Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.10.2010

LSG NRW: digitale fotografie, wiederholung, versicherungspflicht, anfechtung, erfüllung, aktiven, beschränkung, reisekosten, arbeitslosigkeit, regisseur

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil vom 27.10.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Köln S 7 R 181/07
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 8 R 20/10
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 10.11.2009 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der 1957 geborene Kläger begehrt Überbrückungsgeld für die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit.
Der Kläger war vom 1.8.1990 bis zum 8.11.2003 als selbstständiger Kameramann und Steadicam-Operator in der
Künstlersozialversicherung versicherungspflichtig. In Ausübung dieser Tätigkeit erlitt er am 1.6.2001 und 17.6.2002
Unfälle. Für den ersten Unfall erhielt er von der Beigeladenen eine Rente wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
von 20 v.H. bis zum 5.4.2004 (Bescheid der Beigeladenen v. 5.8.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v.
21.7.2005). Aufgrund des zweiten Unfalls erhielt er bis zum 16.9.2002 Verletztengeld, nicht jedoch darüber hinaus
(Bescheid der Beigeladenen v. 13.7.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 17.11.2005, rechtskräftig
bestätigt durch Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen v. 12.12.2007, L 17 U 233/06). Der Antrag des Klägers auf
Arbeitslosengeld wurde vom Arbeitsamt Bonn bestandskräftig abgelehnt, weil der Kläger innerhalb der Rahmenfrist
von drei Jahren vor dem 13.11.2003 nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden
hatte (Bescheid v. 1.12.2003).
Am 27.11.2003 beantragte der Kläger unter Vorlage eines Business Plan und einer sein Vorhaben positiv bewertenden
fachkundigen Stellungnahme der IHK C bei der Beklagten Überbrückungsgeld für die Gründung des Unternehmens
"Digitale Fotografie". Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die in § 57 Drittes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB III) geregelten Voraussetzungen für die Zahlung von Überbrückungsgeld seien nicht erfüllt.
Der Kläger habe in engem zeitlichen Zusammenhang weder Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III bezogen noch
einen Anspruch hierauf gehabt (Bescheid v. 12.1.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 22.3.2004).
Die dagegen erhobene Klage, mit der der Kläger vorgetragen hat, die Voraussetzungen des § 57 SGB III müssten
nicht erfüllt sein, wenn Überbrückungsgeld gemäß § 33 Abs. 3 Nr. 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) als
Teilhabeleistung gewährt werde, hatte vor dem Sozialgericht (SG) Köln keinen Erfolg (Urteil v. 6.6.2005, S 25 RA
117/04). Das SG sah § 33 Abs. 3 Nr. 5 SGB IX im Gegensatz zum Kläger nicht als Rechtsfolgen-, sondern als
Rechtsgrundverweisung auf § 57 SGB III an. Zur Erledigung des Berufungsverfahrens, an dem die Beigeladene des
vorliegenden Verfahrens als Beigeladene zu 2) beteiligt war, verpflichtete sich die Beklagte, den Antrag des Klägers
vom 27.11.2003 als Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben anzusehen und
entsprechend zu bescheiden (Vergleich vom 12.6.2007). Mit Schreiben vom 23.7.2007 beantragte der
Prozessbevollmächtigte des Klägers "anstelle des ursprünglich beantragten Überbrückungsgeldes die Gewährung von
Übergangsgeld als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben".
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Übergangsgeld ab (Bescheid v. 13.8.2007), da der Kläger die
Voraussetzungen der Zahlung von Übergangsgeld nicht erfülle. Mit dem am 30.8.2007 bei der Beklagten
eingegangenen Widerspruch führte der Kläger aus, er greife auf das ursprünglich beantragte Überbrückungsgeld
zurück und beantrage ausdrücklich, den Antrag als solchen auf Gewährung von Überbrückungsgeld anzusehen. Die
Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid v. 24.10.2007). Der Kläger könne weder Übergangs-
noch Überbrückungsgeld beanspruchen.
Mit der Klage hat der Kläger die Zahlung von Überbrückungsgeld ab dem 1.1.2004, dem Zeitpunkt der Aufnahme
seiner selbstständigen Tätigkeit als Fotograf, begehrt und in rechtlicher Hinsicht weiterhin die Auffassung vertreten,
bei § 33 Abs. 3 Nr. 5 SGB IX handele es sich um eine Rechtsfolgenverweisung auf § 57 SGB III.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.8.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
24.10.2007 zu verurteilen, ihm ab 1.1.2004 Überbrückungsgeld zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf ihren Widerspruchsbescheid bezogen.
Auf Anfrage des SG hat die KSK mitgeteilt, dass der Kläger sich am 4.3.2005 erneut bei ihr als Regisseur,
Filmemacher, Fotograf gemeldet und angegeben habe, diese Tätigkeit erstmals im März 2005 aufgenommen zu
haben. Mit Abhilfebescheid vom 16.9.2005 sei die Versicherungspflicht ab dem 4.3.2005 festgestellt worden.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil v. 10.11.2009). Es hat sich im Wesentlichen auf die Gründe seiner
Entscheidung vom 6.6.2005 bezogen.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen
Antrags weiter. Er beantragt,
1.das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 10.11.2009 und den Bescheid der Beklagten vom 13.8.2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2007 aufzuheben
2.die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1.1.2004 Überbrückungsgeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des SG für richtig.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Der Senat hat die Rehabilitationsakte der Beklagten, die Verwaltungsakten der Beigeladenen und die Verfahrensakte L
17 U 233/06 beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.
Nachdem der Kläger von seiner Möglichkeit, gemäß § 75 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) etwaige Ansprüche
gegen die Beigeladene zu erheben, keinen Gebrauch gemacht hat, ist im Berufungsverfahren ausschließlich über den
Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von Überbrückungsgeld zu entscheiden.
Die hierauf gerichtete Klage ist zulässig. Entgegen dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag
besteht allerdings kein Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich einer Aufhebung des Bescheides vom 13.8.2007. Denn mit
diesem Bescheid hat die Beklagte lediglich die Zahlung von Übergangsgeld abgelehnt, das der Kläger im
Klageverfahren nicht mehr begehrt. Die Gewährung von Überbrückungsgeld hat die Beklagte demgegenüber erst mit
dem Widerspruchsbescheid vom 24.10.2007 verweigert, nachdem der Kläger mit seinem am 30.8.2007 bei der
Beklagten eingegangenen Widerspruch erneut einen dahin gehenden Antrag gestellt hatte. Insofern enthält der
Widerspruchsbescheid gegenüber dem Ausgangsbescheid jedoch eine zusätzliche Beschwer, die seine isolierte
Anfechtung statthaft macht (Rechtsgedanke des § 79 Abs. 2 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung).
Die Klage ist unbegründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger für die Zeit ab dem 1.1.2004 kein
Überbrückungsgeld zusteht. Der Widerspruchsbescheid vom 24.10.2007 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger
nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Anspruchsgrundlage für die Zahlung von Überbrückungsgeld ist § 33 Abs. 3 Nr. 5 SGB IX in der bei Aufnahme der
selbstständigen Tätigkeit am 1.1.2004 und Antragstellung geltenden Fassung. Danach umfassten die Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben insbesondere das Überbrückungsgeld entsprechend § 57 SGB III. Nach § 57 Abs. 2 Nr. 1
SGB III in seinen ab dem 1.1.2004 maßgebenden Fassungen musste der Leistungsberechtigte in engem zeitlichen
Zusammenhang mit der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III bezogen
oder einen Anspruch hierauf gehabt haben. An dieser Voraussetzung fehlt es hier, weil der Kläger als seit dem
1.8.1990 selbstständig Tätiger Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III weder bezog noch beziehen konnte.
Zutreffend hat das SG entschieden, dass auf die Erfüllung der Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 1 SGB III nicht
deshalb verzichtet werden kann, weil der Kläger selbstständig ist und vor Aufnahme seiner (weiteren) selbstständigen
Tätigkeit am 1.1.2004 Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III weder bezog noch Anspruch darauf hatte. Dieses
Ergebnis entspricht nämlich gerade dem Wesen des Überbrückungsgeldes, das dem eindeutigen Wortlaut des § 57
Abs. 1 SGB III an "Arbeitnehmer" gezahlt wird, die ihre Arbeitslosigkeit durch "Aufnahme" einer selbständigen
Tätigkeit beenden wollen. Der Senat nimmt auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des SG Bezug und sieht
insoweit von einer eigenen Begründung ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Lediglich ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen: Mit Inkrafttreten des SGB IX hat der Gesetzgeber mehrere früher
im SGB III enthaltene Regelungen vollständig, d.h. auch hinsichtlich ihrer Anspruchsvoraussetzungen, übernommen,
so die Leistungen bei Teilnahme an Maßnahmen in Werkstätten für behinderte Menschen (§§ 39 ff. SGB IX, zuvor §
102 Abs. 2 SGB III), Reisekosten (§ 53 SGB IX, zuvor § 110 SGB III), Haushaltshilfe- und Kinderbetreuungskosten (§
44 Abs. 2 SGB IX, zuvor § 112 SGB III), Kranken- und Pflegeversicherung (§ 44 Abs. 2 SGB IX, zuvor § 113 SGB
III), sonstige Hilfen (§ 33 Abs. 8 SGB IX, zuvor § 114 SGB III), Regelungen zur Höhe und Dauer des
Übergangsgeldes (§§ 46 bis 51 SGB IX, zuvor §§ 160 Abs. 2, 163 bis 168 SGB III). Soweit er es demgegenüber
hinsichtlich des Überbrückungsgeldes bei einer Verweisung auf § 57 SGB III hat bewenden lassen, spricht dies
eindeutig dafür, dass die dort geregelten Anspruchsvoraussetzungen auch für den Anspruch aus § 33 Abs. 3 Nr. 5
SGB IX gelten sollten, zumal die Leistung sonst - worauf das SG zutreffend hingewiesen hat - für Selbstständige
praktisch voraussetzungslos gewährt werden müsste.
Daher ist es - insoweit entgegen den Überlegungen des SG im Urteil v. 6.6.2005 - nicht "unglücklich", dass der
Gesetzgeber das Überbrückungsgeld in § 33 SGB IX geregelt hat. Eine andere Regelungstechnik war ihm nicht
möglich gewesen, nachdem es seine ausdrückliche Zielsetzung war, diese Leistung auch von anderen
Rehabilitationsträgern erbringen zu lassen, aber eben unter den in § 57 SGB III genannten Voraussetzungen.
Zu Recht hat das SG schließlich einen Verstoß der Beschränkung des Überbrückungsgeldes auf den von § 57 SGB
III erfassten Personenkreis gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verneint. Zwischen diesem Personenkreis und
Versicherten wie dem Kläger, die als Selbstständige keinen Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III
hatten, bestehen nämlich so gewichtige Unterschiede, dass bereits keine wesentlich gleichen Sachverhalte vorliegen.
Als Leistung der aktiven Arbeitsmarktförderung soll § 57 SGB III die Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld (Alg)
vermeiden helfen (vgl. § 5 SGB III). Dieses Ziel kann nur bei solchen Versicherten erreicht werden, die andernfalls
einen Anspruch auf Alg hätten. Das ist bei Selbstständigen wie dem Kläger aber gerade nicht der Fall.
Dementsprechend geht auch die einhellige Literaturmeinung zu § 33 Abs. 3 Nr. 5 SGB IX ohne jede Diskussion davon
aus, dass bei dieser Anspruchsgrundlage auch die jeweiligen Voraussetzungen des § 57 SGB III erfüllt sein müssen
(ausdrücklich: Bieritz/Harder in HK-SGB IX, 3. Aufl. 2010, § 33 Rdnr. 26; Deusch in LPK-SGB IX, 3. Aufl. 2011, § 33
Rdnr. 33; i.E. ebenso Götze in Hauck/Noftz, SGB IX, Stand Dezember 2009, § 33 Rdnr. 26; Knittel, SGB IX, Stand
Oktober 2010, § 33 Rdnr. 86 ff.; Luik in jurisPK-SGB IX, § 33 Rdnr. 125; Pahlen in Neumann/Majerski/Pahlen, SGB
IX, 3. Aufl. 2010, § 33 Rdnr. 15).
Im Hinblick hierauf kann der Senat die mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung zusätzlich erörterte Frage
dahingestellt lassen, ob ein Anspruch des Klägers auf Überbrückungsgeld für die Zeit vom 1.1.2004 bis zum
29.8.2007 nicht bereits aufgrund des Vergleichs vom 12.6.2007 bzw. im Hinblick auf seinen Schriftsatz vom
23.7.2007 ausgeschlossen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht. Das hier zugrunde gelegte Normverständnis des § 33 Abs. 3 Nr. 5
SGB IX erschließt sich unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut. Es wird daher keine Rechtsfrage von grundsätzlicher
Bedeutung aufgeworfen.