende Minderbelastbarkeit des linken Fußes, der Verlust der
Gallenblase und eine Stressinkontinenz nach zweimaliger Blasenhebung zu
berücksichtigen.
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Die Klägerin hat beantragt,
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den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 09.01.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.04.2001 zu verurteilen, den GdB ab November 2000
mit 50 zu bewerten.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat die Auffassung vertreten, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei ein GdB
von 40 angemessen.
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Das Sozialgericht (SG) Detmold hat zunächst Befund- und Behandlungsberichte von
dem Arzt für Innere Medizin und Kardiologie Dr. S, dem Arzt für Urologie Dr. G, dem
Facharzt für Orthopädie Dr. E, dem Arzt für Allgemeinmedizin Dr. T und dem Arzt für
Neurologie und Psychiaterie X und sodann Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie
Dr. P und dem Facharzt für Innere Medizin Dr. A eingeholt. Dr. P (Gutachten vom
14.03.2002) hat ausgeführt, dass ein Fibromyalgie-Syndrom nicht vorliege; den
Funktionsstörungen der Wirbelsäule hat er einen GdB von 20 und denen des linken
Fußes einen GdB von 10 zugemessen. In seinem Gutachten vom 22.04.2002 hat Dr. A
zusätzlich "Blasenentleerungsstörung, Harninkontinenz" und "Psychovegetative
Störungen, psychosomatische Störungen" mit einem GdB von jeweils 20 beschrieben;
"Herz- und Kreislaufstörung, Bluthochdruck" und "Magen- und
Zwölffingerdarmschleimhautfunktionsstörung" hat er jeweils einen GdB von 10
zugemessen. Den Gesamt-GdB hat er mit 40 beurteilt und dazu angeben, dieser liege
im oberen Ermessensbereich; er bewege sich zwischen 30 und 40, näherungsweise bei
40. Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG ferner
ein Gutachten von dem Oberarzt der Orthopädischen Abteilung des Asklepios X-Klinik
in I1, Dr. I, eingeholt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 25.11.2002
unter Beibehaltung der übrigen GdB-Bewertungen mittelgradigen funktionellen
Störungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen GdB von 30 zugemessen. Den
Gesamt-GdB hat er ebenfalls mit 40 bewertet und dazu angegeben, die
Funktionsstörung "Blasenentleerungsstörung und Harninkontinenz" führe zu einer
Erhöhung des durch die Wirbelsäulenfunktionsstörungen hervorgerufenen GdB auf
insgesamt 40. Die Funktionsstörung "psychovegetative und psychosomatische Störung"
führe zu keiner weiteren Erhöhung, da Überschneidungen mit den übrigen
Funktionsstörungen bestünden. Ebenso würden die Gesundheitsstörungen mit einem
GdB von 10 den Gesamt-GdB nicht erhöhen.
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Das SG hat den Beklagten mit Urteil vom 24.09.2003 unter Aufhebung des Bescheides
vom 09.01.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2001 verurteilt,
den GdB ab November 2000 mit 40 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage
abgewiesen. In seiner Urteilsbegründung hat es unter Darlegung der
Bewertungsmaßstäbe der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" - früher "?
nach dem Schwerbehindertengesetz" - (AHP) für die Wirbelsäulenschäden einen GdB
von 30, die Blasenentleerungsstörung mit Harninkontinenz ebenso wie für die
psychovegetativen Störungen einen GdB von jeweils 20 und für die übrigen
Gesundheitsstörungen (Funktionsbeeinträchtigungen des linken Fußes,
Blutdruckschwankungen mit Herz-Kreislauf-Symptomatik, Entzündungen der Magen-
und Zwölffingerschleimhaut) einen GdB von jeweils 10 in Ansatz gebracht. Den
Gesamt-GdB hat es entsprechend der Beurteilung des Dr. I mit 40 beurteilt.
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Gegen das am 27.10.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 25.11.2003 Berufung
eingelegt.
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Der Beklagte hat dem Urteil des SG entsprochen und mit Bescheid vom 20.11.2003
einen GdB von 40 festgestellt.
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Die Klägerin ist der Auffassung, es sei ein GdB von 50 festzustellen. Dr. A habe nämlich
den orthopädischen GdB, der zunächst mit 20 bewertet worden sei, aus internistischer
Sicht um 20 auf 40 erhöht. Da aber der orthopädische GdB, wie auch das SG ausgeführt
habe, 30 betrage, müsse die Erhöhung um 20, die Dr. A vorgenommen habe, nun zu
einem GdB von 50 führen.
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Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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das Urteil des SG Detmold vom 24.09.2004 abzuändern und den Beklagten unter
Abänderung des Bescheides vom 09.01.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.04.2001 und des Bescheides vom 20.11.2003 zu
verurteilen, den GdB ab November 2000 mit 50 zu bewerten.
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Der Beklagte hat keine Stellungnahme abgegeben.
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Der Senat hat Dr. A auch im Berufungsverfahren zum Sachverständigen ernannt und
von diesem eine ergänzende Stellungnahme zu der Bildung des Gesamt-GdB
eingeholt. Der Sachverständige hat den Gesamt-GdB mit 40 beurteilt und dazu
ausgeführt, dass bei dessen Bildung die Auswirkungen der einzelnen
Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung ihrer
wechselseitigen Beziehung zueinander zu berücksichtigen seien. Da sich die
Auswirkungen der somatischen Gesundheitsstörungen mit den psychovegativen und
psychosomatischen Störungen überschnitten, betrage der Gesamt-GdB - wie vom SG
auch im Einzelnen zutreffend dargelegt - 40. Dabei handele es sich jetzt allerdings um
einen sog. "mittleren" Wert.
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Der Senat hat die Beteiligten auf seine Absicht hingewiesen, die Berufung ohne
mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG zurückzuweisen.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
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sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
II.
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Der Senat kann über die Berufung der Klägerin nach § 153 Abs. 4 SGG durch
Beschluss entscheiden, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet hält und eine
mündliche Verhandlung entbehrlich ist. Der Senat hat die Beteiligten hierzu mit
Schreiben vom 05.04.2004, 26.04.2004 und 03.08.2004 angehört.
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
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Das SG hat die auf Feststellung eines höheren GdB als 40 gerichtete Klage zu Recht
abgewiesen; denn die Klägerin ist durch den Bescheid des Beklagten vom 09.01.2001
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2001 und den Bescheid vom
20.11.2003, der nach § 96 SGG Gegenstand des Rechtsstreits ist, insoweit nicht
beschwert. Sie hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.
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In den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin sind seit Juni 1998 (Bescheid vom
03.06.1998) zwar Änderungen i.S.d. § 48 SGB X eingetreten; diese rechtfertigen aber
nur die Erhöhung des GdB auf 40. Zur Begründung - und Vermeidung von
Wiederholungen - nimmt der Senat auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen
Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG) Bezug und führt ergänzend aus:
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Soweit die Klägerin mit ihrer Berufung die Bildung eines Gesamt-GdB von 50 letztlich
mit einer eher mathematischen Betrachtung begründet, verkennt sie bereits die
gesetzlichen Vorgaben. Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist der Gesamt-GdB, wenn - wie hier
bei der Klägerin - mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft vorliegen, nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer
Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen.
Dementsprechend geben die AHP, die rechtsnormähnliche Wirkung haben und wie
untergesetzliche Normen von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden sind
(BSG, Urteil vom 09.04.1997, 9 RVs 4/95 m. w. N., zuletzt auch BSG, Urteile vom
18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R und B 9 SB 6/02 R -), in der Nr. 19 vor: "Liegen mehrere
Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar (unter Berücksichtigung der Nr. 18
Absatz 4) Einzel-GdB/MdE-Grade anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB/MdE-
Grades durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht
addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-
GdB/MdE-Grades ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen
Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer
wechselseitigen Beziehungen zueinander."
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Davon ausgehend ist die Beurteilung der Sachverständigen Dr. A und Dr. I zutreffend.
Sie haben der Verschlechterung der Wirbelsäulenschäden der Klägerin Rechnung
getragen und zudem berücksichtigt, dass die Auswirkungen des Harnblasenleidens der
Klägerin mit einem GdB von 20 das Ausmaß der Beeinträchtigung der
Wirbelsäulenschäden, das nunmehr mit einem GdB von 30 zu bewerten ist, auf 40
erhöht, weil diese Gesundheitsstörungen voneinander unabhängig sind und
verschiedene Bereiche im Ablauf des Lebens betreffen (AHP Nr. 19 Abs. 3). Davon
abzuweichen, besteht kein Anlass. Vielmehr ist es nach den AHP Nr. 19 Abs. 4 bei
leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 sogar vielfach nicht
gerechtfertigt, überhaupt auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der
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Behinderung zu schließen. Dies gilt auch für das psychische Leiden mit einem GdB von
20; denn dessen Auswirkungen sind - im Gegensatz zu den Auswirkungen des
Harnblasenleidens - nicht von den anderen Gesundheitsstörungen unabhängig,
sondern überschneiden sich mit deren Auswirkungen zumindest weitgehend.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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Die Revision war nicht zuzulassen (§ 160 Abs. 1 und 2 SGG).
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