Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.02.2009

LSG NRW: lebensmittel, zwangsarbeit, altersrente, arbeiter, gegenleistung, anerkennung, wartezeit, entschädigung, glaubhaftmachung, litauen

Landessozialgericht NRW, L 8 R 243/06
Datum:
17.02.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 8 R 243/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 41 (26) R 167/05
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 25.08.2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision
wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist der Anspruch auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von
Ghettobeitragszeiten von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna.
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Die am 00.00.1927 unter dem Geburtsnamen G in Wilna im damaligen Polen geborene
jüdische Klägerin hatte ursprünglich die polnische Staatsangehörigkeit, war dann
staatenlos und ist jetzt israelische Staatsangehörige. Ihre Einreise nach Israel erfolgte
am 10.12.1946. Sie ist anerkannte Verfolgte nach dem Bundesentschädigungsgesetz
(BEG) (Feststellungsbescheid C des Regierungsbezirksamtes für Wiedergutmachung
und verwaltete Vermögen Koblenz v. 28.03.1957).
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Im Entschädigungsantrag vom 22.03.1955 gab sie an, sie sei von September 1941 bis
September 1943 im Ghetto Wilna gewesen. Sodann erklärte sie zu ihrem
Verfolgungsschicksal am 31.03.1955: "Im September 1941 wurde ich zusammen mit
meinen Angehörigen in das Ghetto Wilna zwangsübergesiedelt. Wir wohnten dort in der
Spitalna. Mein Vater wurde mit zwei Schwestern anlässlich der großen Aktion im Jahre
1942 zur Zwangsarbeit nach Estland verschickt und im gleichen Jahr als
Arbeitsunfähiger zur Vernichtung nach Auschwitz abtransportiert. Ich selbst blieb
zusammen mit meiner Mutter und kleineren Geschwistern im Ghetto Wilna bis
September 1943 (Liquidation des Ghettos). Während meine Mutter mit den kleineren
Kindern einem Transport nach Treblinka zugeteilt wurde, bin ich in das KZ Kaiserwald
bei Riga abtransportiert worden."
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Den Aufenthalt der Klägerin im Ghetto Wilna bestätigten die Zeuginnen E L und E C.
Letztere erklärte überdies, sie und die Klägerin hätten bereits im Ghetto Wilna
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Zwangsarbeiten leisten müssen.
Am 07.11.2002 beantragte die Klägerin die Gewährung von Regelaltersrente unter
Hinweis auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem
Ghetto (ZRBG). Im Versicherungsverlauf des Formantrags gab sie an, sie habe von
September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna landwirtschaftliche Arbeiten
verrichtet und hierfür Lebensmittel für zu Hause bekommen. Im Fragebogen für die
Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG ergänzte
sie, die Arbeit habe außerhalb des Ghettos stattgefunden. Sie sei durch Vermittlung des
Judenrates zustande gekommen. Sie, die Klägerin, habe Gurken und Zwiebeln ernten
müssen. Sie habe Lebensmittel für nach Hause mitbekommen, jedoch keinen Barlohn
erhalten.
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Die Beklagte zog die Unterlagen der JCC - Art-2-Fonds- bei, in denen die Klägerin
lediglich den zeitlichen Umfang des Ghettoaufenthalts beschrieb und zudem erklärte,
sie sei mit ihrer Zwillingsschwester in das KZ Riga-Kaiserwald deportiert worden. Als
Geschwister gab sie weiter an: zwei ältere Schwestern (geb. 1919 und 1923) sowie
zwei ältere Brüder (geb. 1921 und 1922), außerdem die Zwillingsschwester B I.
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Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid v. 04.08.2004). Die Klägerin habe
keine entgeltliche Beschäftigung glaubhaft gemacht, da sie lediglich angegeben habe,
Lebensmittel erhalten zu haben.
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Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 21.03.2005 Klage erhoben. Zur
Begründung hat sie am 04.12.2005 eine freie Erklärung abgegeben, in der es heißt: "Im
Ghetto Wilna befand ich mich von September 1941 bis September 1943. Um zu
existieren und nicht deportiert zu sein, erfüllte ich verschiedene freiwillige Arbeiten. Im
Winter Reinigungsarbeiten, im Frühling und im Sommer landwirtschaftliche Arbeiten.
Für meine freiwillige Arbeit im Ghetto habe ich einen Lohn wie alle anderen jüdischen
Arbeiter im Ghetto erhalten. Es ist mir aber schwer, nach so langer Zeit genaue
Angaben zu machen. Ich kann nicht mehr genau sagen, ob ich Lebensmittel immer
direkt oder als Lebensmittelcoupons erhalten habe und ob zusätzlich etwas Bargeld
gezahlt wurde. Aber meine Arbeit und die dafür gezahlte Entlohnung sicherten damals
mein Überleben."
9
Die Klägerin hat beantragt,
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unter Aufhebung des Bescheides vom 04.08.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 15.03.2005 die Tätigkeiten von September 1941 bis
September 1943 als glaubhaft gemachte Beitragszeiten nach dem ZRBG anzuerkennen
und die Regelaltersrente ab 01.07.1997 unter Berücksichtigung der weiteren
Verfolgungszeit als Ersatzzeit zu zahlen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat den angefochtenen Bescheid verteidigt. Auch die Aufnahme der Beschäftigung
aus eigenem Willensentschluss sei nicht glaubhaft gemacht.
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Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil v. 25.08.2006). Die Kammer
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hat bereits daran gezweifelt, dass die Klägerin eine Beschäftigung ausgeübt hat, die aus
eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist. Nach dem Vorbringen der Klägerin
im Verwaltungs- und Klageverfahren sei zwar nicht auszuschließen, dass sie die im
Ghetto Wilna verrichteten Arbeiten nach entsprechenden eigenen Bemühungen
freiwillig aufgenommen habe. Aufgrund der zeitnahen Angaben der Klägerin und der
Zeugen im Entschädigungsverfahren sei es jedoch zumindest ebenso möglich, dass es
sich um Arbeiten gehandelt habe, die dem Typus der Zwangsarbeit entsprochen hätten.
So habe die Klägerin auch im Rahmen des Entschädigungsverfahrens angegeben, sie
habe Zwangsarbeit verrichtet. Dies sei von der Zeugin E C bestätigt worden. Es spreche
vieles dafür, dass die Verwendung des Begriffes "Zwang" im Zusammenhang mit der
Arbeit klar zum Ausdruck habe bringen sollen, dass sich die Beteiligten dem
Arbeitseinsatz gerade nicht entziehen konnten und gegen ihren Willen zur Arbeit
gezwungen worden seien. Dabei messe die Kammer den Darstellungen aus dem
Entschädigungsverfahren wegen ihrer zeitlichen Nähe zum Geschehen eine besondere
Bedeutung bei. Unabhängig davon sei nicht glaubhaft, dass die Klägerin entgeltlich im
Sinne des ZRBG gearbeitet habe. Die Angaben der Klägerin hierzu seien uneinheitlich.
So habe sie im Rentenverfahren zunächst angegeben, Lebensmittel für zu Hause
erhalten zu haben, während sie im Fragebogen der Beklagten erklärt habe, sie habe
Lebensmittel sowie eine Unterkunft erhalten. Im jetzigen Klageverfahren gebe sie durch
ihren Bevollmächtigten an, Sachbezüge (wöchentlich Lebensmittel für zu Hause,
Kleidung, bessere Unterkunft und Heizmaterial) erhalten zu haben. In ihrer Erklärung
vom 04.12.2005 führe sie hingegen aus, keine Erinnerung an die Entlohnung zu haben,
die Arbeit und die Entlohnung hätten aber ihr Überleben gesichert. Unter
Berücksichtigung dieser Entwicklung des Vortrags der Klägerin im Verlaufe des
Rentenverfahrens entstehe der Eindruck von voneinander abweichenden Erklärungen.
Daher sei die Gewährung angemessener Sachbezüge nicht glaubhaft gemacht.
Abgesehen davon lägen selbst dann, wenn die Angaben der Klägerin in der
Klagebegründung als richtig unterstellt würden, keine Anhaltspunkte vor, dass die von
ihr behaupteten Entgelte versicherungspflichtig gewesen seien. Soweit die erhaltene
Gegenleistung lediglich zur eigenen Verpflegung der Klägerin gedient habe, sei sie als
Gewährung freien Unterhalts einzuordnen und löse damit keine
Rentenversicherungspflicht aus. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den
Ausführungen des Gutachters Prof. Dr. Golczewski in seinem Gutachten vom
09.09.2005 bzw. aus dem Gutachten des Dr. Tauber zu den Ghettos in Litauen. Denn
das konkrete Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses aus eigenem
Willensentschluss und gegen Entgelt beurteile sich stets nach den Umständen des
Einzelfalles. Diese stünden jedoch im Falle der Klägerin - wie dargelegt - der
Glaubhaftmachung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entgegen.
Andere Rechtsgrundlagen für die Anerkennung von Beitragszeiten seien ebenfalls nicht
einschlägig.
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Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 01.09.2006 zugestellte Urteil hat die
Klägerin am 04.09.2006 Berufung erhoben. Einen Dokumentenbeweis habe sie über
die schrecklichste Zeit der deutschen Geschichte nicht retten können. Frühere Angaben
zu einem Antrag auf Entschädigungsleistungen seien zudem kaum aussagekräftig, da
dort - wenn überhaupt - Aussagen über eine Tätigkeit unter Zwang von Bedeutung
gewesen seien. Es liege daher nahe, dass Angaben über eine freiwillige Tätigkeit und
die Entlohnung stets fehlten. Die Anwendung des ZRBG sei historisch unter anderem
durch das Gutachten des Herrn Prof. Golczewski über die Region Ostland belegt.
Ebenso lägen Nachweise über die Entlohnung vor. Wissenschaftlich historische
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Erkenntnisse belegten überdies, dass jüdische Arbeiter im Generalgouvernement einen
Lohnanspruch nach Tarif gehabt hätten und (daher) sozialversicherungspflichtig
gewesen seien. Gleiches gelte für das Reichskommissariat Ostland.
Auf Nachfrage des Senates im Wege des Fragebogens trägt die Klägerin vor: Die
thematisierten Reinigungsarbeiten seien in der Kommandantur und in anderen
öffentlichen Gebäuden durchgeführt worden. Der Arbeitgeber sei der Judenrat gewesen.
Sie habe Staub gewischt und den Fußboden gewaschen usw. Für diese Tätigkeiten
habe sie zusätzliche Lebensmittel für zu Hause bekommen, das seien Kartoffeln,
Gemüse, Mehl, Kaffee, Zucker, Salz usw. gewesen. Im Ghetto sei sie mit den
Schwestern H, T, B und mit dem Bruder E gewesen. Alle hätten gearbeitet, einige
freiwillig, einige hätten Zwangsarbeiten erfüllt.
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Die Klägerin beantragt,
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unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom
25.08.2006 und unter Aufhebung des Bescheides vom 04.08.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 15.03.2005 ihr eine Versicherungsunterlage über die
Tätigkeit von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna nach dem ZRBG
herzustellen und die Regelaltersrente ab 01.07.1997 mit der Verfolgungszeit als
Ersatzzeit zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
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Auf Nachfrage des Senates hat die JCC mitgeteilt, dass die Klägerin neben der
Entschädigung aus dem Art-2-Fonds auch eine Entschädigung aus dem
Zwangsarbeiterfonds erhalten habe.
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Nach Auskunft des israelischen Versicherungsträgers hat die Klägerin dort 394
Beitragsmonate zurückgelegt.
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Außerdem ist die Zwillingsschwester der Klägerin, Frau B I, schriftlich befragt worden.
Diese hat angegeben, sie sei mit der Klägerin die gesamte Zeit zusammen gewesen.
Man habe Arbeiten im Gewächshaus sowie andere landwirtschaftliche Arbeiten
verrichtet. Man habe die Arbeit durch den Judenrat erhalten und sich an diesen aus
eigenem Antrieb gewandt. Als Entlohnung habe man Essen und auch Lebensmittel und
Gemüse für zu Hause bekommen. Damit hätten sie Mutter und Vater "und unsere
Schwester" unterstützen und so die für sie notwendigen Lebensmittel ergänzen können.
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Mit Schriftsatz vom 05.01.2009 hat die Klägerin die historischen Gutachten der
Sachverständigen Dr. Joachim Tauber vom 15.06.2008, erstellt für den Senat zum
Aktenzeichen L 8 R 343/06, und Dr. Sara Bender vom 10.08.2008, erstellt für den Senat
zum Aktenzeichen L 8 R 9/06, zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Niederschrift der
mündlichen Verhandlung, den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen
Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Entschädigungsakte der Klägerin Bezug
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genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind
Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in
Abwesenheit der Klägerin und ihres Bevollmächtigten verhandeln und entscheiden, weil
dieser in der Terminsmitteilung, die ihm am 23.01.2009 gegen Empfangsbekenntnis
zugestellt worden ist, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
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I. Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der angefochtene und im Ergebnis vom SG
bestätigte Bescheid der Beklagten ist nicht rechtswidrig und beschwert die Klägerin
daher nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Altersrente gegen die Beklagte.
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Wie der Senat bereits mit näherer Begründung entschieden hat (z. B. Urteil vom
06.06.2007 L 8 R 54/05, sozialgerichtsbarkeit.de), folgt der Anspruch auf Altersrente
allein aus dem SGB VI, ohne dass das ZRBG eine eigenständige Anspruchsgrundlage
darstellen würde (ebenso BSG, Urteil vom 26.07.2007, B 13 R 28/06 R, SozR 4-5075 §
1 Nr. 4, aA BSG Urteil vom 14.12.2006, B 4 R 29/06 R, SozR 4-5075 § 1 Nr. 3).
Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Altersrente kann daher im Fall der Klägerin nur §
35 SGB VI sein. Diese Vorschrift ist trotz des Auslandswohnsitzes der Klägerin (vgl. §
30 Abs. 1 1. Buch Sozialgesetzbuch) anwendbar (vgl. dazu BSG Urteil vom 14.07.1999,
B 13 RJ 75/98 R, Juris; BSG Urteil vom 13.08.2001, B 13 RJ 59/00 R, SozR 3-2200 § 48
Nr. 17).
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Nach § 35 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65.
Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren erfüllt haben. Als auf
die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeiten kommen hier nur Beitrags- und
Ersatzzeiten in Sachen der §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und 4 SGB VI in Betracht.
Dabei finden nach § 250 Abs. 1 SGB VI Ersatzzeiten allerdings nur dann
Berücksichtigung, wenn vor Beginn der Rente zumindest ein Beitrag wirksam entrichtet
worden ist oder als wirksam entrichtet gilt; denn Ersatzzeiten sollen nach dem
Gesetzeswortlaut nur "Versicherten", d. h. Personen zugute kommen, die bereits
Beitragsleistungen erbracht haben (BSG, Urteil vom 07.10.2004, B 13 RJ 59/03 R, SozR
4-5050 § 15 Nr. 1, mwN).
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Die Klägerin hat jedoch keine auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten
zurückgelegt. Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht oder den
Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden
sind (§§ 55 Abs. 1 Satz 1, 247 Abs. 3 Satz 1 SGB VI) oder als gezahlt gelten (§ 55 Abs.
1 Satz 2 SGB VI). Solche Beitragszeiten bestehen hier weder nach § 2 Abs. 1 ZRBG
(dazu unter 1.) noch nach den Vorschriften des Fremdrentenrechts (dazu unter 2.).
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1. Nach § 2 Abs. 1 ZRBG gelten Beiträge als gezahlt für Zeiten der Beschäftigung von
Verfolgten in einem Ghetto. Voraussetzung ist gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG, dass die
Verfolgten sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem vom
Deutschen Reich besetzten, oder im eingegliederten Gebiet gelegen hat und dort eine
Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt haben. Ferner
darf für die betreffenden Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der
sozialen Sicherheit erbracht werden. Die Anspruchsvoraussetzungen müssen glaubhaft
gemacht werden (§ 1 Abs. 2 ZRBG i. V. m. § 3 Gesetz zur Regelung der
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Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung
[WGSVG]). Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem
Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche verfügbare Beweismittel erstrecken
sollen, überwiegend wahrscheinlich ist, d. h. mehr für als gegen sie spricht, wobei
gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom
08.08.2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900, § 15 Nr. 4).
Die Anerkennung von Beitragszeiten scheitert für den geltend gemachten Zeitraum nicht
schon daran, dass die Klägerin für diese Zeiten eine Entschädigung nach dem Gesetz
zur Entrichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZStiftG)
erhalten hat. Wie der Senat bereits entschieden hat, erstrecken sich die in § 16 Abs. 1 S.
2 EVZStiftG geregelte Ausschlusswirkung und die Verzichtswirkung des § 16 Abs. 2 S.
2 EVZStiftG nicht auf den Anspruch auf Zahlung einer (ggf. höheren) Rente aufgrund
von Beitragszeiten nach § 2 Abs. 1 ZRBG (vgl. zuletzt Senat Urteil vom 18.06.2008, L 8
R 298/07, sozialgerichtsbarkeit.de, mit eingehender Begründung)
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Es ist zwar glaubhaft, dass die Klägerin sich in der Zeit von September 1941 bis
September 1943 zwangsweise im Ghetto Wilna, das in Litauen und damit einem vom
Deutschen Reich besetzten Gebiet lag, aufgehalten hat. Ihr dortiger Aufenthalt ist
überwiegend wahrscheinlich aufgrund ihrer eigenen durchgängigen Bekundung im
Entschädigungsverfahren, gegenüber der JCC und im Rentenverfahren, die durch die
Erklärungen der Zeuginnen L und C im Entschädigungsverfahren bestätigt worden sind.
Der Senat hat zudem keine Bedenken, das im fraglichen Zeitraum in Wilna ein Ghetto
bestanden hat. Zudem ist die Klägerin als Verfolgte im Sinne des BEG anerkannt.
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Keine durchgreifenden Zweifel hat der Senat auch an den behaupteten
Beschäftigungen der Klägerin. Es liegt nicht fern, dass sie im Winter Reinigungsdienste
für den Judenrat und im Sommer landwirtschaftliche Tätigkeiten ausgeübt hat, auch
wenn diese im Entschädigungsverfahren und auch gegenüber der JCC keine
Erwähnung gefunden haben. Schließlich kam es in den dortigen Verfahren nicht auf die
Verrichtung beruflicher Tätigkeiten an. Es fällt zwar daneben noch auf, dass die Klägerin
zunächst im Formantrag und auch im ZRBG-Fragebogen der Beklagten nur Tätigkeiten
in der Landwirtschaft beschrieben hat, sodann die Reinigungsarbeiten erstmals in ihrer
persönlichen Erklärung vom 04.12.2005 während des Klageverfahrens erwähnt hat.
Indessen kann dies auch dem Bemühen um genauere Erinnerung im Laufe des
Verfahrens zuzuschreiben sein.
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Letztlich kann die Frage einer Beschäftigung der Klägerin jedoch offen bleiben. Denn
jedenfalls ist nicht glaubhaft gemacht, dass sie die Beschäftigungen gegen Entgelt im
Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG ausgeübt hat.
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Der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG beschriebene Typus der Beschäftigung ist nach dem
Vorbild des sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses auch durch die
Entgeltlichkeit von der nicht von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG erfassten Zwangsarbeit
abzugrenzen. Danach ist neben der Aufnahme und Ausübung der Arbeit aus eigenem
Willensentschluss auch die Gewährung eines Entgelts erforderlich, das nach Art und
Höhe eine versicherungspflichtige Beschäftigung begründen kann (Senat, Urteil vom
21.11.2007, L 8 R 98/07; sozialgerichtsbarkeit.de). Maßgebend hierfür sind die Kriterien,
die das BSG in seiner sogenannten Ghetto-Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom
18.06.1997, 5 RJ 66/95, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15; vom 21.04.1999 B 5 RJ 48/98 R,
SozR 3-2200 § 1248 Nr. 16; vom 14.07.1999, B 13 RJ 75/98 R, aaO.) entwickelt hat (vgl.
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hierzu im einzelnen BSG Urteil vom 07.10.2004, aaO.; Senatsurteil vom 21.11.2007,
aaO.).
Wie der Senat bereits im Einzelnen dargelegt hat, ist als Entgelt in diesem Sinne ein die
Versicherungspflicht in der Deutschen Rentenversicherung begründendes Entgelt
anzusehen (vgl. zum Folgenden Urteile vom 12.12.2007, L 8 R 187/07 und vom
28.01.2008, L 8 RJ 139/04; jeweils a.a.O.). Danach lassen sich die im Zusammenhang
mit Streitigkeiten nach dem ZRBG auftretenden Fallgruppen zunächst wie folgt
systematisieren: Die Gewährung von Entgelt in der ortsüblichen Währung, von
Ghettogeld oder zum Tausch bestimmten Bezugsscheinen ist Entgelt in Sachen von § 1
Abs. 1 Nr. 1 b ZRBG, soweit ihr Umfang 1/6 bzw. 1/3 des ortsüblichen Arbeitsentgelts für
ungelernte Arbeiter(-innen) übersteigt. Bei der Gewährung von Sachbezügen ist
dagegen zu unterscheiden: Übersteigen die Sachbezüge (insbesondere Verpflegung,
Unterkunft und Kleidung) nicht das Maß freien Unterhalts, d.h. derjenigen
wirtschaftlichen Güter, die zur unmittelbaren Befriedigung der notwendigen
Lebensbedürfnisse des Einzelnen erforderlich sind, liegt kein Entgelt vor. Bei
Lebensmitteln kommt es darauf an, ob sie nach Art und Umfang des Bedarfs unmittelbar
zum Verbrauch oder Gebrauch gegeben werden. Wird das Maß des persönlichen
Bedarfs hingegen überschritten und werden die Lebensmittel zur freien Verfügung
gewährt, ist von Entgelt auszugehen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn
glaubhaft gemacht wird, dass gewährte Lebensmittel auch den Bedarf eines
Angehörigen sicherstellen. Stehen Art und Umfang gewährter Lebensmittel bzw.
Sachbezüge nach Ausschöpfung aller sonstigen Beweismittel, z.B. der glaubhaften
Angaben der Klägerin bzw. des Klägers, vernommener Zeugen, Angaben in einem
Sachverständigengutachten, oder aufgrund eindeutiger historischer Quellen nicht fest,
so kann ein entsprechender Umfang im Einzelnen als glaubhaft gemacht angesehen
werden, wenn die gute Möglichkeit besteht, dass ein Dritter, insbesondere ein
Familienangehöriger, hiervon über einen erheblichen Zeitraum zumindest entscheidend
mitversorgt worden ist. Ohne Bedeutung ist es dagegen, ob die Lebensmittel unmittelbar
in Naturalien gewährt worden sind, oder ob die Betroffenen Lebensmittelcoupons
erhalten haben, die sie gegen Lebensmittel eintauschen konnten.
41
Nach Maßgabe dieser Grundsätze sind die von der Klägerin ausgeübten
Beschäftigungen nicht als entgeltlich anzusehen, wobei der Senat hierbei vom eigenen
Vortrag der Klägerin ausgeht.
42
Sowohl auf die Fragen der Beklagten als auch auf die konkreten Fragen des Senats hat
die Klägerin - bestätigt durch die Antworten ihrer Zwillingsschwester B Holländer -
kontinuierlich angegeben, für ihre Tätigkeiten (lediglich) Lebensmittel (für zu Hause)
erhalten zu haben. Soweit sie sich in ihrer Erklärung vom 04.12.2005 über die
Möglichkeit des Erhalts von Lebensmittelcoupons und/oder zusätzlichem Bargeld
verhält, räumt sie selbst an, sich hieran nicht erinnern zu können. In ihren
unmissverständlichen Antworten auf die schriftlichen Fragen des Senates hat sie
demgemäß von dahingehenden Überlegungen wieder Abstand genommen.
43
Angesichts dieser Angaben der Klägerin und ihrer Schwester wird zumindest eine
Barentlohnung auch vor dem Hintergrund der Ausführungen von Dr. Tauber im
Gutachten vom 15.06.2008 nicht überwiegend wahrscheinlich im Sinne einer guten
Möglichkeit. Soweit Dr. Tauber dort von einer "allgemein üblichen Lohnzahlung"
ausgeht, bezieht sich dies erkennbar auf industrielle bzw. gewerbliche Arbeitgeber.
Demgegenüber war die Klägerin nach eigenen Angaben beim Judenrat "angestellt"
44
bzw. hat Tätigkeiten in der Landwirtschaft aus. Zudem sieht der Senat keine Möglichkeit,
sich mit Hilfe allgemein gehaltener historischer Erkenntnisse über ihre eindeutigen
eigenen Angaben hinwegzusetzen.
Bezüglich der erhaltenen Lebensmittel kann nicht im Sinne einer guten Möglichkeit
festgestellt werden, dass sie nach dem vorbestimmten Maß zur beliebigen Verfügung
geeignet gewesen, d. h. über den unmittelbaren Bedarf der Klägerin hinaus gegangen
sind. Die Klägerin selbst hat zur Menge der erhaltenen Lebensmittel keine näheren
Angaben gemacht oder machen können. Für eine maßgebliche Mitversorgung Dritter
bestehen ebenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte. Vielmehr hat sie auf die
ausdrücklichen Fragen des Senats noch einmal ausgeführt, dass alle Verwandten, die
mit im Ghetto gewesen wären, insbesondere ihre Eltern und die Geschwister, gearbeitet
hätten. Insofern ist überwiegend wahrscheinlich, dass sie eine der Klägerin
entsprechende Gegenleistung für ihre Tätigkeiten erhalten haben und dementsprechend
eine nachhaltige Mitversorgung nicht nötig war.
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Da die Klägerin vorträgt, die Gegenleistung für ihre Tätigkeiten jeweils direkt vom
Arbeitgeber bzw. an der Arbeitsstelle erhalten zu haben, ist kein Raum für die Annahme,
dass es gleichsam "im Hintergrund" eine (Bar-)Lohnzahlung eines potentiellen
Arbeitgebers an einen Dritten - insbesondere den Judenrat - gegeben und dieser den
Barlohn einbehalten und lediglich Sachmittel ausgekehrt hat.
46
Die Klägerin kann sich weiter nicht mit Erfolg darauf berufen, für das Merkmal einer
Beschäftigung "gegen Entgelt" im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b ZRBG reiche
es aus, dass sie für ihre Arbeitsleistung einen Rechtsanspruch auf Entgelt gehabt habe
auch wenn dieses nicht gezahlt worden sei. Der Senat hat bereits im Einzelnen
dargelegt, aus welchen Gründen diese Rechtsauffassung auch dann unzutreffend ist,
wenn örtliche Lohnordnungen eine Bezahlung der Arbeitskräfte vorgesehen haben, die
indessen unterblieben ist (Urteile des Senats vom 09.03.2008, L 8 R 220/07 und L 8 R
265/07; jeweils sozialgerichtsbarkeit.de). Infolgedessen kann dahingestellt bleiben, ob
zum Beispiel die allgemeine Anordnung für die einheimischen Arbeiter im öffentlichen
Dienst und in der Wirtschaft vom 21.11.1941 (Verordnungsblatt des Reichskommissars
für das Ostland vom 25.11.1941, Seite 75), die Vorschriften über Lohnzahlungen an die
genannten Arbeitskräfte enthielt, ihrer konkreten Ausgestaltung nach einen individuellen
Lohnanspruch der Klägerin begründen sollte.
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2. Die von der Klägerin im Ghetto Wilna verrichtete Arbeiten können auch nicht nach
den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. §§ 15, 16,
Fremdrentengesetz (FRG) i. V. m. § 20 WGSVG bzw. § 17a FRG oder § 12 WGSVG als
Versicherungszeit angerechnet werden.
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Die behauptete Arbeit der Klägerin in Wilna unterfiel nicht den
Reichsversicherungsgesetzen. Im Reichskommissiariat Ostland galten diese nicht für
Personen, die wie die Klägerin, nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen (vgl.
BSG, Urteil vom 23.08.2001 - B 13 RJ 59/00 R für das sogenannte
Generalgouvernement). Eine Anrechnung als Versicherungszeit kann sich daher allein
nach den §§ 15, 16 FRG i. V. m. § 20 WGSVG bzw. § 17a FRG richten. Eine
Anrechnung als Beitragszeit nach § 15 Abs. 1 FRG kommt indessen nicht in Betracht,
weil eine Beitragsentrichtung zu einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen
Rentenversicherung nicht glaubhaft gemacht und von der Klägerin auch gar nicht
behauptet worden ist. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 FRG sind bereits deshalb
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nicht erfüllt, da - wie oben bereits ausgeführt worden ist - ein nach deutschem Recht
dem Grunde nach rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht im
Sinne einer guten Möglichkeit festgestellt werden kann. Auch § 16 FRG greift nicht zu
Gunsten der Klägerin ein, da die von ihr ausgeübten Tätigkeiten nicht nach dem am
01.03.1957 geltenden Bundesrecht (§§ 1227 und 1228 RVO n.F.) Versicherungspflicht
in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet hätten, wenn sie im Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verrichtet worden wären und nicht
nach vollendetem 17. Lebensjahr verrichtet worden sind.
Da nicht im Sinne einer Glaubhaftmachung festgestellt werden kann, dass die Klägerin
eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat, liegen die
Voraussetzungen des § 12 WGSVG ebenfalls nicht vor.
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Weitere - von der Klägerin mit der vorliegenden Klage ohnehin nicht geltend gemachte -
Beitragszeiten, die zum Anspruch auf Zahlung einer Regelaltersrente führen könnten,
sind nicht ersichtlich.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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Anlass, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, hat nicht
bestanden. Der Angelegenheit kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Denn zu den
anzuwendenden gesetzlichen Begriffen sind schon mehrere höchstrichterliche
Entscheidungen ergangen, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung geben (vgl.
BSG SozR 3-1500, § 160 Nr. 8; BSG Beschluss vom 06.08.2008 - B 5 R 69/07 B).
53