Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 18.09.2000

LSG NRW: anspruch auf bewilligung, diabetes mellitus, arbeitsmarkt, werkstatt, geistige behinderung, erwerbsunfähigkeit, wartezeit, rente, erwerbsfähigkeit, montage

Landessozialgericht NRW, L 3 RJ 26/99
Datum:
18.09.2000
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 3 RJ 26/99
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 7 RJ 123/95
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 15.12.1998 geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Bewilligung einer Rente
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat.
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Bei der am ...1938 geborenen Klägerin wurde auf ihren erstmaligen Antrag vom
15.06.1981 eine Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von 100 sowie
den Merkzeichen "G", "H" und "RF" wegen einer geistigen Behinderung und eines
Diabetes mellitus anerkannt. Dem lag ein Bericht von Dr. S ... vom 17.07.1981
zugrunde, die bei der Klägerin eine geistige Behinderung bei frühkindlicher
Hirnschädigung beschrieb.
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Die Klägerin schloss die Volksschule im Jahre 1954 ab und besuchte im Anschluss
eine hauswirtschaftliche Berufsschule. Sie begann eine Ausbildung zur Kindergärtnerin,
die sie je doch nach einem halben Jahr abbrach. Wegen psychischer und körperlicher
Störungen lebte die Klägerin vom 05.01.1956 bis 06.02.1956 und seit dem 05.04.1957
zunächst in der R ... Landesklinik für Jugendpsychiatrie und nach einer Verlegung
wegen Unruhe- und Erregungszuständen depressiver Färbung mit Suizidabsichten seit
dem 18.06.1957 in der R ... Landesheilanstalt B ... Seit der im Jahre 1980 erfolgten
Aufnahme der Klägerin in das Heilpädagogische Heim B ..., wo sie seit 1981 auf einer
offenen Frauengruppe der Abteilung Rehabilitation lebt, ist der Werdegang der Klägerin
in den Entwicklungsberichten und -protokollen des Heilpädagogischen Heims vom
14.01.1986, 16.05.1988, Februar 1991 und vom 11.09.1992 dokumentiert. Seit dem
01.07.1982 erfolgte die Eingliederung der Klägerin in die B ... Werkstätten der
Lebenshilfe B ... im Wege eines von der Arbeitsverwaltung durchgeführten
Arbeitstrainings in der Zeit vom 01.07.1982 bis zum 30.06.1984. Seit dem 01.07.1984
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war die Klägerin im Produktionsbereich Verpackung/Montage eingesetzt. Auf die
Berichte der B ... Werkstätten über den Verlauf des Arbeitstrainings der Klägerin vom
31.08.1982, 30.05.1983 und 08.03.1984 sowie den Inhalt der Beurteilungsbögen zur
Entgeltdefinition vom 06.09.1983, 05.07.1984, 15.11.1985 und 24.09.1998 wird Bezug
genommen. Nachdem sich der Gesamtzustand der Klägerin mit Beginn des Jahres
1994 wegen einer akuten psychischen Dekompensation verschlechtert hatte, und sie in
den Zeiten vom 26.01.1994 bis 09.03.1994 und 02.09.1994 bis 20.09.1994 in der
Abteilung für Gerontopsychiatrie der R ... Landesklinik B ... behandelt werden musste
(Berichte vom 14.04.1994 und 10.11.1994), wurde ihre Tätigkeit in den B ... Werkstätten
in beiderseitigem Einvernehmen zum 30.11.1994 beendet. Die Klägerin entrichtete auf
der Grundlage der Einbeziehung ihrer Werkstatttätigkeit in die Sozialversicherung in der
Zeit vom 01.07.1982 bis 30.11.1994 Pflichtbeiträge.
Sie beantragte am 07.12.1994 die Bewilligung einer Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit. Der von der Beklagten beauftragte Arbeitsmediziner Dr. K ... führte in
seinem Gutachten vom 06.02.1995 aus, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne die
Klägerin seit dem 07.12.1994 dauernd nur noch weniger als zwei Stunden arbeiten.
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Mit Bescheid vom 15.03.1995 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Sie führte aus,
da die Klägerin seit dem Eintritt in das Erwerbsleben erwerbsunfähig gewesen sei, habe
sie die für eine Rentenbewilligung wegen Erwerbsunfähigkeit erforderliche Wartezeit
von 240 Kalendermonaten nicht zurückgelegt. Bezogen auf den Zeitpunkt der
Antragstellung fehlten 91 Monate. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend,
sie habe in der Werkstatt gut und gerne gearbeitet. Erst seit Anfang des Jahres 1994
habe sie nicht mehr in der Werkstatt tätig sein können. Ihr sei nicht verständlich, warum
sie die allgemeine Wartezeit von 60 Monaten für eine Rentenbewilligung nicht erfülle.
Mit Widerspruchsbescheid vom 01.08.1995 wies die Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück. Der Ärztliche Beratungsdienst habe festgestellt, dass die Klägerin
während der Zeit der in der Behindertenwerkstatt verrichteten Tätigkeit nicht auch unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes habe tätig werden können.
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Mit ihrer am 21.08.1995 bei dem Sozialgericht (SG) Köln erhobenen Klage hat die
Klägerin geltend gemacht, bei den von ihr verrichteten Verpackungs- und
Montagetätigkeiten handele es sich um typische Arbeitsbereiche jeder Warenindustrie,
die sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in vielfacher Form finden ließen. Unter
Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat sie weiter
ausgeführt, die Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte und die Annahme von
Erwerbsunfähigkeit seien miteinander vereinbar.
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In ihrem auf Anforderung des SG erstellten Befundbericht vom 15.12.1995 hat Dr. S ...
ausgeführt, sie behandele die Klägerin seit über 15 Jahren wegen einer Pfropfpsychose
bei geistiger Behinderung mittleren Grades und Diabetes mellitus. Die Klägerin sei
krankheitsuneinsichtig und sowohl in ihren psychischen wie körperlichen
Einschränkungen nur sehr schwer zu führen, so dass es immer wieder zu diabetischen
Entgleisungen und Harnwegsinfekten mangels Hygiene komme. Weiter forderte das SG
einen Bericht von der Neurologin und Psychiaterin Dr. H ... vom 21.12.1995 an, auf des
sen Inhalt verwiesen wird.
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Die B ... Werkstätten teilten mit Schreiben vom 19.12.1995 und 23.08.1996 mit, die
Klägerin habe innerhalb der Werkstatt im Produktionsbereich Verpackung gearbeitet.
Nach Anleitung bzw. ihr entsprechender Einarbeitung sei sie in der Lage gewesen, die
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ihr aufgetragenen produktiven Arbeiten im Bereich der industriellen Lohnfertigung (z. B.
Verpackungs-, Montage- und Sortierarbeiten) unter gelegentlicher Kontrolle selbständig
durchzuführen.
Der vom SG beauftragte Neurologe und Psychiater H ... ist unter Berücksichtigung der
während des Aufenthaltes der Klägerin in dem Heilpädagogischen Heim B ... erstellten
Berichte zu der zusammenfassenden Beurteilung gelangt, bei der Klägerin bestehe ein
überwiegend bisher hirnorganisch gedeutetes Defizit im emotionalen-, im Antriebs- und
Kontaktbereich sowie im Bereich der Steuerung von Impulsen und der
Frustrationstoleranz mit zeitweiligen akuten Auffälligkeiten. Im Längsschnitt habe die
Klägerin zumindest im heimbetreuerischen Bereich ständig der Kontrolle, des
Zuspruchs und der Zulieferung bei den das tägliche Leben regelnden Angelegenheiten
bedurft. Obwohl die Äußerungen der B ... Werkstätten zur Qualität der arbeitsmäßigen
Belastung der Klägerin nichts hergäben, könne auf der Grundlage der
Entwicklungsberichte und der dokumentierten Erkrankungen angenommen werden,
dass die Klägerin in der Zeit ab dem 01.07.1982 nicht zu Erwerbstätigkeiten in der Lage
gewesen sei, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von nicht behinderten
Erwerbstätigen wahrgenommen würden.
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In dem Erörterungstermin vom 10.09.1998 hat das SG die Sozialarbeiterin in den B ...
Werkstätten, Frau S ..., als Zeugin gehört. Wegen des Inhalts ihrer Aussage wird auf die
Anlage 1 zur Sitzungsniederschrift des Termins verwiesen.
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Mit Urteil vom 15.12.1998 hat das SG die Beklagte antragsgemäß zur Bewilligung einer
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verurteilt und sich dabei maßgeblich auf die
Zeugenaussage der Frau S ... gestützt. Diese habe anschaulich die Aufgabenbereiche
der B ... Werkstätten beschrieben sowie klar und nachvollziehbar herausgestellt, dass
die Klägerin bis zum Zeitpunkt ihrer Erkrankung im Jahre 1994 in der Lage gewesen sei,
im Bereich der Verpackungs-, Montage- und Sortierarbeiten wirtschaftlich verwertbare
Produktionsergebnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes zu erzielen. Die Zeugin, die
selbst als Studentin im Montagebereich der Firma G ... gearbeitet habe, habe ihre
damalige Beschäftigung mit der Tätigkeit der Klägerin bei den B ... Werkstätten
verglichen und herausgestellt, dass die Klägerin gleichwertige Arbeiten verrichtet habe.
Die Klägerin sei sehr pünktlich, sehr zuverlässig und selbständig gewesen. Sie habe
nahezu fehlerfrei gearbeitet und sei bei ihrer Arbeit konzentriert gewesen.
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Gegen das ihr am 13.01.1999 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27.01.1999
Berufung eingelegt. Sie trägt vor, die Fallgestaltung, dass ein in einer Werkstatt für
Behinderte Beschäftigter auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein könne, dürfe
äußerst selten auftreten. Bei seiner Entscheidung habe das SG die medizinischen
Unterlagen und insbesondere das Gutachten des Neurologen und Psychiaters H ... nicht
ausreichend berücksichtigt. Da die Zeugenaussage der Sozialarbeiterin, Frau S ...,
hierzu im krassen Widerspruch stehe, habe sich das SG zumindest zu weiteren
Ermittlungen veranlasst sehen müssen. Die Beklagte hat sich auf ärztliche
Stellungnahmen der Neurologin Dr. M ... vom 03.05.2000 und 20.06.2000 bezogen, auf
deren Inhalt verwiesen wird.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 15.12.1998 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin ist in der mündlichen Verhandlung vom 18.09.2000 weder erschienen noch
vertreten gewesen. Ihrem schriftsätzlichen Vorbringen ist zu entnehmen, dass sie
beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Ausführungen des in erster
Instanz gehörten Sachverständigen H ... seien unergiebig, da er lediglich Vermutungen
hinsichtlich der Frage einer bereits seit 1982 bestehenden Erwerbsunfähigkeit der
Klägerin aufgestellt habe. Im übrigen habe er die Entwicklungsmöglichkeiten und
Fähigkeiten der Klägerin, deren Pflegschaft im Jahre 1987 aufgehoben worden sei,
nicht thematisiert und bewertet. Im Hinblick auf die Regelung des Art. 3 Abs. 2 des
Grundgesetzes (GG) erscheine es als verfassungswidrig, dass in einer Werkstatt für
Behinderte versicherungspflichtig beschäftigte Behinderte nach einer Wartezeit von fünf
Jahren im Regelfall keine Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit erhielten.
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Der Senat hat weitere Ermittlungen bei den B ... Werkstätten durchgeführt sowie einen
Befundbericht von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H ... vom 15.05.2000
beigezogen, auf dessen Inhalt verwiesen wird. In dem Erörterungstermin vom
25.07.2000 ist der Werkstattleiter der B ... Werkstätten, Herr N ..., als Zeuge vernommen
worden. Wegen des Inhalts seiner Aussage wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug
genommen.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten, der Rentenakte sowie der Schwerbehindertenakte der Klägerin beim
Versorgungsamt K ... Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte die Streitsache in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und
entscheiden, da sie mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110
Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; § 126 SGG).
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Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts vom
15.12.1998 ist zu ändern und die Klage abzuweisen, da die Klägerin keinen Anspruch
auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat.
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Nach § 44 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) ist Rente zu
bewilligen, wenn die Versicherte erwerbsunfähig ist, die besonderen
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen und die Wartezeit erfüllt ist. Die
besondere Wartezeitregelung des § 44 Abs. 3 SGB VI i. V. m. § 50 Abs. 3 SGB VI findet
mangels einer ausreichenden Zahl von Kalendermonaten mit Beitragszeiten keine
Anwendung. Im Falle der Klägerin genügt die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren
nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI i. V. m. § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht, da sie
bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit während ihrer Tätigkeit in den B ...
Werkstätten erwerbsunfähig war.
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Die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin ergibt sich allerdings nicht bereits aus der
Tatsache, dass sie in einer Werkstatt für Behinderte tätig war. Die von den Behinderten
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in einer Werkstatt verrichtete Tätigkeit ist vielmehr nach Art, beruflichen
Voraussetzungen und regelmäßig erreichten Sachertrag mit den durchschnittlichen
Arbeitsergebnissen einer typgleichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu
vergleichen und daraufhin abzuschätzen, ob die Fähigkeiten der Behinderten
ausreichen würden, einen Arbeitsplatz der typgleichen Tätigkeit im Umfang des § 44
Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI - "gewisse Regelmäßigkeit" oder "Arbeitsentgelt oder
Arbeitseinkommen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt" -
auszufüllen (wirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt). Bei
dieser Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ist die in der Werkstatt von der Behinderten
konkret verrichtete Tätigkeit zwingend zu berücksichtigen und zu beachten, dass die
Tatsache der Ausübung einer konkreten Tätigkeit in der Regel einen stärkeren
Beweiswert hat als scheinbar dies ausschließende medizinische Befunde (BSG SozR
3-2600 § 44 Nr. 6 SGB VI; BSG Urteil vom 23.02.2000 - B 5 RJ 8/99 R -).
Zwar ist eine Werkstatt für Behinderte nach § 54 des Schwerbehindertengesetzes
(SchwbG) eine Einrichtung, welche denjenigen Behinderten, die wegen Art oder
Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt tätig sein können, einen Arbeitsplatz oder Gelegenheit zur Ausübung einer
geeigneten Tätigkeit bieten soll. Unter Berücksichtigung der Vielfalt der Arten und Grade
von Behinderungen sollen jedoch die Arbeits- und Beschäftigungsplätze in ihrer
Ausstattung soweit wie möglich denjenigen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
entsprechen (§ 5 Abs. 2 Werkstättenverordnung SchwbG), so dass eine
Verschiedenartigkeit der Tätigkeiten von Behinderten in den einzelnen
Aufgabensparten der Werkstatt für Behinderte gegeben ist. In einigen Arbeitsbereichen
einer Werkstatt für Behinderte kann es daher vorkommen, dass sich die durchgeführten
Arbeiten in ihren charakteristischen Merkmalen mit einem Tätigkeitstyp decken, der auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzutreffen ist (BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr. 1).
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Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Die auf der Grundlage der
Zeugenvernehmung der Sozialarbeiterin Frau S ... getroffene gegenteilige Feststellung
des Sozialgerichts lässt sich nach dem Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme im
Berufungsverfahren nicht mehr aufrecht erhalten. Die Auswertung der regelmäßig
erstellten Beobachtungs- und Beurteilungsbögen und die Zeugenaussage des
Werkstattleiters N ... hat ergeben, dass die von der Klägerin im Arbeitsbereich
Verpackung/Montage durchgeführten Tätigkeiten in Teilschritte des auf dem
vergleichbaren allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Gesamtvorganges aufgeteilt werden.
Die Arbeiten waren daher nach den äußeren Umständen ihrer Durchführung nicht mit
einem auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzutreffenden Tätigkeitstyp gleichzustellen.
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Es ist auch davon auszugehen, dass diese von den B ... Werkstätten im Arbeitsbereich
der Klägerin vorgenommene Aufteilung der konkreten Arbeitsvorgänge notwendig war,
da es sich um einen dem Leistungsvermögen der Klägerin entsprechenden
durchschnittlich schwierigen Arbeitsplatz im Werkstattbereich handelte. Zwar sind die
Angaben der Zeugin S ... zur Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der Klägerin im
wesentlichen durch den Zeugen N ... und den Inhalt der beigezogenen Beobachtungs-
und Bewertungsbögen bestätigt worden. Im Bereich der Selbständigkeit hielten die
betreuenden Mitarbeiter der B ... Werkstätten die Klägerin ausweislich der
Beurteilungsbögen vom 05.07.1984, 15.11.1985 und 24.09.1988 jedoch nur für fähig,
andere gleichartige Aufgaben zu erledigen. Sie sahen sich nicht imstande, der Klägerin
eine Selbständigkeit bzw. vollkommene Selbständigkeit zu bestätigen, mit welcher die
Beherrschung anderer bzw. verschieden schwieriger Aufgaben verbunden wäre. Zudem
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wurde die Arbeitsleistung der Klägerin in dem als durch schnittlich schwierig
angesehenen Arbeitsbereich durchgehend nur als "langsam" bewertet.
Zusammenfassend äußert der Zeuge N ... die Einschätzung, bei einem Vergleich mit
anderen Mitarbeitern der B ... Werkstätten habe die Klägerin ohne große Veränderungen
in ihrer Arbeitsleistung durchgängig durchschnittliche Leistungen (Tendenz etwas
besser) erbracht. Der Zeuge N ... betreute die Klägerin seit 1983 regelmäßig am
Arbeitsplatz und war daher zu einer differenzierten Einschätzung ihrer Arbeitsleistung in
der Lage. Im Gegensatz zu der Zeugin S ..., die als Sozialarbeiterin nur bei Konflikten im
Arbeitsbereich und den monatlichen Besprechungen über die Qualität der
arbeitsmäßigen Belastung der Klägerin Kenntnis erlangen konnte, beruht seine
Aussage auf einer fundierten Grundlage. Die Aussage des Zeugen N ... wird durch den
Inhalt des nach Abschluss des Einarbeitungstraining er stellten Beobachtungsbogens
vom 08.03.1984 bestätigt. Dieser enthält die Angabe, dass die Klägerin gut in einer
Werkstatt für Behinderte einsetzbar sei. Eine Vermittlung auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt sei hingegen unter keinen Umständen möglich.
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Schließlich werden die Feststellungen zur Arbeitsleistung der Klägerin während ihrer
Werkstattbeschäftigung auch durch das Gutachten des in erster Instanz gehörten
Sachverständigen H ... bestärkt. Er hat nicht nur Vermutungen geäußert, sondern seine
Aussagen nach Auswertung der umfangreichen Entwicklungsberichte des
Heilpädagogischen Heims B ... getroffen. Er hat auf Defizite im Verhaltensbereich der
Klägerin hingewiesen, die sich auch am Arbeitsplatz bei der geforderten Selbständigkeit
und der Zusammenarbeit mit anderen Werkstattbeschäftigten auswirkt. Seine
Feststellung, dass die Erkrankung der Klägerin einer Tätigkeit auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt entgegenstehe, wird durch die Angaben von Dr. S ... bestätigt, welche eine
zeitweise begrenzte Steuerbarkeit der Klägerin beschrieb.
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Entgegen der Auffassung der Klägerin verstößt § 44 SGB VI in dem dargelegten
Verständnis nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wonach "niemand wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden" darf. Die Vorschrift will verhindern, dass der
Einzelne durch die Einordnung in eine durch Diskriminierung gefährdete Gruppe
stigmatisiert und benachteiligt wird. Durch die Regelung des § 44 Abs. 3 SGB VI wird
indessen eine solche Diskriminierung nicht herbeigeführt oder gefördert. Behinderten
wird mit dieser Vorschrift in Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz die Möglichkeit
eröffnet, trotz Vorliegens von Erwerbsunfähigkeit den Zugang zu einer Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit zu erlangen. Im übrigen spiegelt die Rentenversicherung
eine vom Gesetzgeber nicht herbeigeführte, sondern vorgefundene Ungleichheit, die er
als solche akzeptieren muß, will er nicht gerade damit gegen den Gleichheitsgrundsatz
verstoßen, dass er Ungleiches gleich behandelt (BSG SozR 3-2600 § 44 Nr. 6 SGB VI;
BSG, Urteil vom 23.02.2000 B 5 RJ 8/99 R -).
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Nach allem konnte die Klage keinen Erfolg haben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil hierzu eine Veranlassung gemäß §
160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht gegeben war.
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