Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.06.2007

LSG NRW: geistige behinderung, krankenversicherung, untätigkeitsklage, unverzüglich, ermessen, beratung, altersgrenze, anfang, versorgung, anhörung

Landessozialgericht NRW, L 16 B 16/07 KR
Datum:
14.06.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 16 B 16/07 KR
Vorinstanz:
Sozialgericht Aachen, S 4 KR 1/07
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Klägers vom 27.03./02.04.2007 wird der
Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 08.03.2007 geändert. Die
dem Kläger entstandenen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreites
trägt die Beklagte.
Gründe:
1
I.
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Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte (d. Bekl.) die außergerichtlichen Kosten
eines inzwischen erledigten Klageverfahrens wegen Untätigkeit (§ 88 des
Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) zu tragen hat.
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Im Hauptsacheverfahren begehrte der am 00.00.1991 geborene, schwerstbehinderte,
insbesondere bewegungsbehinderte und von einem Entwicklungsrückstand (zwei bis
zweieinhalb Jahre) betroffene Kläger (d. Kl.) die Gewährung eines Therapiefahrrades
als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 33 des Fünften Buches des
Sozialgesetzbuches - SGB V -). Den Antrag von August 2006 lehnte d. Bekl. nach
mehrfacher Anhörung des Arztes Dr. H vom Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung (MDK) durch Bescheid vom 12.09.2006 mit der Begründung ab,
für Jugendliche ohne wesentliche geistige Behinderung komme ein Therapiefahrrad
nicht mehr in Betracht. Dabei stützte sich d.Bekl. auf einen Auszug aus dem
Hilfsmittelkatalog, wonach eine Hilfsmittelversorgung mit Zwei- und Dreirädern für
Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr nicht mehr in Betracht komme (wohingegen das
Bundessozialgericht - BSG - eine solche alters- und jahrgangsmäßige Einschränkung in
seiner Rechtsprechung zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen in dieser Form
und derart generell bislang nicht ausgesprochen hat, vgl. nur BSG, SozR 3-2500 § 33
Nrn 27 und 46; vielmehr stellt es auf das Bestehen einer Entwicklungsphase ab, die in
der Regel bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres noch nicht abgeschlossen sei). Auf
den ablehnenden Bescheid vom 12.09.2006 forderte d. Bekl. von Dr. H eine weitere
Stellungnahme an, die allerdings erst Anfang November 2006 bei d. Bekl. einging und
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deren Ergebnisse sie unverzüglich den gesetzlichen Vertretern d. Kl. eröffnete. Der
Bevollmächtigte d. Kl. wies d. Bekl. am 11.12.2006 darauf hin, dass die in § 88 Abs. 2
SGG vorgesehene Frist zur Erteilung eines Widerspruchsbescheides in Kürze ablaufe.
Er drohe deshalb schon jetzt eine Untätigkeitsklage an. D. Bekl. antwortete darauf am
13.12.2006, es müsse "wegen des zur Zeit anfallenden Arbeitsanfalls mit einer längeren
Bearbeitungszeit gerechnet werden". Sie sei "um eine zügige Bearbeitung bemüht".
D.Kl. hat am 08.01.2007 beim Sozialgericht - SG - Aachen Untätigkeitsklage erhoben
und geltend gemacht, es bestehe kein sachlicher Grund für eine verzögerte
Bearbeitung. Nach Erteilung eines (den Anspruch ablehnenden)
Widerspruchsbescheides am 30.01.2007 hat d. Kl. das Untätigkeitsverfahren für erledigt
erklärt und beantragt, d. Bekl. die außergerichtlichen Kosten (785,40 Euro einschließlich
einer Erledigungsgebühr) aufzuerlegen.
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D.Bekl. ist dem Kostenantrag d. Kl. entgegengetreten und hat im Wesentlichen
herausgestellt, wegen der Weihnachtsfeiertage habe d. Kl. frühestens Ende Januar mit
einer Entscheidung über seinen Widerspruch rechnen können. Jedenfalls seien die
geltend gemachten Kosten zu hoch.
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Das SG hat mit Beschluss vom 08.03.2007 entschieden, dass Kosten nicht zu erstatten
seien. Der Beschwerde d. Kl. vom 27.03.2007, bei Gericht eingegangen am 02.04.2007,
hat es nicht abgeholfen (Beschluss vom 04.04.2007).
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II.
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Die Beschwerde ist begründet. Nach § 193 Abs. 1 S. 3 SGG entscheidet das
Sozialgericht auf Antrag durch Beschluss, wenn das Verfahren anders als durch Urteil
endet. Die Entscheidung ergeht nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts. Im
Regelfall ist es angemessen, dass derjenige die Kosten trägt, der unterliegt. Jedoch darf
nicht nur auf das Ergebnis des Rechtsstreites abgestellt werden, auch ist das
Veranlassungsprinzip zu beachten (etwa bei unrichtiger Beratung, falscher oder
fehlerhafter Begründung durch den Leistungsträger). Zwar hat das SG zutreffender
Weise darauf abgestellt, dass am 11.12.2006 die Beteiligten nicht mehr erwarten
konnten, dass eine Entscheidung über den am 29.09.2006 bei d. Bekl. eingegangenen
Widerspruch d. Kl. bis zum Ablauf der Dreimonatsfrist des § 88 Abs. 2 SGG ergehen
konnte. Insoweit hatte d. Bekl. einen zureichenden Grund (§ 88 Abs. 1 SGG), den
Widerspruch erst im Januar 2007 zu bescheiden.
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Jedoch kann nicht außer Acht gelassen werden, dass d. Bekl. mit ihrem Schreiben vom
13.12.2006 nicht den Eindruck erweckt hat, sie setze alles daran, den Widerspruch in
angemessener Zeit zu bescheiden. Vielmehr wurde d. Kl. eine "längere
Bearbeitungszeit" angekündigt, ohne dass sich d. Bekl. etwa auf einen Termin noch im
Januar 2007 festgelegt hätte. Auch deutet die Formulierung, man sei um eine "zügige
Bearbeitung bemüht" nicht darauf hin, dass man eine besondere Eilbedürftigkeit sehe.
Die gewählten Formulierungen erscheinen eher floskel- und leerformelhaft.
Demgegenüber kann auch nicht unbeachtet bleiben, dass die Angelegenheit angesichts
des Alters d. Kl., der die von d. Bekl. angeführte Altersgrenze schon überschritten hatte,
schon damals besonders eilbedürftig war. Auch sind d. Bekl. schon die Verzögerungen
bis zur Erstattung der erneuten MDK-Stellungnahme angesichts des fortschreitenden
Alters d. Kl. zuzurechnen, zumal d. Bekl. auch die vom MDK noch im Jahre 2000
festgestellten Entwicklungsverzögerung von zwei bis zweieinhalb Jahren (Ziff. 4.2.4 des
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Pflegegutachtens vom 28.08.2000) trotz der anerkennenswerter Auswertung neuerer
Zeugnisse der Förderschule unberücksichtigt gelassen hat und aus der von ihr zitierten
Rechtsprechung des BSG eine so wohl nicht zu verstehende generelle
Altersbegrenzung entnommen zu haben scheint. Insoweit ist als weiterer, wesentlicher
Ermessensgesichtspunkt zu berücksichtigen, dass d. Bekl. Veranlassung zur Erhebung
einer (verfrühten) Untätigkeitsklage gegeben hat. Dies rechtfertigt es, ihr die Kosten des
Verfahrens - auch in vollem Umfange - aufzuerlegen.
Soweit d. Bekl. bereits mit Schriftsatz vom 02.03.2007 z. T. nachvollziehbar gerügt hat,
die Kostenrechnung des Klägerbevollmächtigten sei weit überhöht (Erledigungsgebühr,
Gebührensätze nach Mittelgebühr), ist darüber im Beschwerdeverfahren nicht zu
entscheiden. Diese Entscheidung (auch unter Berücksichtigung des weiteren
Aufwandes für den Bevollmächtigten durch das Beschwerdeverfahren) bleibt zunächst
dem Urkundsbeamten, notfalls der sozialgerichtlichen Kammer (endgültig) vorbehalten
(§ 197 SGG).
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