Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.11.2008

LSG NRW: stationäre behandlung, silikose, grenzwert, berufskrankheit, operation, tod, hinterbliebenenrente, unfallversicherung, kategorie, obduktion

Landessozialgericht NRW, L 2 KN 50/08 U
Datum:
13.11.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 2 KN 50/08 U
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 26 KN 26/07 U
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Duisburg vom 09.01.2008 wird zurückgewiesen. Kosten
haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Witwenrente nach dem verstorbenen
Versicherten G I infolge einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 4111 der Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).
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Die Klägerin ist die Witwe des 1932 geborenen und am 01.07.2004 verstorbenen
Versich-erten. Der Versicherte war ab 1947 als Maschinenschlosser und ab September
1950 im Untertage-Betrieb eingesetzt. Ab 1957 war der Versicherte in einem
Kohlekraftwerk vor allem mit der Reinigung von Kesseln beschäftigt. Seit 1984 bezog
der Versicherte Anpassungsgeld und ab 1992 Knappschaftsruhegeld. Mit Bescheid vom
19.07.1993 wurde bei dem Versicherten eine Silikose als Berufskrankheit ohne
Anspruch auf Verletztenrente anerkannt. Klageverfahren im Hinblick auf die Gewährung
einer Verletztenrente blieben ohne Erfolg. Die Anzeige einer BK Nr. 4111 erfolgte zu
Lebzeiten nicht.
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Während eines stationären Aufenthaltes wegen einer koronaren Herzkrankheit verstarb
der Versicherte an einem Multiorganversagen nach einer Bypass-Operation.
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Mit Schreiben vom 31.01.2006 teilte die Klägerin mit, dass ihr Ehemann unter
fürchterlichen Hustenanfällen bis hin zu Erstickungsanfällen und Bewußtlosigkeit
gelitten habe. Ein solcher Hustenanfall habe die bei der Bypass-Operation entstandene
Wunde wieder auseinandergerissen. Die Beklagte solle die Feinstaubjahre bezüglich
einer BK Nr. 4111 ermitteln und ihr Hinterbliebenenrente gewähren.
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Der Präventionsbereich Bochum der Beklagten berechnete die bei dem Versicherten
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angefallene kumulative Feinstaubdosis mit insgesamt 72,61 Feinstaubjahren. Daraufhin
lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus Anlass der BK Nr. 4111 mit
Bescheid vom 13.11.2006 ab.
Die Klägerin legte Widerspruch ein. Sie trug vor, der Versicherte sei während seiner
Tätigkeit im Steinkohlenbergbau unter Tage einer ganz erheblichen Feinstaubdosis
ausgesetzt gewesen. Es werde zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass es nur "in der
Regel" auf 100 Feinstaubjahre ankomme. Mithin könne gemäß der Kausalitätsnorm der
gesetzlichen Unfallversicherung, wonach eine wesentliche Mitursächlichkeit
vollkommen ausreichend sei, der Versicherungsschutz bereits aus einer Feinstaubdosis
von 72,61 Feinstaubjahren abgeleitet werden. Dies folge aus der zwingenden
Auslegungsvorschrift des § 2 Abs. 1 Er-stes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Hier sei
außerdem zu berücksichtigen, dass der Versicherte zugleich an einer bereits zu
Lebzeiten anerkannten Silikose vom Streugrad pq 2/2 ILO 1980 gelitten habe.
Möglicherweise habe auch eine BK Nr. 4302 bestanden. Mithin hätten drei
Krankheitsbilder zusammengewirkt. Außerdem habe man bei der Obduktion ein
Karzinom festgestellt, was eine BK Nr. 4112 nahelege. Da der Versicherte in der
Frühzeit des Bergbaus belastet worden sei, werde überdies auch eine höhere Anzahl
der Feinstaubjahre als bisher errechnet geltend gemacht. So sei nicht von 220, sondern
von 260 Arbeitsschichten pro Jahr auszugehen.
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Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.08.2007 zurückgewiesen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für einen
Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen nach § 63 SGB VII seien nicht erfüllt, weil bei
dem Versicherten kein Versicherungsfall einer BK Nr. 4111 vorgelegen habe. Die
Feinstaubjahre seien nach den Vorgaben einer allgemein anerkannten Studie zur
Staubbelastung der Bergleute im Steinkohlenbergbau berechnet worden. Die in dieser
Studie anerkannten Staubkonzentrationswerte seien seit Mitte der 1950er Jahre
vorzugsweise in Abbaurevieren gemessen worden. Es handele sich somit um
Arbeitsplätze im untertägigen Steinkohlenbergbau, an denen in der Regel mit höchsten
Staubbelastungen zu rechnen gewesen sei. Die zugrunde gelegte Anzahl der
verfahrenen Schichten, die bei der Bestimmung der Gesamtdosis eine Rolle spiele,
entspreche der für Bergleute im Ruhrgebiet typischen durchschnittlichen Schichtenzahl,
wobei man von der jeweiligen Regelarbeitszeit unter Berücksichtigung von
Überschichten, Urlaubs- und Krankheitstagen ausgegangen sei. Mit 72,61
Feinstaubjahren handele es sich um eine bedeutsame Abweichung von dem Grenzwert
von 100, welche den Versicherungsfall ausschließe.
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Mit ihrer Klage hat die Klägerin vorgetragen, es imponierten die beruflichen Belastungen
im Sinne der BK Nr. 4111, denn 72,61 Feinstaubjahre seien eine ganz erhebliche
Belastung. Im Rahmen des Wortlauts der BKV, wonach "in der Regel" auf 100
Feinstaubjahre abgestellt werde, genügten auch 72,61 Feinstaubjahre, wenn man die
Kausalitätsnorm der gesetzlichen Unfallversicherung berücksichtige. Ferner sei es nicht
hinnehmbar, dass einer gerichtlichen Entscheidung ein Gutachten zugrunde gelegt
werde, welches die Beamten des beklagten Versicherungsträgers erstellt hätten.
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Die Klägerin hat nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß beantragt,
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die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 13.11.2006 und des
Widerspruchsbescheides vom 08.08.2007 zu verurteilen, bei dem Versicherten G I eine
Berufskrankheit nach der Nr. 4111 der Anlage zur BKV festzustellen und der Klägerin
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aus Anlass dieses Versicherungsfalls Hinterbliebenenleistungen zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte hat die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig gehalten.
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Mit Gerichtsbescheid vom 09.01.2008 hat das Sozialgericht Duisburg die Klage
abgewie-sen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, die Beklagte
habe es zu Recht abgelehnt, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen zu gewähren. Es
sei nicht hin-reichend wahrscheinlich, dass eine BK Nr. 4111 den Tod des Versicherten
zumindest wesentlich mitverursacht habe. Das Multiorganversagen, dem der
Versicherte erlegen sei, Iasse sich einer BK Nr. 4111 der Berufskrankheitenverordnung
nicht zuordnen. Dies folge daraus, dass ein Versicherungsfall nach der BK Nr. 4111 bei
dem Versicherten zu keinem Zeitpunkt eingetreten gewesen sei. Denn der Versicherte
sei bei seiner Tätigkeit im Steinkohlenbergbau unter Tage lediglich einer kumulativen
Feinstaubdosis von 72,61 Feinstaubjahren ausgesetzt gewesen. Das Vorbringen der
Klägerin sei nicht geeignet, die Berechnung der kumulativen Feinstaubdosis zu
widerlegen. Dies gelte insbesondere für den Einwand der Klägerin, dass der
Versicherte in der Zeit von 1950 bis 1956 nicht nur 220, sondern 260 Schichten pro Jahr
verfahren habe. Wie sich aus der Multiplikation der im Berechnungsvordruck
vorgesehen 220 jährlichen Arbeitsschichten mit dem Faktor 1,18 ergebe, habe die
Beklagte den gesamten Zeitraum vom 13.09.1950 bis zum 31.12.1956 mit 260
Arbeitsschichten pro Jahr veranschlagt. Eine deutlich geringere kumulative
Feinstaubdosis als 100 Feinstaubjahre sei nicht geeignet, einen wesentlichen
ursächlichen Beitrag zur beim Versicherten aufgetretenen sehr komplexen
Lungenerkrankung darzustellen, und bereits mit dem Wortlaut der Berufskrankheit nicht
vereinbar.
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Gegen den am 01.02.2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am
03.03.2008 Berufung eingelegt. Zur Begründung der Berufung trägt sie im Wesentlichen
vor, auch 72,61 Feinstaubjahre lägen noch in der entschädigungspflichtigen Bandbreite
der BK Nr. 4111. Zudem sei außer Acht gelassen worden, dass bei dem Versicherten
eine Silikose pq 2/2 vorgelegen habe.
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Die Klägerin beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 09.01.2008 zu ändern und die
Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.11.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 08.08.2007 zu verurteilen der Klägerin in Folge einer
Berufskrankheit nach Nr. 4111 der Anlage zur BKV beim Versicherten G I
Hinterbliebenenleistungen zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie führt aus, die Entschädigungsvoraussetzungen für eine BK Nr. 4111 der
Berufskrankheitenverordnung seien nicht gegeben. Zu Recht sei die Klage abgewiesen
worden.
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Der Senat hat die Verwaltungsakten bezüglich der BK Nr. 4101 beigezogen. Im
Rahmen der seit 1993 als Versicherungsfall anerkannten Silikose ist der Versicherte
mehrfach untersucht und begutachtet worden. In einem Gutachten von Prof. Dr. X aus
Mai 1994 ist ausgeführt worden, dass der Versicherte an einer Silikose der Kategorie
p/q 2/2 em (pi, co und od (Aortenskleorse) leide. Bei der eingehenden
Lungenfunktionsprüfung habe kein Hinweis auf eine restriktive oder obstruktive
Ventilationsstörungen vorgelegen. Das Residual-Volumen sei nicht vergrößert; lediglich
eine leichte Störung des respiratorischen Gasaustausches in Ruhe sei vorhanden. Dies
sei auf die kardiozirkulatorischen Faktoren zurückzuführen, weil der Versicherte an einer
ausgeprägten koronaren Sklerose gelitten habe.
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Mehrfache weitere Begutachtungen innerhalb von Klageverfahren sind zum gleichen
Ergebnis gekommen. In der letzten gutachterlichen Stellungnahme zu Lebzeiten des
Versicherten von Dr. N, Internist, hat dieser unter Berücksichtigung von 7
Röntgenaufnahmen vom 19.09.2002 ausgeführt, bei der im Wesentlichen
röntgenkonstanten Silikose nach der Kategorie p/q 2/2 sei weiterhin nicht von einem
Leistungsfall auszugehen.
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Aus dem Bericht über die stationäre Behandlung ab 11.04.2004 bis zum Todeszeitpunkt
ist als Todesursache ein Multiorganversagen bei septisch-toxischem Schock aufgrund
einer Mediastinitis infolge einer Sternum-Infektion bei Zustand nach aortokoronarer
Bypass-Operation angegeben worden.
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Zur Klärung der Todesursache ist eine Obduktion durch Prof. Dr. N1 erfolgt. Er hat
ausgeführt, bei dem Versicherten habe ein schwerwiegendes Herzleiden im
Vordergrund gestanden. Es seien zwei Herzinfarkte dokumentiert und vor Todeseintritt
sei eine Bypassoperation vorgenommen worden. Der Versicherte sei an einer
Komplikationen dieser Operation verstorben. An Lungenerkrankungen habe bei dem
Versicherten eine Lungenfibrose bestanden, die unabhängig von den
Staubablagerungen entstanden sei, ferner eine chronische Bronchitis mit
Lungenemphysem, eine Blutstauung in den Lungen und ein Drüsen-krebs in der
Lungenperipherie. Es sei jedoch zu Lebzeiten eine Überinterpretation der nur sehr
geringen Staublungenveränderungen vorgenommen worden. Des Weiteren hat die
Beklagte Prof. Dr. T, Pathologe, mit einem Gutachten zur Frage, welches Leiden den
Tod verursacht habe, beauftragt. Er hat als Todesursache ein septisches
Multiorganversagen infolge Infektionen der Wunde durch einen multiresistenten
Staphylokokkus angenommen. Eine Berufskrankheit habe nicht den Eintritt des Todes
um mindestens ein Jahr vorverlegt.
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Aus dem Verfahren betreffend die Gewährung einer Hinterbliebenenrente infolge einer
Silikose (S 26 Kn 19/07 Sozialgericht Duisburg) sind die dort eingeholten
pneumologischen Gutachten von Dr. T1 (vom 20.07.2006) und Dr. X1 (vom 08.02.2008)
beigezogen worden. Übereinstimmend haben die Sachverständigen ausgeführt, dass
der Tod wesentlich durch eine postoperativ aufgetretene, vermutlich auf mangelnde
Hygiene im Krankenhaus zurückzuführende Infektionen bedingt sei. Auch unter der
Annahme einer möglicherweise seit 1996 bestehenden chronischen obstruktiven
Bronchitis bzw. eines Lungenemphysems im Sinne einer BK Nr. 4111 sei die dadurch
ausgelöste Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht als so schwerwiegend einzustufen,
dass sie den Tod des Versicherten wesentlich mitverursacht haben könne.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht Duisburg hat die Klage zu
Recht abgewiesen. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß §
54 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Die Bescheide der Beklagten sind
rechtmäßig. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Gewährung einer
Hinterbliebenenrente zu. Insoweit bezieht sich der Senat auf die zutreffenden Gründe
der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153 SGG).
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Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Begriff "in der Regel 100
Feinstaubjahre" in der Bezeichnung der streitigen BK Nr. 4111 weiterhin maßgeblich ist.
Die Bekanntmachung vom 01.10.2006 (Bundesarbeitsblatt 12-2006, 149) hat daran
nichts geändert. Diese Bekanntmachung hat nach ihrem Wortlaut letztlich zu einer
Privilegierung der Nie-Raucher dahin gehend geführt, dass für diese der Grenzwert nur
noch 90 Feinstaubjahre beträgt und unter Berücksichtigung eines 5 %igen
Konfidenzintervalls sich ein unterer Grenzwert von 86 Feinstaubjahren (genau wären es
wohl 85,5) ergibt. Es verbleibt danach bei einem Grenzwert von 100 Feinstaubjahren für
Raucher. Der untere Grenzwert für Raucher ist weiterhin ein solcher von 95
Feinstaubjahren, wie der Senat bereits entschieden hat (LSG NRW Urteil vom
13.05.2004, L 2 KN 95/03 U, Breithaupt 2004, 919). Dieser untere Grenzwert ist für den
Versicherten maßgeblich, da er zumindest nicht als Nie-Raucher angesehen werden
kann. Denn der Versicherte hat gegenüber dem Sachverständigen Dr. C in einem von
der Beklagten beigezogenen fachinternistischen Gutachten vom 03.12.1996 für das
Sozialgericht Duisburg angegeben, dass er seit 1989 Nichtraucher sei und vorher kaum
bzw. nicht geraucht zu haben. Mit den festgestellten 72,61 Feinstaubjahren erreichte der
Versicherte den unteren Grenzwert bei weitem nicht. Der Geschäftsbereich Prävention
der Beklagten hat - ausweislich der Verwaltungsakten - Dauer und Umfang der
Untertagetätigkeit des Versicherten ermittelt und im Einzelnen die Berechnung der
Feinstaubjahre dargelegt (Stellungnahme vom 18.10.2006). Eine inhaltliche
Auseinandersetzung mit dieser Stellungnahme lässt der Vortrag der Klägerin vermissen.
Anhaltspunkte dafür, dass die Feinstaubjahre unzutreffend errechnet worden sind, hat
der Senat indes nicht.
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Darüber hinaus schließen auch die beigezogenen medizinischen Unterlagen die
Annahme eines wesentlichen Todesursachenbeitrages durch eine BK Nr. 4111 aus.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
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Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Rechtssache keine
grundsätzliche Bedeutung hat.
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