Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.05.2010

LSG NRW (aufschiebende wirkung, wichtiger grund, überwiegendes öffentliches interesse, überwiegendes interesse, öffentliches interesse, heizung, wirkung, sgg, interesse, antrag)

Landessozialgericht NRW, L 6 AS 397/10 B ER
Datum:
27.05.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 6 AS 397/10 B ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 14 (14,53) AS 481/09 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 03.02.2010 wird zurückgewiesen. Kosten
haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe:
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I.
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Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die
Rechtmäßigkeit eines Sanktionsbescheides nach § 31 des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB II).
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Die 1988 geborene Antragstellerin, die mit ihrem Lebensgefährten eine
Bedarfsgemeinschaft (BG) bildet, erhält von der Antragsgegnerin Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts. Mit Bescheid vom 30.06.2009 wurden der BG für die
Zeit vom 01.10.2009 bis 31.01.2010 Leistungen in Höhe von monatlich 719,00 Euro
bewilligt.
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Im August 2009 schloss die Antragstellerin mit der Antragsgegnerin eine
Eingliederungsvereinbarung, u.a. über ihre Bemühungen zur Eingliederung in Arbeit,
konkret "Mitwirkung und Teilnahme im Bewerbercenter des Bildungsträgers J in M vom
17.08. bis 28.08.2009". Unter der Überschrift "Rechtsfolgenbelehrung" wurde die
Antragstellerin darauf hingewiesen, dass das Gesetz bei pflichtwidrigem Verhalten
unterschiedliche Leistungskürzungen vorsehe. Eine Verletzung der Grundpflichten liege
(u.a.) vor, wenn die Antragstellerin eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in
Arbeit abbreche. Das Arbeitslosengeld II werde im Fall einer Verletzung der
Grundpflichten auf die Leistungen nach § 22 SGB II (Leistungen für Unterkunft und
Heizung) beschränkt, da die Antragstellerin das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht das
25. Lebensjahr vollendet habe. Absenkung und Wegfall dauerten drei Monate und
begännen mit dem Kalendermonat nach Zugang des entsprechenden Bescheides über
die Sanktionen. Bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 15. Lebensjahr, jedoch
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noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, könnten Absenkung und Wegfall der
Regelleistung auf sechs Wochen verkürzt werden.
Die Antragstellerin nahm an der vereinbarten Maßnahme nicht teil. Auf Nachfrage
erklärte sie schriftlich, dass sie an der Teilnahme deshalb gehindert gewesen sei, weil
ihr Lebengefährte habe arbeiten müssen und daher nicht zuhause gewesen sei. Sie
selbst habe keine Gelegenheit gehabt, zur Arbeitsstätte zu kommen, weil ihr Geld nicht
reiche, um den Bus zu benutzen. Außerdem habe sie wieder oder immer noch Probleme
mit ihrer Zuckererkrankung, die ärztlich behandelt werde. Sie habe auch langsam keine
Lust mehr, solche Maßnahmen mitzumachen, weil sie sowieso wisse, dass sie ohne
Ausbildungsplatz nie Arbeit bekommen werde. Ihre Nerven seien am Ende und sie
wolle und könne nicht mehr.
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Mit Bescheid vom 05.11.2009 beschränkte die Antragsgegnerin das der Antragstellerin
zu gewährende Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01.12.2009 bis 28.02.2010 auf die
angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Zur Begründung führte sie aus, dass
die Antragstellerin nicht an der vereinbarten Maßnahme teilgenommen habe und die
von ihr hierfür benannten Gründe nicht als wichtig im Sinne des § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II
anerkannt werden könnten. Eine Verkürzung der Absenkung auf lediglich 6 Wochen sei
nach Abwägung der vorliegenden Umstände mit den Interessen der Allgemeinheit nicht
gerechtfertigt, weil zunächst die Bereitschaft zur Verhaltensänderung vorhanden sein
müsse.
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Die Antragstellerin legte am 12.11.2009 Widerspruch ein und verwies zur Begründung
erneut darauf, dass sie nicht die Möglichkeit gehabt habe, zum Maßnahmeort zu
gelangen. Sie verfüge weder über einen Führerschein noch über ein Fahrrad und habe
sich öffentliche Verkehrsmittel wegen der geringen Höhe des Leistungssatzes nicht
leisten können. Ihr Lebensgefährte, der über einen PKW verfüge, sei in dieser Zeit
nachweislich krank gewesen, so dass er sie nicht habe fahren können. Der Fußweg
betrage mindestens eine Stunde und sei ihr auf Grund ihrer körperlichen Konstitution
nicht zumutbar. Im Übrigen sei es ihr an diesem Tag auf Grund der Diabeteserkrankung
sehr schlecht gegangen.
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Am 07.12.2009 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Dortmund (SG) den Antrag
gestellt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr 80 % der Regelleistungen nach dem
SGB II für den Zeitraum ab dem 01.12.2009 zu bewilligen. Auf Hinweis des SG hat sie
den Antrag später umgestellt und beantragt, die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs vom 10.11.2009 gegen den Bescheid vom 05.11.2009 anzuordnen. Zur
Begründung hat sie sich auf ihr bisheriges Vorbringen berufen und ergänzend
ausgeführt, die Antragsgegnerin habe entgegen den Ausführungen im
Sanktionsbescheid noch nicht einmal die Kosten für Unterkunft und Heizung gezahlt.
Sie sei bedürftig, da sie an einer Zuckerkrankheit leide und ihre
Lebensunterhaltungskosten nicht anderweitig sicherstellen könne. Eine von ihr
ausgeübte Nebentätigkeit als Zeitungsbotin sei auf lediglich 100 Euro monatlich
reduziert worden.
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Auf den Hinweis der Antragsgegnerin, dass der Lebensgefährte der Antragstellerin zum
Einen für die streitige Zeit selbst eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht,
zum Anderen trotz dieser Arbeitsunfähigkeit ausweislich einer Bescheinigung seines
Arbeitgebers aber täglich gearbeitet habe, hat die Antragstellerin entgegnet, dass sie
das Austragen der Zeitungen für ihren Lebensgefährten übernommen habe. Falsch sei
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auch die Behauptung, sie habe erklärt, keine Lust mehr zu haben, an Maßnahmen
teilzunehmen.
Das SG hat den Eilantrag mit Beschluss vom 03.02.2010 abgelehnt. Die Kammer gehe
mit der für den vorläufigen Rechtsschutz erforderlichen Sicherheit davon aus, dass die
Beschränkung der Leistungen der Antragstellerin auf die Leistungen für Unterkunft und
Heizung zu Recht erfolgt sei. Eingriffsgrundlage sei entgegen dem Bescheid nicht § 31
Abs. 1 Nr. 1b) SGB II, sondern die speziellere Regelung des § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1c
SGB II i.V.m. § 31 Abs. 5 SGB II. Danach seien die Leistungen bei erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen, die das 15., jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hätten, auf
die Leistungen nach § 22 SGB II (Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung)
beschränkt, wenn sich der Hilfebedürftige trotz Belehrung über die Rechtsfolgen
geweigert habe, eine in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarte Maßnahme
aufzunehmen oder fortzuführen, sofern hierfür kein wichtiger Grund vorliege. Diese
Voraussetzungen seien gegeben. Die Antragstellerin habe eine
Eingliederungsvereinbarung geschlossen, in der sie sich verpflichtet habe, an der
Maßnahme beim Bildungsträger J teilzunehmen. In der Eingliederungsvereinbarung sei
sie über die konkreten Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen belehrt worden. Sie habe
an der Maßnahme nicht teilgenommen und sich daher geweigert, sie aufzunehmen. Ein
wichtiger Grund für ihre Pflichtverletzung sei nicht ersichtlich. Die Kammer könne
insbesondere dem Vortrag der Antragstellerin, sie habe den Maßnahmeort nicht
erreichen können, nichts abgewinnen. Die Angaben der Antragstellerin seien in sich
widersprüchlich, wenn sie zunächst angebe, ihr Lebensgefährte habe sie nicht fahren
können, weil er habe arbeiten müssen, und später vortrage, er sei krank gewesen.
Ebenfalls unglaubhaft sei ihre Angabe, ihr selbst sei es am Tag der Maßnahme schlecht
gegangen, im Hinblick auf die spätere Angabe, sie habe die Arbeit ihres
Lebensgefährten (Zeitungsaustragen) für diesen übernommen. Auch ihre Behauptung,
sie habe nicht über den nötigen Geldbetrag für öffentliche Verkehrsmittel verfügt,
erscheine im Hinblick darauf, dass der Busfahrschein nach Auskunft des
Nahverkehrsunternehmens 1,50 Euro koste, nicht plausibel. Dies gelte um so mehr als
der Maßnahmeträger die Fahrtkosten erstattet hätte. Die Antragsgegnerin habe ferner
das ihr durch § 31 Abs. 6 S. 3 SGB II eingeräumte Ermessen hinsichtlich des
Absenkungszeitraums ermessensfehlerfrei ausgeübt.
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Gegen den ihr am 10.02.2010 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am
08.03.2010 Beschwerde eingelegt und zunächst geltend gemacht, die Antragsgegnerin
habe nicht nur die Regelleistung sondern sämtliche Leistungen einbehalten. Im Übrigen
hat sie erneut darauf hingewiesen, dass sie trotz Bemühungen die Teilnahme an der
Eingliederungsmaßnahme nicht habe sicherstellen können. Sie habe auch nicht die
Unwahrheit gesagt, sondern richtigerweise ausgeführt, dass ihr Lebensgefährte am Tag
der Teilnahme der Maßnahme nicht zu Hause gewesen sei, da er habe arbeiten
müssen. Er habe trotz seiner Erkrankung aus Angst, seinen Job als Zeitungsausträger
zu verlieren, die Zeitungen ausgetragen. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass die
Antragstellerin nicht gewusst habe, dass der Maßnahmeträger die Fahrtkosten erstatten
werde.
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Die Antragsgegnerin hat mitgeteilt, dass lediglich der Regelleistungsbetrag gekürzt und
Kosten der Unterkunft und Heizung vollständig ausgezahlt worden seien. Die
Antragstellerin hat ihre gegenteilige Behauptung trotz Aufforderung und Erinnerung
durch den Senat nicht belegt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Antragsgegnerin Bezug genommen. Dieser
ist Gegenstand der Beratung gewesen.
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II.
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Die Beschwerde ist zulässig aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid vom
05.11.2009 abgelehnt.
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Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der
Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage
keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
anordnen. Ein solcher Antrag ist begründet, wenn im Rahmen einer
Interessenabwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an der
Herstellung der aufschiebenden Wirkung und dem, durch die Antragsgegnerin
vertretenen Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung das private
Interesse überwiegt. Bei der Interessenabwägung ist insbesondere die nach vorläufiger
Prüfung der Rechtslage zu bewertende Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der
Hauptsache zu berücksichtigen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar
zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 86 b Rn 12, 12 e; Berlit, info also 2005, S. 3, 6; Krodel, Das
sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Aufl. 2008, S. 92). Dabei ist zu beachten, dass der
Gesetzgeber grundsätzlich die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Davon
abzuweichen besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den
Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme sein (Keller a.a.O.,
§ 86b Rn 12 c m.w.N.). Eine solche Ausnahme liegt etwa vor, wenn der Verwaltungsakt
offensichtlich rechtswidrig ist und dadurch der Betroffene in seinen subjektiven Rechten
verletzt wird, da in diesen Fällen ein überwiegendes öffentliches Interesse an der
Vollziehung nicht erkennbar ist. (Keller, a.a.O., § 86b Rn 12 f).
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In Anwendung dieser Kriterien kann die Antragstellerin, deren Widerspruch gegen den
Sanktionsbescheid nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II keine
aufschiebende Wirkung hat, mit ihrem Begehren nicht durchdringen. Denn ihr
Aussetzungsinteresse überwiegt deshalb nicht das Vollzugsinteresse der
Antragsgegnerin, weil bei vorläufiger Prüfung mehr für als gegen die Rechtmäßigkeit
des Sanktionsbescheides spricht. Auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts
in dem angefochtenen Beschluss vom 03.02.2010 wird zur Vermeidung von
Wiederholungen Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 S. 2 SGG). Soweit die Antragstellerin
- von der Antragsgegnerin bestritten - mit der Beschwerdeschrift behauptet, es seien ihr
auch die Kosten der Unterkunft und Heizung nicht ausgezahlt worden, hat sie dies trotz
Aufforderung und Erinnerung durch das Gericht nicht belegt und somit nicht glaubhaft
gemacht. Die von der Antragstellerin wechselhaft und im Einzelnen höchst
widersprüchlich vorgebrachten Gründe, weshalb sie nicht habe zur Maßnahme
gelangen können, erscheinen insbesondere im Hinblick darauf als zweckgerichtete
Schutzbehauptung, dass sie zeitnah zur Maßnahme mit Schreiben vom 19.08.2009
ausdrücklich mitgeteilt hat, keine Lust mehr zu solchen Maßnahmen zu haben bzw.
nicht mehr zu wollen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 S.
1 SGG.
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Die Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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