Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11.04.1997

LSG NRW (1995, rente, unfallversicherung, witwenrente, anhörung, verwaltungsakt, aufhebung, sgg, höhe, vorschrift)

Landessozialgericht NRW, L 3 J 5/97
Datum:
11.04.1997
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 3 J 5/97
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 2 J 125/96
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 21. November 1996 wird zurückgewiesen. Die Beklagte
trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im
Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über die Auswirkungen des Zusammentreffens einer
Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer solchen aus der
gesetzlichen Arbeiterrentenversicherung.
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Die Klägerin ist die Witwe des am 15.05.1995 verstorbenen Versicherten K ... B ... Der
Versicherte hatte seit dem 01.02.1988 von der Beklagten eine Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit und ab dem 01.07.1993 eine Regelaltersrente bezogen.
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Anläßlich ihres am 19.05.1995 bei der Beklagten gestellten Antrages auf Gewährung
von Witwenrente gab die Klägerin an, auch Hinterbliebenenleistungen aus der
gesetzlichen Unfallversicherung beantragt zu haben. Die Beklagte bewilligte ihr durch
Bescheid vom 21.07.1995 "Große Witwenrente" ab dem 01.06.1995 in Höhe von DM
1.365,91 monatlich. Die Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft (BG)
bewilligte ihr durch Bescheid vom 23.02.1996 eine Hinterbliebenenrente nach dem
verstorbenen Versicherten ab dem 15.05.1995 in Höhe von DM 1.624 und ab dem
01.09.1995 in Höhe von DM 974,40 monatlich. Grundlage war die Anerkennung einer
Berufskrankheit (4105) bei dem Versicherten. Als Unfalltag wurde der 05.04.1995
angegeben.
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Durch Bescheid vom 29.03.1996 teilte die Beklagte der Klägerin mit, aufgrund des
Zusammentreffens der Witwenrente mit einer Leistung aus der Unfallversicherung
werde der Bescheid vom 21.07.1995 abgeändert. Die Rente werde in dem Umfang nicht
geleistet, als die Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge den Grenzbetrag von
DM 1.470,30 übersteige (§ 93 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB VI -
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). Ab 01.05.1996 betrage die monatliche Witwenrente DM 460,69. Für die Zeit vom
01.06.1995 bis zum 30.04.1996 ergebe sich eine Überzahlung in Höhe von DM
11.766,24, aufgrund derer sie einen Erstattungsanspruch auf die Nachzahlung der
Unfallrente der BG geltend gemacht habe.
Den von der Klägerin hiergegen am 19.04.1996 eingelegten Widerspruch wies die
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.07.1996 zurück.
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Hiergegen hat die Klägerin am 26.07.1996 beim Sozialgericht (SG) Dortmund Klage
erhoben und beantragt, den Bescheid vom 29.03.1996 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10.07.1996 aufzuheben.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat die Ansicht vertreten, daß § 93 Abs. 5 Satz 1 SGB VI auf Hinterbliebenenrenten
nicht anzuwenden sei. Der entgegenstehenden Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 21.06.1995, Az.: 5 RJ 4/95, könne sie nicht
folgen. Die Beklagte hat sich in dieser Auffassung durch das Wachstums- und
Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25.09.1996 bestätigt gesehen.
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Durch Urteil vom 21.11.1996 hat das SG die angefochtenen Bescheide der Beklagten
aufgehoben. Auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des Urteil wird Bezug
genommen.
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Gegen dieses ihr am 19.12.1996 zugestellte Urteil richtet sich die am 08.01.1997
eingegangene Berufung der Beklagten. Sie trägt vor, die Aufhebung des
Witwenrentenbescheides vom 21.07.1995 sei nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des
Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) erfolgt - auch wenn diese
Rechtsgrundlage nicht ausdrücklich in den angefochtenen Bescheiden genannt worden
sei - da die BG mit Bescheid vom 23.02.1996 der Klägerin nachträglich eine Rente
infolge des Todes des Versicherten bewilligt habe. Die Ergänzung des § 93 Abs. 5 SGB
VI durch das WFG sei eine Klarstellung der schon seit der Rentenreform 1992
bestehenden Rechtslage. Einer Anhörung der Klägerin habe es im Hinblick auf § 24
Abs. 2 Nr. 5 SGB X nicht bedurft. Auch Ermessenserwägungen seien entbehrlich
gewesen, da kein sog. atypischer Fall im Sinne des § 48 SGB X vorliege. Denn der
Klägerin sei bekannt gewesen, daß die Nachzahlung aus der Unfallversicherung für sie
- die Beklagte - zur Begleichung der Erstattungsansprüche zur Verfügung stehe.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.11.1996 abzuändern und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und den der die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten
Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung der Beklagten ist zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.
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Gegenstand des Rechtsstreits ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom
29.03.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.07.1996. Der
Bescheid enthält zwei Regelungen (Verfügungssätze), nämlich die - teilweise -
Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 21.07.1995 und die Rückforderung der für
die Zeit vom 01.06.1995 bis zum 30.04.1996 nach Ansicht der Beklagten zu Unrecht
ausgezahlten Leistungen. Das SG hat zutreffend unter Zugrundelegung der
Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) entschieden, daß diese Regelungen rechtswidrig
sind. Das SG hat ebenso zutreffend entschieden, daß sich hieran durch das Inkrafttreten
des WFG nichts geändert hat. Der Senat macht sich nach eigener Überprüfung die
entsprechenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen
Urteils vollinhaltlich zu eigen; zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf sie Bezug
genommen (§ 153 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
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Der angefochtene Bescheid ist aber auch aus weiteren Gründen rechtswidrig. Denn die
Beklagte hat nicht die Anforderungen des SGB X beachtet, unter denen unanfechtbar
zuerkannte Rechte wieder entzogen werden können. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist
ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen
oder rechtlichen Verhältnissen, die seinem Erlaß zugrundegelegen haben, eine
wesentliche Änderung eintritt. Nach der Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X,
auf die sich die Beklagte erstmals im Berufungsverfahren berufen hat, soll der
Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse u.a. dann
aufgehoben werden, wenn nach Antragstellung oder Erlaß des Verwaltungsaktes
Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, welches zum Wegfall oder zur Minderung
des Anspruchs geführt hätte. Grundvoraussetzung der Anwendbarkeit des § 48 SGB X
ist mithin, daß sich die rechtserheblichen Verhältnisse nach dem Erlaß des bindend
gewordenen Verwaltungsaktes geändert haben müssen. Eine solche Änderung ist im
vorliegenden Fall nicht eingetreten, so daß eine Aufhebung des Verwaltungsaktes
jedenfalls nicht auf § 48 SGB X gestützt werden kann. Unter Zugrundelegung der von
der Beklagten vertretenen Rechtsauffassung hat ein von Anfang an rechtswidriger
Verwaltungsakt vorgelegen. Wie sich aus § 93 Abs. 1 SGB VI ausdrücklich ergibt, ist im
Rahmen der Anrechnung der Rente aus der Unfallversicherung auf die Rente aus der
Rentenversicherung entscheidend, ob entsprechende Ansprüche für denselben
Zeitraum bestehen. Der Anspruch auf Witwenrente aus der Unfallversicherung bestand
bereits seit dem 15.05.1995 und somit vor Beginn der Anspruchsberechtigung
hinsichtlich der "Großen Witwenrente" aus der Rentenversicherung (01.06.1995). Es
kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob zu diesem Zeitpunkt die Rente
aus der Unfallversicherung bereits bescheidmäßig bewilligt oder ausgezahlt worden
war (vgl. zur früheren Rechtslage: BSG SozR Nr. 5 zu § 1279 RVO; ferner BSG SozR 2
1300 § 45 Nr. 29; Urteil vom 09.09.1993, Az.: 5 RJ 28/93).
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Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beklagten war der
Rechtsbewilligungsbescheid vom 21.07.1995 sogleich, als er erlassen wurde,
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rechtswidrig. Die Möglichkeit, ihn zurückzunehmen, richtete sich dann nach § 45 SGB X.
Diese Norm ist bisher einhellig als Ermessensnorm angesehen worden (vgl. u.a. BSGE
55, 250; 59, 157; SozR 2 1300 § 48 Nr. 11; § 45 Nrn. 12, 28, 29; § 43 Nr. 1). Zur
Begründung einer solchen Ermessensentscheidung hätte die Beklagte die wesentlichen
tatsächlichen und rechtlichen Gründe sowie die Gesichtspunkte mitteilen müssen, von
denen sie bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 und 3
SGB X). Dies hat sie in den angefochtenen Entscheidungen nicht getan. Schon aus
diesem Grunde mußte die Klage Erfolg haben. Äußerungen der Beklagten im
vorliegenden Streitverfahren sind verspätet (§ 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X).
Die Beklagte hat im Verwaltungsverfahren auch die Vorschrift des § 24 SGB X
unbeachtet gelassen. Gemäß § 42 Satz 2 SGB X in Verbindung mit Satz 1 der Vorschrift
kann derjenige, gegen den ein Verwaltungsakt erlassen worden ist, der in seine Rechte
eingreift, dessen Aufhebung - allein deshalb - beanspruchen, wenn und weil die nach §
24 SGB X erforderliche Anhörung unterblieben und bis zum Abschluß des
Vorverfahrens (§§ 78 ff. SGG) nicht nachgeholt worden ist. § 24 Abs. 2 SGB X gestattet
der Behörde nur bei Vorliegen der darin abschließend geregelten Voraussetzungen
(BSG SozR 2 1200 § 34 Nrn. 2, 3,6, 9, 12, 14) in besonders gelagerten Fällen des
weichenden Privatinteresses, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob
Belange der Verwaltungspraktikabilität das Anhörungsinteresse des Bürgers derart
überwiegen, daß es deswegen sachlich vertretbar ist, die Anhörung nicht
durchzuführen. Diese verfahrensrechtliche Ermessensentscheidung unterliegt
hinsichtlich der in den Tatbeständen des § 24 Abs. 2 SGB X enthaltenen unbestimmten
Rechtsbegriffen der vollen gerichtlichen Nachprüfung (BSG SozR 3-13.00 § 24 Nr. 4).
Ein Fall des § 24 Abs. 2 SGB X liegt hier nicht vor. Insbesondere sind die
Voraussetzungen der Nr. 5 der Vorschrift nicht gegeben. Denn es geht nicht lediglich um
eine Anpassung einkommensabhängiger Leistungen an geänderte Verhältnisse, wie
z.B. bei den jährlichen Rentenanpassungsmitteilungen, sondern um einen belastenden
Verwaltungsakt, der eine bindend bewilligte Rente mit Wirkung für die Vergangenheit
gekürzt hat und damit einen Eingriff in eine Rechtsposition der Klägerin darstellt (vgl.
hierzu Schroeder-Printzen/von Wulffen, SGB X, 3. Aufl., Rdn. 3 zu § 24). Die mangelnde
Anhörung ist auch im Laufe des Widerspruchsverfahrens nicht wirksam nachgeholt
worden, weil der Klägerin die entscheidungserheblichen Tatsachen, insbesondere zu
den Ermächtigungsgrundlagen für die Aufhebung des bindend gewordenen
Rentenbewilligungsbescheides vom 21.07.1995, nicht bekanntgegeben worden sind
und sie sich dementsprechend hierzu auch nicht sachgerecht äußern konnte.
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Somit führt auch das Fehlen der erforderlichen Ermessensentscheidung und der
notwendigen Anhörung der Klägerin im Verwaltungsverfahren zur Rechtswidrigkeit der
angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung. Die Berufung der
Beklagten konnte demnach keinen Erfolg haben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
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Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.
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