Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20.10.2008

LSG NRW: eigene mittel, versicherungspflicht, krankenversicherung, krankheitsfall, erlass, hauptsache, mitgliedschaft, vergleich, abgrenzung, beendigung

Landessozialgericht NRW, L 5 B 75/08 KR ER
Datum:
20.10.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 5 B 75/08 KR ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 12 KR 63/08 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 21.08.2008 geändert. Die
Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig für die
Zeit ab 10.07.2008 bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens
verpflichtet, bei dem Antragsteller eine Pflichtversicherung
durchzuführen und Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die
notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im
Beschwerdeverfahren. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Gründe:
1
I.
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Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Antragsteller versicherungspflichtig nach § 5
Abs. 1 Nr. 13 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ist.
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Der 1961 geborene Antragsteller lebt aktuell in einer Einrichtung für behinderte
Menschen. Er war bis zum 30.06.2003 in einer Werkstatt für behinderte Menschen
beschäftigt und bei der Antragsgegnerin gegen das Risiko Krankheit versichert. Seit
Beendigung der Beschäftigung bezog er laufende Leistungen und Hilfen nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bzw. - seit dem 01.01.2005 - nach dem Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch (SGB XII).
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Nach Beendigung der Beschäftigung versäumte es die ehemalige Betreuerin des
Antragstellers, seine freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) anzuzeigen. Auf eine im Oktober 2005 erstattete Anzeige lehnte die
Antragsgegnerin die Durchführung einer freiwilligen Versicherung ab. Im Rahmen eines
sich anschließenden Zivilrechtsstreits wurde die ehemalige Betreuerin vom
Oberlandesgericht Hamm (OLG) verurteilt, an die Beigeladene 26.824,25 Euro nebst
Zinsen zu zahlen (OLG Hamm, Urteil vom 08.08.2007, 13 U 75/07). Darüber hinaus
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wurde festgestellt, dass sie aus übergegangenem Recht alle weitere Schäden ab
01.05.2005 zu ersetzen hat, die aus der unterlassenen Anmeldung zur gesetzlichen
Pflegeversicherung entstanden sind und noch entstehen werden. Am 31.03.2008
schlossen die ehemalige Betreuerin, deren Vermögenshaftpflichtversicherung, der
Beigeladene und der Antragsteller einen Abfindungsvergleich, der durch das
Amtsgericht (AG) genehmigt wurde (Beschluss vom 11.04.2008). Aufgrund des dem
Antragsteller aus diesem Vergleich zugeflossenen Betrags von 30.000,00 Euro lehnte
der Beigeladene die Gewährung weiterer Leistungen und Hilfen nach dem SGB XII für
die Zeit ab 01.04.2008 bestandskräftig ab (Bescheid vom 10.04.2008).
Die Antragsgegnerin lehnte auf eine Anzeige des Antragstellers vom 15.04.2008 sowohl
die Durchführung einer freiwilligen Versicherung (Bescheid vom 18.04.2008) als auch
die Durchführung einer Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ab (Bescheid
vom 19.05.2008). Sie vertrat die Auffassung, dass der Antragsteller nicht "zuletzt
gesetzlich krankenversichert" gewesen sei, da er bis zum 31.03.2008
Leistungsansprüche gegen den Beigeladenen gehabt habe. Mit dem Widerspruch
machte der Antragsteller geltend, dass er keine andere Absicherung im Krankheitsfall
habe und auch "zuletzt" gesetzlich krankenversichert gewesen sei. Dem stehe nicht
entgegen, dass er in der Zeit vom 01.07.2003 bis 31.03.2008 Leistungen von dem
Beigeladenen erhalten habe, da er jedenfalls bis zum 30.06.2003 Mitglied der
Antragsgegnerin gewesen sei.
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Auf einen am 10.07.2008 bei dem Sozialgericht (SG) Dortmund gestellten Antrag auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das SG die Antragsgegnerin verpflichtet, den
Antragsteller rückwirkend ab dem 01.04.2008 vorläufig bis zum Abschluss der
Hauptsacheverfahrens als Pflichtmitglied zu versichern. Es hat im Wesentlichen
ausgeführt, dass die Ablehnung von Leistungen und Hilfen nach dem SGB XII durch
den Beigeladenen nicht deshalb erfolgt sei, weil dieser von einer vorrangigen
Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ausgehe, sondern deshalb, weil der
Antragsteller nicht bedürftig sei. Das Merkmal "zuletzt gesetzlich krankenversichert"
betreffe lediglich die Abgrenzung zur privaten Krankenversicherung.
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Mit der am 09.09.2008 erhobenen Beschwerde hält die Antragsgegnerin daran fest,
dass der Antragsteller nicht zuletzt gesetzlich krankenversichert gewesen sei, da er
Ansprüche gegen den Beigeladenen nach dem SGB XII gehabt habe. Zu Unrecht habe
das SG den Eintritt der Versicherungspflicht bereits für die Zeit ab 01.04.2008 bis zum
rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens angeordnet und damit die
Hauptsache vorweggenommen.
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Einen Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung des angefochtenen Beschlusses gemäß
§ 199 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat abgelehnt (Beschluss vom
16.10.2008).
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II.
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Die zulässige Beschwerde ist nur im Hinblick darauf begründet, dass die
Antragsgegnerin erst für die Zeit ab Eingang des Antrages auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung bei dem SG (10.07.2008) vorläufig zur Durchführung einer
Pflichtversicherung zu verpflichten war. Im Übrigen ist die Beschwerde jedoch
unbegründet, weil das SG sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zutreffend
von der Versicherungspflicht des Antragstellers nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V
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ausgegangen ist.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen
zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines
Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes voraus. Ein
Anordnungsanspruch liegt vor, wenn der Antragsteller das Bestehen eines
Rechtsverhältnisses glaubhaft macht, aus dem er eigene Ansprüche ableitet.
Maßgeblich sind mithin grundsätzlich die Erfolgsaussichten der Hauptsache (vgl. Keller
in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b, Rn. 27 ff.). Ein
Anordnungsgrund ist nur dann gegeben, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass
ihm unter Berücksichtigung der widerstreitenden öffentlichen Belange ein Abwarten bis
zur Entscheidung der Hauptsache nicht zuzumuten ist.
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Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen
Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Die Voraussetzungen der Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind im
Hinblick auf den Antragsteller erfüllt. Danach sind Personen, die keinen anderweitigen
Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und (a) zuletzt gesetzlich
krankenversichert waren oder (b) bisher nicht gesetzlich krankenversichert waren, es sei
denn, dass sie zu den in § 5 Abs. 5 SGB V oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 SGB V
genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland
gehört hätten, in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Gemäß § 5
Abs. 8a Satz 1 und 2 SGB V ist indes nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V
versicherungspflichtig, wer nach Abs. 1 Nr. 1 bis 12 versicherungspflichtig, freiwilliges
Mitglied oder nach § 10 familienversichert ist (Satz 1) oder wer Empfänger laufender
Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Siebten Kapitel des SGB XII oder
Empfänger laufender Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes
(AsylbLG) ist.
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Der Beigeladene hat die (Weiter-) Gewährung von Leistungen der Grundsicherung (§§
41 ff. SGB XII), laufenden Hilfen für den notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen
(§ 35 SGB XII), laufender Hilfe zur Pflege in Einrichtungen (§§ 61 ff. SGB XII) und
Krankenhilfe (§ 48 SGB XII) für die Zeit ab 01.04.2008 mit Bescheid vom 10.04.2008
bestandskräftig abgelehnt, weil der Antragsteller nach dortiger Auffassung nicht
bedürftig war. Der Antragsteller hatte damit unter Berücksichtigung des gegenwärtigen
Sach- und Streitstandes - auch vor dem Hintergrund, dass die Voraussetzungen einer
freiwilligen Mitgliedschaft gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V und nach § 9 Abs. 1 Nr. 4 SGB
V (vgl. § 3 Satz 2 der Satzung der Antragsgegnerin) nicht erfüllt werden - keinen
anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB
V. Angesichts dessen besteht auch kein Nachrang gemäß § 5 Abs. 8a SGB V.
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Wie das SG zutreffend herausgestellt hat, war der Antragsteller auch "zuletzt gesetzlich
krankenversichert" i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 13a) SGB V. Gegen den Eintritt von
Versicherungspflicht spricht nicht, dass der Antragsteller in der Zeit vom 01.07.2003 bis
zum 31.03.2008 laufende Leistungen und Hilfen von dem Beigeladenen erhalten hat.
Das Merkmal ist nämlich entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht dahin
auszulegen, dass der Zeit ohne Absicherung im Krankheitsfall einer Versicherung in der
GKV unmittelbar vorausgegangen sein muss (so aber Baier in: Krauskopf, Soziale
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Krankenversicherung - Pflegeversicherung, § 5 SGB V, Rn. 80; SG Aachen, Beschluss
vom 31.03.2008, S 20 SO 25/08 ER, Juris; vgl. auch Gemeinsames Rundschreiben der
Spitzenverbände der Krankenkassen vom 20.03.2007: Krankenversicherung und
Pflegeversicherung der bisher Nichtversicherten nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V zum
01.04.2007). Das Merkmal dient vielmehr der Abgrenzung zwischen GKV und Privater
Krankenversicherung (PKV), so dass es nicht darauf ankommt, ob vor der Zeit der
Nichtabsicherung eine Absicherung nach Maßgabe sozialhilferechtlicher Regelungen
bestanden hat (vgl. Peters in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 5 SGB
V, Rn. 166). Abgesehen davon ergäbe sich bei einer anderen Betrachtungsweise ein
Wertungswiderspruch im Vergleich zu denjenigen Versicherten, die nach § 5 Abs. 1 Nr.
13 lit.b SGB V versicherungspflichtig sind. Bei diesen Versicherten, die zu keiner Zeit
gesetzlich oder privat krankenversichert waren, wird darauf abgestellt, ob sie ihrem
Status nach der GKV oder der PKV zuzuordnen sind (vgl. Peters, a.a.O., Rn. 167 u. 169;
Ulmer in: BeckOK SGB V, § 5, Rn. 68l; BT-Drs. 16/3100 S. 94 zu § 5). Im Ergebnis liefe
die von der Antragsgegnerin bzw. von den Spitzenverbänden vertretene Auffassung
darauf hinaus, dass diejenigen, die - wenn auch mit Unterbrechungen - in der
Vergangenheit in der GKV versichert waren und ggf. mit ihren Beiträgen zur
Finanzierung des Systems beigetragen haben, keine Mitgliedschaft begründen könnten,
wohingegen bei Personen, die zu keinem Zeitpunkt einen tatsächlichen Bezug zur GKV
hatten, allein aufgrund ihres (abstrakten) Status Versicherungspflicht eintritt.
Der Antragsteller hat ferner einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Wie das SG
zutreffend dargelegt hat, kann er jederzeit erkranken oder einen Unfall erleiden. Auch
wenn dem Antragsteller gegenwärtig noch eigene Mittel zur Verfügung stehen (Stand
am 30.09.2008: ca. 10.800,- Euro bei saldierten monatlichen Verbindlichkeiten von ca.
3.000,- Euro), besteht insbesondere bei einem gravierenden Unfallereignis die Gefahr
einer unvermittelt einsetzenden finanziellen Überforderung, so dass die Sicherstellung
eines angemessenen Schutzes im Krankheitsfall notwendig ist. Abgesehen davon stellt
sich der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung vor dem Hintergrund des
Regelungszwecks des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V - Schutz im Krankheitsfall für sämtliche
Einwohner - wie auch angesichts des Umstandes, dass Versicherungspflicht ersichtlich
eingetreten ist, als erforderlich dar. Ein Verweis auf Krankenhilfe nach § 48 SGB XII
scheidet bereits deshalb aus, weil im Rahmen des § 86b Abs. 2 SGG ein Verweis auf
Sozialhilfe grundsätzlich nicht statthaft ist, zumal der Antragsteller gegenwärtig keine
solchen Leistungen tatsächlich bezieht (vgl. nur Keller, a.a.O., Rn. 29 f., m.w.N.). Zudem
ist fraglich, ob überhaupt ein Nachrang der Krankenhilfe gegenüber der
Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V besteht (vgl. Hessisches LSG,
Beschluss vom 07.02.2008, L 8 KR 218/07 ER, sozialgerichtsbarkeit.de).
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Allerdings hat der Senat die Verpflichtung der Antragsgegnerin auf die Zeit ab Eingang
des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem SG (10.07.2008)
beschränkt und den angefochtenen Beschluss insoweit geändert. Es ist, wie die
Antragsgegnerin zutreffend ausgeführt hat, in der vorliegenden Konstellation nicht
glaubhaft gemacht worden, dass die Anordnung bereits mit Wirkung für die
Vergangenheit - mithin ab 01.04.2008 - erforderlich ist.
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Aus der vom SG tenorierten Verpflichtung, den Antragsteller zu versichern, folgt ohne
Weiteres, dass entsprechende Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren sind. Dies hat der Senat im Tenor klargestellt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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Allein aufgrund des Umstandes, dass der Senat den zeitlichen Umfang der Anordnung
begrenzt hat, erschien eine kostenmäßige Beteiligung des Antragstellers nicht geboten.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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