Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 22.09.2009

LSG NRW: vorläufiger rechtsschutz, entlastung, pflege, erlass, preisvergleich, gesetzgebung, drucksache, sozialhilfe, nierentransplantation, zustand

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss vom 22.09.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Duisburg S 36 AS 69/09 ER
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 7 B 208/09 AS ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 20.05.2009 geändert. Die
Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 04.03.2009 bis zum 30.06.2009 Leistungen
für Mehrbedarfe für Alleinerziehende nach § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II vorläufig nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden
Instanzen.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen
Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger
Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei
Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die
durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur
summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im
Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten
Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237 = NVwZ
2005, Seite 927).
Die Voraussetzungen für den Erlass einer Regelungsanordnung, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 04.03.2009
bis zum 30.06.2009 einen Mehrbedarf für Alleinerziehende zu gewähren, liegen vor.
Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach § 21 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zweites
Buch (SGB II) ist ein Mehrbedarf in Höhe von 36 % der nach § 20 Abs. 2 maßgeblichen Regelleistung anzuerkennen
für Personen, die mit zwei oder drei Kindern unter sechzehn Jahren zusammen leben und allein für deren Pflege und
Erziehung sorgen. Die Regelung des § 21 Abs. 3 SGB II "entspricht der Mehrbedarfsregelung der Sozialhilfe für
alleinerziehende Personen, die mit einem oder mehreren jungen Kindern zusammenleben" (BT-Drucksache 15/1516 S.
57).
Diese Mehrbedarfsregelung der Sozialhilfe war in § 23 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt. Diese
Regelung hatte folgenden Wortlaut: "Für Personen, die mit einem Kind unter sieben Jahren oder die mit zwei oder drei
Kindern unter sechzehn Jahren zusammenleben und allein für deren Pflege und Erziehung sorgen, ist ein Mehrbedarf
von 40 v.H. des maßgebenden Regelsatzes anzuerkennen, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf
besteht; ( ...)". In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu (BT-Drucksache 10/3079 S. 5): "Die Rechtfertigung dieses
Mehrbedarfzuschlags ergibt sich vor allem dadurch, dass Alleinerziehende wegen der Sorge für ihre Kinder weniger
Zeit haben, preisbewusst einzukaufen und zugleich höhere Aufwendungen zur Kontaktpflege und zur Unterrichtung in
Erziehungsfragen tragen müssen. Ähnlich ist die Situation bei Alleinerziehenden mit nur einem Kind, solange es noch
nicht schulpflichtig ist. Auch sie sind weniger mobil, haben keine ausreichende Zeit zum Preisvergleich, müssen die
nächstgelegene Einkaufsmöglichkeit nutzen und haben ein höheres Informations- und Kontaktbedürfnis." Die
Gesetzgebung stellt damit auch bei § 21 Abs. 3 SGB II erkennbar darauf ab, dass bei einem Alleinerziehenden
Einschränkungen in der Lebensführung bestehen, die dauernd bestehen und zum Teil mehr Kosten verursachen (vgl.
Oberverwaltungsgericht [OVG] Niedersachsen, Beschluss vom 08.07.1997, 4 L 3222/97, FEVS 48, 24). Die
Gesetzgebung hat bei Alleinerziehenden deshalb typisierend vermutet, dass bei ihnen derartige Mehrkosten
entstehen, die über die Leistung für den Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 3 SGB II ausgeglichen werden sollen.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat hierzu unter Berücksichtigung des Zwecks des Mehrbedarfs bei einem
wöchentlichen Wechsel des Aufenthalts des Kindes bei geschiedenen und getrennt lebenden Partnern darauf
abgestellt, ob der hilfebedürftige Elternteil entweder während der Betreuungszeit von dem anderen Elternteil oder
Partner in einem Umfang unterstützt wird, der es rechtfertigt, von einer nachhaltigen Entlastung auszugehen oder ob
eine derartige Entlastung innerhalb des Zeitraumes, den das Kind sich bei dem anderen Elternteil aufhält, eintritt
(BSG, Urteil vom 03.03.2009 - B 4 AS 50/07 R Rn. 19 zitiert nach Juris).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Denn
nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung lebt die Antragstellerin mit
minderjährigen Kindern zusammen und sorgt allein für deren Pflege und Erziehung. Von einer nachhaltigen Entlastung
bei der Betreuung der 2001, 2004 und 2007 geborenen Kinder seitens des Lebensgefährten kann nicht ausgegangen
werden. Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse, der eidesstattlichen Versicherungen der
Antragstellerin und des Lebensgefährten BE und dessen schwerwiegender Erkrankung kann eine erhebliche
Entlastung nicht bejaht werden bei der Betreuung der Kinder. Der Lebensgefährte der Antragstellerin ist gesundheitlich
erheblich eingeschränkt, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass bei ihm ein Grad der Behinderung von 80
anerkannt ist. Der behandelnde Hausarzt Dr. M kommt zu der Einschätzung, dass der Lebensgefährte der
Antragstellerin weder in der Lage ist, sich selbst zu versorgen noch die Betreuung der Kinder zu übernehmen.
Hintergrund ist ein Zustand nach Nierentransplantation 2008 mit Niereninsuiffizienz, Instabilität des Skelettsystems
bei Knochenerkrankung, schwerer Gewichtsverlust, Blutbildungsstörung und Müdigkeitssyndrom. Nach dem
Gutachten der Dr. K für den MDK Nordrhein liegt ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 13 Minuten und ein
hauswirtschaftlicher Pflegebedarf in Höhe von 45 Minuten täglich vor wegen Zustand nach Nierentransplantation
09/2000 mit Verschlechterung des Allgemeinzustandes 2008 mit terminaler Niereninsuiffizienz bei obstruktiver
Nephropathie der Transplantatniere. Die Feststellungen im Gutachten der Dr. K, die einen Pflegeaufwand des
Lebensgefährten im oben dargestellten Umfang beschreiben und die Zuerkennung einer Pflegestufe verneinen, lassen
jedoch nicht (automatisch) darauf schließen, dass der Lebensgefährte in der Lage ist, die Antragstellerin derart
nachhaltig bei der Betreuung zu entlasten, dass der Zweck des Mehrbedarfs für Alleinerziehende nicht mehr greift. Die
vom SG beschriebenen leichten Betreuungsaufgaben mögen zwar eine gewisse Entlastung bringen. Vorliegend ist
jedoch für drei Kinder die Betreuung sicherzustellen, damit ausreichende Zeit zum Preisvergleich besteht und
geringere Aufwendungen zur Kontaktpflege anfallen. Eine Unterstützung während der Betreuungszeit in einem
Umfang, der es rechtfertigt, von einer nachhaltligen Entlastung auszugehen, liegt nach wertender Betrachtung unter
Berücksichtigung der gebotenen summarischen Prüfung nicht vor. Die weitergehende Ermittlungen bleiben dem
Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Denn die sich in der Privatinsolvenz
befindliche Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass ohne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes schwere
und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen würden, die durch das Hauptsacheverfahren nicht
mehr zu beseitigen wären. Zum einen sind ggf. im Hauptsacheverfahren medizinische und damit zeitaufwendige
Beweiserhebungen durchzuführen. Zum anderen handelt es sich um einen Mehrbedarf für drei zu betreuende Kinder.
Die Antragsgegnerin wurde entsprechend dem von der Antragstellerin beschränkten Antrag auf den Zeitraum vom
04.03.2009 bis zum 30.06.2009 begrenzt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).