Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.04.2008

LSG NRW: arbeitsentgelt, bemessungszeitraum, eigentumsgarantie, auszahlung, verordnung, arbeitsmarkt, arbeitsvermittlung, arbeitslosigkeit, pauschalierung, kirchensteuer

Landessozialgericht NRW, L 12 AL 165/06
Datum:
16.04.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 12 AL 165/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Aachen, S 15 AL 165/05
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 11a AL 94/08 B
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen
vom 21.09.2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist die Höhe des Arbeitslosengeldes (Alg) des Klägers ab Mai 2005.
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Der 1943 geborene Kläger meldete sich am 25.01.2005 bei der Beklagten arbeitslos
und beantragte Alg. Laut Arbeitsbescheinigung der N GmbH hatte er von Mai 2004 bis
April 2005 ein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt von 62.686,84 EUR erzielt.
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Mit Bescheid vom 06.05.2005 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alg ab 01.05.2005 in
Höhe von täglich 62,84 EUR nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 171,74
EUR und der Leistungsgruppe C/0. Dabei war das tägliche Bemessungsentgelt
berechnet worden, indem das bescheinigte Arbeitsentgelt durch 365 Kalendertage
geteilt wurde.
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Dagegen erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, bei der Ermittlung des
Bemessungsentgelts müsse die gleiche Anzahl Tage wie bei der Auszahlung
berücksichtigt werden. Bei der Ermittlung des täglichen Bemessungsentgelts würden
365 Tage zugrunde gelegt, bei der Auszahlung aber nur 360 Tage.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 11.08.2005 wies die Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück. U. a. wurde darin ausgeführt, der Bemessungszeitraum vom
01.05.2004 bis 30.04.2005 umfasse 365 Kalendertage. Das im Bemessungszeitraum
erzielte Arbeitsentgelt lediglich durch 360 Tage zu dividieren, widerspreche den
gesetzlichen Vorgaben.
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Am 07.09.2005 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Aachen Klage erhoben. Er
hat die Auffassung vertreten, § 131 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch -
Arbeitsförderung - (SGB III) sei in Verbindung mit § 339 SGB III in der Weise
auszulegen, dass bei der Ermittlung des Bemessungsentgelts das beitragspflichtige
Entgelt des Bemessungszeitraums bei der Jahresberechnung gemäß § 130 Abs. 1 Satz
2 SGB III durch 360 Kalendertage zu dividieren sei. Dann ergäbe sich in seinem Fall ein
tägliches Bemessungsentgelt in Höhe von 174,13 EUR.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 06.05.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11.08.2005 zu verurteilen, ihm ab 01.05.2005
Arbeitslosengeld nach einem Bemessungsentgelt von 174,13 EUR zu gewähren.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat auf § 339 SGB III verwiesen und die Auffassung vertreten, dass die Berechnung
der Höhe des Alg nach den gesetzlichen Vorgaben erfolgt sei.
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Mit Urteil vom 21.09.2006 hat das SG die Klage abgewiesen, weil der Kläger ab
01.05.2005 keinen Anspruch auf höheres Alg habe. Zur weiteren Begründung hat es
wie folgt ausgeführt:
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"Das Arbeitslosengeld beträgt gemäß § 129 Nr. 2 SGB III für Arbeitslose, die - wie der
Kläger - kein Kind im Sinne des § 33 Abs. , 3 - 5 des Einkommensgesetzes haben, 60 %
des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt
ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt).
Leistungsentgelt ist gemäß § 133 Abs. 1 Satz 1 SGB III in der ab 01.01.2005 geltenden
Fassung das um pauschalierte Abzüge verminderte Bemessungsentgelt. Diese Abzüge
sind eine Sozialversicherungspauschale in Höhe von 21 % des Bemessungsentgelts,
die Lohnsteuer nach der Lohnsteuertabelle, die sich nach dem vom Bundesministerium
der Finanzen aufgrund des § 51 Abs. 4 Nr. 1 a des Einkommensteuergesetzes bekannt
gegebenen Programmablaufplan bei Berücksichtigung der Vorsorgepauschale nach §
10 c Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in dem Jahr, in dem der Anspruch
entstanden ist, ergibt und der Solidaritätszuschlag (§ 133 Abs. 1 Satz 2 SGB III). Das
Bemessungsentgelt, aus dem sich das Leistungsentgelt errechnet, ist gemäß § 131 Abs.
1 Satz 1 SGB III das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige
Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat. Letzterer umfasst
die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis
abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen
Beschäftigungen im Bemessungsrahmen (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGB III) und dieser
wiederum ein Jahr (§ 130 Abs. 1 Satz 2 SGB III). Infolge dieser tagesgenauen
Berechnung ist die Leistungsentgelt-Verordnung entbehrlich geworden (vgl. BT-
Drucksache 15/1515 Seite 85 zu § 131 Abs. 1). Der Bemessungsrahmen umfasst
vorliegend den Zeitraum vom 01.05.2004 bis 30.04.2005. In diesem Zeitraum erzielte
der Kläger unstreitig ein versicherungspflichtiges Arbeitsentgelt von 62.686,84 EUR.
Teilt man dieses Arbeitsentgelt durch 365 Kalendertage, ergibt sich das von der
Beklagten zu Grunde gelegte tägliche Bemessungsentgelt von 171,74 EUR.
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Entgegen der Auffassung des Klägers folgt aus § 134 Satz 2 SGB III, wonach der Monat
mit 30 Tagen anzusetzen ist, sofern für einen vollen Kalendermonat Arbeitslosengeld zu
zahlen ist bzw. aus der Bestimmung des § 339 Satz 1 SGB III, der für die Berechnung
von Leistungen die Berechnung eines Monats mit 30 Tagen vorsieht, nicht, dass für die
Umrechnung des täglichen Bemessungsentgelts ein entsprechender 30-Tage-Ansatz
heranzuziehen ist. Abgesehen davon, dass diese Regelungen sich ihrem Wortlaut nach
nur auf den Zahlungsmodus bzw. die Leistungsseite beziehen und auch keine Definition
des Jahres enthalten, führte diese Berechnung zu einer nicht gerechtfertigten
Ungleichbehandlung von Leistungsempfängern, deren versicherungspflichtiges Entgelt
monatlich abgerechnet worden ist, gegenüber solchen, bei denen kürzere
Abrechnungszeiträume im Bemessungsrahmen angefallen sind. Bei letzteren entstünde
wegen der Notwendigkeit der Berücksichtigung der tatsächlich abgerechneten Tage
regelmäßig ein höherer Divisor, so dass sich ihr Bemessungsentgelt gegenüber der
ersten Gruppe verringerte. Hierfür fehlt jedoch ein Rechtfertigungsgrund, da auch die
erste Gruppe ihr versicherungspflichtiges Entgelt nicht für einen Zeitraum von 360
Tagen bezogen hat (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.04.2006 - L 19 AL
161/05). Unter Berücksichtigung des zutreffend ermittelten täglichen
Bemessungsentgelts von 171,74 EUR errechnet sich unter Beachtung der nach § 133
Abs. 1 Satz 2 SGB III maßgeblichen Abzüge ein tägliches Arbeitsentgelt von 62,84
EUR."
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Gegen das ihm am 24.10.2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16.11.2006 Berufung
eingelegt. Zur Begründung wiederholt er sein erstinstanzliches Vorbringen. Er ist zudem
der Ansicht, die Rechtsanwendung zu Lasten des Klägers, dass bei der Berechnung
des Alg der kalendertägliche Betrag mit 30 Kalendertagen, d. h. jährlich mit 360 Tagen
multipliziert werde, bei der Berechnung des Bemessungsentgelts jedoch 365
Kalendertage zugrunde gelegt würden, sei im Lichte des grundgesetzlich garantierten
Eigentumsrechts nicht gerechtfertigt. Eine Verwaltungsvereinfachung reiche zur
Rechtfertigung des Eingriffs in Eigentumsrechte nicht aus.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 21.09.2006 zu ändern und nach dem
erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das SG-Urteil für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte verwiesen. Auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Leistungsakte der
Beklagten, der ebenfalls Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, wird
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die auf Verurteilung der Beklagten zur Gewährung höheren Alg unter Berücksichtigung
eines höheren täglichen Bemessungsentgelts gerichtete Berufung ist gemäß § 144 Abs.
1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, weil höheres Alg für 960 Tage und damit
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für mehr als 1 Jahr im Streit ist. Die gleichwohl erfolgte Zulassung durch das SG ist
unbeachtlich.
Die Berufung ist aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil
die Beklagte bei der Berechnung des täglichen Leistungssatzes zu Recht das tägliche
Bemessungsentgelt in Höhe von 171,74 EUR zugrunde gelegt hat. Der Kläger hat
keinen Anspruch auf höheres Alg unter Berücksichtigung eines täglichen
Bemessungsentgelts von 174,13 EUR.
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Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe des
erstinstanzlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).
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Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen sei zunächst lediglich ergänzt, dass der vom
Kläger gewollten Auslegung des § 131 Abs. 1 Satz 1 SGB III i.V.m. § 339 SGB III der
klare Wortlaut des § 131 Abs. 1 Satz 1 SGB III entgegensteht, wonach
Bemessungsentgelt das durchschnittlich "auf den Tag entfallende" beitragspflichtige
Arbeitsentgelt ist. Auch der Zusammenhang mit § 130 Abs. 1 SGB III verdeutlicht, dass
das Normaljahr mit 365 Tagen (im Schaltjahr mit 366 Tagen) gemeint ist, weil ansonsten
entsprechend den Vorschriften des § 134 Satz 2 SGB III und § 339 SGB III, in denen
ausdrücklich bestimmt wird, dass der Monat 30 Tagen entspricht, in § 130 Abs. 1 Satz 2
SGB III in gleicher Weise hätte klargestellt werden müssen, dass der
Bemessungsrahmen statt einem Jahr nur 360 Tage umfasst. Deshalb lassen § 134 Satz
2 SGB III und § 339 SGB III gerade nicht die Auslegung zu, dass der
Bemessungsrahmen gemäß § 130 Abs. 1 Satz 2 SGB III und vorliegend auch der
Bemessungszeitraum nach Satz 1 dieser Vorschrift lediglich 360 Tage umfasst.
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Soweit der Kläger des Weiteren "diese Rechtsanwendung ... im Lichte des
grundgesetzlich garantierten Eigentumsrechts" für nicht gerechtfertigt hält, er im
Ergebnis also seine Auslegung allein für verfassungskonform hält, ist ihm schon
deshalb nicht zu folgen, weil - wie dargelegt - eine solche Auslegung nicht möglich ist.
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Im Übrigen vermag der Senat eine Verfassungswidrigkeit der maßgeblichen
gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die grundgesetzlich geschützte
Eigentumsgarantie des Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht zu erkennen.
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Zwar unterfällt der Anspruch auf Alg, wenn sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt
sind, der Eigentumsgarantie des Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Die gesetzliche
Neuregelung mit der zum 01.01.2005 in Kraft getretenen Vorschriften über die
Neuregelung des Bemessungsrechts auf Grund des Dritten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 (BGB I 2848) verstößt aber nicht
gegen das grundgesetzlich geschützte Eigentumsrecht, weil sie durch das vom
Gesetzgeber angestrebte Ziel gerechtfertigt seid. Bezweckt war eine durchgreifende
Vereinfachung des Leistungsrechts als Teil des Reformvorhabens mit dem Ziel, die
Bundesagentur zu "dem" modernen Dienstleister am Arbeitsmarkt zu machen (BT-
Drucks. 15/1515 Seite 71). Das Leistungsrecht sollte mit Blick auf eine unbürokratische
Anwendung grundlegend vereinfacht und damit transparenter gestaltet werden. Dadurch
sollte gleichzeitig mehr Personal für die Aufgaben der Förderung der Arbeitsaufnahme
und Verbesserung der Dienstleistungen für Arbeitgeber frei werden. Das bisherige
Leistungsrecht hatte sich zu einem so komplexen Regelungssystem entwickelt, dass die
Entscheidung über Bewilligung und Umfang des Alg erheblichen Informationsbedarf bei
den Betroffenen auslöste und einen hohen Personal-, Sach- und Zeitaufwand der
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Arbeitsverwaltung zur Folge hatte (BT-Drucks. a.a.O., Seite 73). Der Gesetzgeber war
sich dabei bewusst, dass sich die vorgesehenen Neuregelungen im Einzelfall zu
Gunsten, aber auch zu Ungunsten der Betroffenen auswirken konnten, ohne dass
jedoch das Leistungsniveau insgesamt beeinträchtigt werden sollte;
Leistungseinschränkungen der Alg-Bezieher waren nicht das Ziel (BT-Drucks. a.a.O.).
Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und der
Bedeutung einer funktionierenden Arbeitsvermittlung und -Leistungsverwaltung handelt
es sich folglich um wichtige Ziele des Gemeinwohls. Die Umstellung auf ein tägliches
Bemessungsentgelt (§ 131 SGB III n.F.) bei gleichzeitiger Reduzierung bzw.
Pauschalierung der Abzüge (§ 133 SGB III n.F.) waren geeignete Mittel zur
Verwirklichung dieser Ziele, weil sie den Erlass einer jährlichen Verordnung über die
Leistungsentgelte entbehrlich machte (vgl. BT-Drucks. a.a.O. Seite 85 zu § 131 Abs. 1),
den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Einbeziehung der Kirchensteuer
(Beschluss vom 23.03.1994 - 1 BvL 8/85 = SozR 3 - 4100 § 111 Nr. 6) Rechnung trugen
und die Abzugspositionen insgesamt überschaubarer und für die Betroffenen
verständlicher machten (vgl. LSG NRW, Urteil vom 06.04.2006 - L 19 AL 161/05 -; auch
BSG, Urteil vom 08.02.2007 - B 7a AL 38/07 - zur Herabsetzung des Alg zum
01.01.2005).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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Für die Zulassung der Revision bestand kein Anlass, weil die Voraussetzungen nach §
160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
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