Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 18.03.2010

LSG NRW (aufschiebende wirkung, antragsteller, zumutbare arbeit, wirkung, vereinbarung, bezug, beschwerde, sgg, arbeit, bescheinigung)

Landessozialgericht NRW, L 6 B 157/09 AS ER
Datum:
18.03.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 6 B 157/09 AS ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 3 AS 199/09 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Münster vom 11.11.2009 wird zurückgewiesen. Die
Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten
des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren.
Gründe:
1
I.
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Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die
Wirksamkeit eines Sanktionsbescheides nach § 31 des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB II).
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Der 1966 geborene Antragsteller bezieht von der Antragsgegnerin Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts. Aufgrund von Bescheiden vom 22.09.2008 und
22.10.2008 erhielt er im November 2008 um 30 %, von November 2008 bis Januar 2009
um 60 % gekürzte Leistungen. Mit Bescheid vom 21.08.2009 wurden ihm Leistungen in
(voller) Höhe von monatlich 613,94 Euro (Regelsatz: 359,00 Euro, Kosten der Unterkunft
und Heizung: 254,94 Euro) bewilligt.
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Am 15.05.2009 unterzeichnete der Antragsteller eine Eingliederungsvereinbarung für
die Zeit vom 11.05.bis 10.11.2009. Darin heißt es:
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Allgemeine Leistungen und Pflichten der Vertragsparteien:
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Aufgrund der Aktenlage werden die nachstehend aufgeführten Aktivitäten zur Integration
in den Arbeitsmarkt für den oben angegebenen Zeitraum verbindlich vereinbart, soweit
zwischenzeitlich nichts anderes vereinbart wird. Soweit aus organisatorischen Gründen
der persönliche Ansprechpartner/ die persönliche Ansprechpartnerin die vereinbarten
Leistungen und Beratungsangebote nicht persönlich vorhält, werden diese durch Dritte
(z.B. Hilfeplaner/-innen des Kreises D) sichergestellt und sind einvernehmlich mit Herrn
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NT zu vereinbaren. Herr NT bestätigt durch seine/ihre Unterschrift, dass er/sie mit
diesem Verfahren einverstanden ist. Diese weitere Vereinbarung ist dann Bestandteil
der Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II.
( )
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Zur Unterstützung der beruflichen Integration wird Herrn T die Teilnahme an der
Maßnahme "Job-Direkt" Modell T1 - Zentrum M angeboten. Herr T verpflichtet sich
regelmäßig an der Maßnahme teilzunehmen.
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( )
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Rechtsfolgen bei Verletzung der Eingliederungsvereinbarung
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Komme ich der/den oben genannten Verpflichtung(en) ohne wichtigen Grund nicht
nach, treten folgende Konsequenzen ein:
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Bei jeder weiteren Pflichtverletzung wird das Arbeitslosengeld II um 100% unter Wegfall
des Zuschlages gem. § 24 SGB II gemindert. ( ) Eine erneute Pflichtverletzung liegt vor,
wenn
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( ) ich die in dieser Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten nicht erfülle
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( ) ich die mir in dieser Vereinbarung angebotene zumutbare Arbeit, Ausbildung,
Arbeitsgelegenheit nicht aufnehme oder nicht fortführe
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(X) ich die in dieser Vereinbarung angebotene Maßnahme nicht aufnehme oder nicht
fortführe (hier: "Job-Direkt" Modell T1 - Zentrum M)
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( ) ich den vereinbarten Plus-Job (zumutbare Arbeit nach § 16d SGB II) nicht ausführe
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( ) ich eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit abbreche oder Anlass für
den Abbruch gebe.
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Am 29.05.2009 schloss der Antragsteller mit dem Träger "Modell T1 e.V., Verein für
ökonomische Initiativen in der Sozialarbeit" eine Weiterbildungsvereinbarung über eine
Maßnahme im Zeitraum 02.06.2009 bis 01.10.2009 ab. Darin verpflichtete er sich u.a.,
die Firma bei Fernbleiben unter Angabe des Grundes unverzüglich zu benachrichtigen
und im Falle einer Erkrankung bis zum dritten Tag eine ärztliche Bescheinigung
vorzulegen.
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Im Zeitraum 24.06. bis 26.06. und 20.07. bis 30.07 und ab 11.09.2009 fehlte der
Antragsteller. Hierzu reichte er jeweils nachträglich Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
für die Zeiträume 24.-26.06., 20.-30.07., 14.-18.09. und 22.-25.09.2009 ein.
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Mit Schreiben vom 15.09.2009 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller zu einer
beabsichtigten Sanktionierung an und senkte das Arbeitslosengeld II mit Bescheid vom
23.09.2009 unter Aufhebung des letzten Bewilligungsbescheides schließlich für die Zeit
vom 01.10. bis 31.12.2009 um 100% der Regelleistung und der Kosten der Unterkunft
und Heizung sowie der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungsbeiträge ab.
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Der Antragsteller legte hiergegen mit Schreiben vom 05.10.2009 Widerspruch ein und
trug zur Begründung vor, er sei erkrankt gewesen und habe dem Maßnahmeträger
entsprechende Atteste vorgelegt.
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Am 02.11.2009 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Münster (SG) den Antrag
gestellt, im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs vom 05.10.2009 gegen den Bescheid vom 23.09.2009 anzuordnen. Von
einem unentschuldigten Fernbleiben könne im Hinblick auf die vorgelegten Atteste nicht
die Rede sein. Darüber hinaus sei er zu keinem Zeitpunkt auf die Folgen des Verstoßes
hingewiesen worden. Er sei dringend auf die Leistungen nach dem SGB II angewiesen,
da er über keinerlei Einkommen verfüge.
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Mit Beschluss vom 11.11.2009 hat das SG die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs gegen den Bescheid vom 23.09.2009 angeordnet, weil ernstliche Zweifel
an der Rechtmäßigkeit des Absenkungsbescheides bestünden. § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b
SGB II ermächtige zur Absenkung der Regelleistung, wenn der erwerbsfähige
Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigere, in der
Eingliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten zu erfüllen. In der
Eingliederungsvereinbarung, die der Antragsteller unterzeichnet habe, sei nicht
festgelegt worden, dass eine Pflichtverletzung auch vorliege, wenn an einzelnen Tagen
der Hilfebedürftige unentschuldigt fehle oder eine Arbeitsunfähigkeit nicht unverzüglich
melde und die entsprechende ärztliche Bescheinigung später als am dritten Tag
vorlege. Eine solche Verpflichtung des Antragstellers ergebe sich allein aus der
Weiterbildungsvereinbarung mit dem Maßnahmeträger. Hierauf werde in der
Eingliederungsvereinbarung jedoch kein Bezug genommen. Der Antragsteller habe
daher nicht davon ausgehen müssen, dass derartige Pflichtverletzungen gegenüber
dem Maßnahmeträger als Verletzung der Eingliederungsvereinbarung gewertet würden
und zu entsprechenden Folgen führen könnten.
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Gegen den ihr am 16.11.2009 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am
15.12.2009 Beschwerde eingelegt. Zwar treffe es zu, dass in der
Eingliederungsvereinbarung und der dazugehörigen Rechtsfolgenbelehrung nicht
unmittelbar festgelegt sei, dass eine zur Minderung berechtigende Pflichtverletzung
auch dann vorliege, wenn der Hilfebedürftige an einzelnen Tagen unentschuldigt fehle
oder die Arbeitsunfähigkeit nicht rechtzeitig mitteile bzw. hierzu eine ärztliche
Bescheinigung vorlege. Diese Verpflichtungen seien dem Antragsteller aber
ausdrücklich in der Weiterbildungsvereinbarung auferlegt worden. Auf diese werde
wiederum ebenfalls ausdrücklich in der Eingliederungsvereinbarung Bezug genommen.
Diese sehe vor, dass "die weitere Vereinbarung Bestandteil der
Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II" werde. Die in der
Rechtsfolgenbelehrung niedergelegten Folgen einer Pflichtverletzung würden sich
mithin auch auf die dem Antragsteller in der Weiterbildungsvereinbarung auferlegten
Pflichten beziehen. Dies gelte zusätzlich mit Blick darauf, dass der Antragsteller durch
mehrere vorgehende Eingliederungsvereinbarungen sowie aufgrund vergleichbarer
Pflichtverletzungen mit dem diesbezüglichen Prozedere bereits vertraut gewesen sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Antragsgegnerin Bezug genommen. Dieser
ist Gegenstand der Beratung gewesen.
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II.
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Die Beschwerde ist zulässig aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Absenkungsbescheid vom
23.09.2009 angeordnet.
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Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der
Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage
keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
anordnen. Der Widerspruch des Antragstellers hat vorliegend nach § 39 Nr. 1 SGB II
keine aufschiebende Wirkung. Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt
jedoch das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin, weil bei summarischer Prüfung
mehr gegen als für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Absenkungsbescheides
spricht.
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Eine Absenkungsentscheidung kommt nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b SGB II (hier i.V.m. §
31 Abs. 3 S. 2 SGB II) dann in Betracht, wenn der Leistungsempfänger sich trotz
Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, in der Eingliederungsvereinbarung
festgelegte Pflichten zu erfüllen. Zu Recht hat das Sozialgericht ausgeführt, dass diese
Voraussetzung hier entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht gegeben ist. Es
fehlt an einer eindeutigen Rechtsfolgenbelehrung für die vom Antragsteller konkret
begangenen Pflichtverletzungen des unentschuldigten Fehlens an einzelnen Tagen
sowie der unverzüglichen Meldung einer Arbeitsunfähigkeit und rechtzeitigen
Einreichung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Auf die Ausführungen in dem
angefochtenen Beschluss wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen
(§ 153 Abs. 2 SGG). Dabei kann dahinstehen, ob die (zweifelhafte) Auffassung der
Antragsgegnerin zutrifft, dass die in der Weiterbildungsvereinbarung genannten
Pflichten durch eine "Vorab"Bezugnahme zu originären Pflichten "der
Eingliederungsvereinbarung" werden. Selbst wenn man dies so annehmen würde, sind
derartige Pflichtverletzungen jedoch nicht von der Rechtsfolgenbelehrung der zwischen
Antragsteller und Antragsgegnerin im Mai 2009 abgeschlossenen
Eingliederungsvereinbarung erfasst. Nach der Formulierung der
Eingliederungsvereinbarung liegt eine erneute Pflichtverletzung (lediglich dann) vor,
wenn der Antragsteller die in dieser Vereinbarung angebotene Maßnahme nicht
aufnimmt oder fortführt (hier: "Job-Direkt"-Modell T1 - Zentrum M). Weitere Tatbestände,
die eine Pflichtverletzung darstellen können, sind in der Eingliederungsvereinbarung
zwar aufgelistet, jedoch nicht angekreuzt. Damit ist eine etwaige Sanktionierung nach
objektivem Verständnis auf die konkret genannte und angekreuzte Pflichtverletzung
begrenzt und umfasst nicht darüber hinausgehende weitere Pflichtverletzungen wie hier
das unentschuldigte Fernbleiben an einzelnen Tagen und die verspäteten
Arbeitsunfähigkeitsmeldungen und -bescheinigungen. Auch die weitere Auffassung der
Antragsgegnerin, dass dem Antragsteller die Folgen der Verletzung seiner Pflichten
bereits aus vorigen Absenkungen aufgrund vergleichbarer Sachverhalte unschwer zu
erkennen sein mussten, vermag nicht zu einem anderen Ergebnis zu führen. Aus den
aktenkundigen Unterlagen ergibt sich nicht, dass die Leistungen bei dem Antragsteller
in der Vergangenheit bereits wegen gleichartiger Pflichtverletzungen wie vorliegend
abgesenkt worden sind. Darüber hinaus kann alleine das "Wissen" des Antragstellers
aus früheren Absenkungsbescheiden eine fehlende schriftliche Benennung von
sanktionsfähigen Pflichtverletzungen nicht ersetzen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1
S. 1 SGG.
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Die Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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