Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.01.1999

LSG NRW (kläger, 1995, essen, sgg, heim, psychiatrie, versorgung, kontrolle, pflege, aufhebung)

Landessozialgericht NRW, L 16 P 157/98
Datum:
21.01.1999
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 P 157/98
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 39 (26) P 64/97
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund
vom 14.08.1998 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird
nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten ab 01.04.1995
Pflegegeld nach der Pflegestufe I verlangen kann.
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Der 1934 geborene Kläger leidet seit Abbruch eines Musikstudiums 1953 an
schizophrenen Schüben und war seitdem mehrfach stationär im Westfälischen
Landeskrankenhaus E. in der geschlossenen Psychiatrie sowie einmal in den Jahren
1984/1985 in einem Altenheim untergebracht. In den Zwischenzeiten wurde er jeweils
im Wechsel von seinen Brüdern und seiner Schwester betreut und versorgt. Bis zur
Einführung der Sozialen Pflegeversicherung im April 1995 erhielt er nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) als Hilfe in besonderen Lebenslagen ein monatliches
Pflegegeld von 160,-- DM. Zum 01.04.1995 beantragte der Kläger bei der Beklagten die
Geldleistung nach dem SGB XI.
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Die Beklagte ließ den Kläger durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung
(MDK) untersuchen. Der Gutachter Dr. P ... kam zu dem Ergebnis, ein Hilfebedarf
bestehe lediglich zeitweilig beim Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung sowie in
den Bereichen der hauswirtschaftlichen Versorgung. Daraufhin lehnte die Beklagte mit
Bescheid vom 11.10.1995 den Antrag des Klägers ab. Der zum Betreuer bestellte
Bruder des Klägers legte Widerspruch ein und beantragte unter dem 12.10.1995 für
Ende des Jahres 1995 vollstationäre Pflegeleistungen. Dies lehnte die Beklagte nach
Einholung einer weiteren Stellungnahme des MDK mit Bescheid vom 05.07.1996
ebenfalls ab. Im August 1996 teilte der Betreuer der Beklagten mit, der Kläger habe die
Aufnahme in ein Heim strikt und sehr erregt verweigert. Der Widerspruchsausschuß der
Beklagten wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.05.1997 zurück,
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weil die Voraussetzungen für die Pflegestufe I (Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten
durchschnittlich täglich in den Bereichen der Ernährung, der Mobilität und der Hygiene
neben einem Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung in Höhe von
mindestens 45 Minuten) nicht gegeben seien.
Der Betreuer des Klägers hat am 26.05.1997 Klage vor dem Sozialgericht Dortmund
erhoben und vorgetragen: Der Kläger könne selbst keinen eigenen Haushalt führen.
Ginge er in ein Heim, so entstünden Heimkosten von 6.000,-- DM monatlich. Solange er
bei seinen Angehörigen lebe, die ihn ständig betreuten, versorgten und pflegten, müsse
er auch auf der Hilfe bestehen.
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Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.10.1995 und 05.07.1996 sowie
des Widerspruchsbescheides vom 15.05.1997 zu verurteilen, ihm am 01.04.1995
Pflegegeld zu gewähren.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Sozialgericht hat einen Wochenpflegeplan des Betreuers beigezogen und sodann
ein Sachverständigengutachten des Arztes für Psychiatrie Dr. A ... (Leitender Arzt der
Westfälischen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, L.) vom 25.04.1998 über eine
ambulante Untersuchung und Befragung des Klägers in häuslicher Umgebung
eingeholt.
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Das Sozialgericht hat die Klage anschließend mit Urteil vom 14.08.1998 mit der
Begründung abgewiesen: Die Pflegestufe I könne nicht festgestellt werden. Es bestehe
lediglich ein täglicher Hilfebedarf von durchschnittlich 10 Minuten im Bereich der
Körperpflege (Vorprüfen der Temperatur des Badewassers, Hilfe bei der Zahnpflege
und gelegentliche Hilfe beim Rasieren). Ferner sei erforderlich, den Kläger bei Gängen
zu Ärzten, Therapeuten und Behörden zu begleiten. Derartige Besuche fielen jedoch
nicht häufiger als einmal im Quartal an, so daß eine Berücksichtigung im wöchentlichen
Durchschnitt nicht in Betracht komme.
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Gegen dieses am 13.10.1998 zugestellte Urteil hat der Betreuer des Klägers am
20.10.1998 Berufung eingelegt und vorgetragen: Durch die ständige Pflege mache der
Kläger einen stabilen Eindruck. Der Sachverständige weise zu Recht darauf hin, daß er
ohne die Hilfe in ein paar Wochen verwahrlosen würde und dann in ein Heim müsse. Er
als Betreuer habe die Arbeit. Die Behörden sparten dagegen die Kosten ein.
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Der Betreuer des Klägers beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 14.08.1998 abzuändern und die Beklagte
unter Aufhebung der Bescheide vom 11.10.1995 und 05.07.1996 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 15.05.1997 zu verurteilen, dem Kläger ab 01.04.1995
Pflegegeld der Pflegestufe I zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das erstinstanzliche Urteil und ihre angefochtenen Bescheide weiterhin für
zutreffend.
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Der Senat hat den Betreuer des Klägers als Zeugen über die Art und den Umfang der
Pflege des Klägers gehört. Auf den Inhalt der Aussage wird Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, der
Vormundschafts-/Betreuungsakte des Amtsgerichts S ..., der SchwbG-Akte ... des
Versorgungsamtes S ... und der Akten des Verwaltungsgerichts A ..., die Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat die
Klage zu Recht abgewiesen. Die Bescheide der Beklagten vom 11.10.1995 und
05.07.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.05.1997 sind nicht
rechtswidrig und beschweren den Kläger nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Dem Kläger steht nämlich Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 01.04.1995 nicht zu (§§
37 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1, 14 Abs. 1, 3 und 4 sowie § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 Nr.
1 SGB XI).
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Der Senat sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil er die
Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG).
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Im Berufungsverfahren haben sich keine Gesichtspunkte ergeben, die Anlaß für eine
andere Beurteilung sein könnten. Der Senat kann auch unter Berücksichtigung der
Vernehmung des Betreuers des Klägers als Zeugen die Voraussetzungen der
Pflegestufe I nicht feststellen. Der Kläger kann sich nämlich hinsichtlich Essen und
Trinken, Aufstehen, Stehen und Gehen, Waschen und Baden sowie An- und Ausziehen
weitgehend selbst helfen. Er muß allerdings des öfteren zu bestimmten Tätigkeiten
angehalten werden. Dies gilt auch für das Waschen. Wenn er dazu bewegt worden ist,
macht er es auch, muß aber kontrolliert werden. Etwa alle vierzehn Tage kommt es vor,
daß er einkotet. Dann muß darauf geachtet werden, daß sich der Kläger richtig säubert
und badet. Er beseitigt beispielsweise nicht von alleine den Kot an den Beinen. Er muß
dann von dem Betreuer abgeseift werden; auch kann er den Rücken nicht selbst
waschen. Dies muß der Betreuer tun. Beim Essen muß darauf geachtet werden, daß er
eine Mahlzeit zu sich nimmt. Wenn ihm das Essen vorgesetzt wird, ißt er allerdings
alleine, wenn auch sehr unsauber. Die vorgenannten Feststellungen ergeben sich aus
der Aussage des Betreuers. Der Senat hält die Aussage für glaubhaft und über zeugend
und hat sie deshalb zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht.
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Gleichwohl läßt sich unter Einbeziehung der Feststellungen des Dr. A ... im Bereich der
Grundpflege ein täglicher Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten nicht feststellen. Die des
öfteren erforderlich werdenden Aufforderungen zur Durchführung bestimmter Tätigkeiten
sind insgesamt lediglich kurzzeitig. Dasselbe gilt auch für die anschließende Kontrolle
der vom Kläger durchgeführten Tätigkeiten. Die Aufforderung und Kontrolle umfaßt
täglich lediglich einige Minuten. Das Waschen des Rückens, welches der Kläger selbst
körperlich nicht verrichten kann, erfordert ebenfalls nur einen kurzzeitigen Aufwand. Das
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vom Betreuer geschilderte etwaige vierzehntägige Einkoten und die anschließende
Hilfe beim Baden kann im Bereich der Grundpflege keine Berücksichtigung finden, weil
es sich hierbei nicht um eine täglich wiederkehrende Verrichtung handelt. Das vom
Betreuer geschilderte sehr unsaubere Essen des Klägers kann gleichfalls nicht im
Bereich der Grundpflege berücksichtigt werden, weil die anschließenden Säuberungen
dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzuordnen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Anlaß, die Revision zuzulassen, besteht nicht, weil die Voraussetzungen des § 160
Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
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