Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.04.2000

LSG NRW: versicherungsträger, avg, wartezeit, willkürverbot, beendigung, rentenanspruch, erfüllung, beamtenverhältnis, staat, ausbildung

Landessozialgericht NRW, L 14 RA 59/98
Datum:
28.04.2000
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
14. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 14 RA 59/98
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 9 RA 49/98
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 4 RA 109/00 B
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Münster vom 11. November 1998 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Übertragung der für seinen Wehrdienst zur
Beklagten entrichteten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung auf das
beigeladene Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen hat.
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Der am ... geborene Kläger leistete in der Zeit vom 01.10.1987 bis 31.12.1988 seinen
gesetzlichen Wehrdienst und nahm in der Zeit vom 06.08.1990 bis 07.09.1990 an einer
Wehrübung teil. Für diese Zeiten wurden Pflichtbeiträge gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 8
Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) zur gesetzlichen Rentenversicherung
entrichtet.
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Seit dem 09.01.1997 ist der Kläger Pflichtmitglied bei dem beigeladenen
Versorgungswerk der Rechtsanwälte (Bescheid des Beigeladenen vom 25.03.1997).
Für den vom Kläger im Beamtenverhältnis auf Widerruf absolvierten Referendardienst
vom 04.10.1994 bis 14.10.1996 wurde er beim beigeladenen Versorgungswerk gemäß
§ 186 Abs. 1 Nr. 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI)
nachversichert (Bescheinigung des Beigeladenen über die Nachversicherung vom
30.07.1997).
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Am 05.05.1997 beantragte der Kläger die Überweisung der für seinen Wehrdienst und
die Wehrübung zur Beklagten entrichteten Beiträge an das beigeladene
Versorgungswerk der Rechtsanwälte. Mit Bescheid vom 12.09.1997 lehnte die Beklagte
den Antrag auf Übertragung der Pflichtbeiträge mit der Begründung ab, eine derartige
Übertragung sei gemäß § 31 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I)
gesetzlich nicht vorgesehen und daher nicht zulässig.
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Dagegen erhob der Kläger am 16.10.1997 Widerspruch, der von der Widerspruchsstelle
der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 06.04.1998 zurückgewiesen wurde.
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Zur Begründung der dagegen am 04.05.1998 erhobenen Klage hat der Kläger
insbesondere vorgetragen, der Anspruch auf Übertragung der Beiträge für den
Wehrdienst auf das beigeladene Versorgungswerk ergebe sich nach seiner Auffassung
aus der entsprechenden Anwendung der Regelungen über die Nachversicherung in §
186 Abs. 1 SGB VI. Bei verfassungskonformer Auslegung dieser Vorschrift
insbesondere im Hinblick auf den Gleichheitssatz und das Willkürverbot des Art. 3 Abs.
1 Grundgesetz (GG) ergebe sich die rechtliche Zulässigkeit der angestrebten
Übertragung der Pflichtbeiträge für den Wehrdienst. Im übrigen ergebe sich die
beanspruchte Übertragungsmöglichkeit nach seiner Auffassung unmittelbar aus
verfassungsrechtlichen Gründen, da der Wehrdienst auf staatlicher Dienstverpflichtung
und nicht auf freier Willensentscheidung beruht habe.
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Die Beklagte hat an ihren angefochtenen Bescheiden festgehalten.
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Das beigeladene Versorgungswerk hat sich der Auffassung der Beklagten
angeschlossen und im übrigen auf die nach seiner Auffassung bestehende Möglichkeit
der Erfüllung der Wartezeit durch freiwillige Beiträge verwiesen.
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Mit Gerichtsbescheid vom 11.11.1998 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und
zur Begründung i. w. ausgeführt, eine gesetzliche Grundlage für die beantragte
Beitragsübertragung sei nicht gegeben. Insbesondere sei entgegen der Auffassung des
Klägers eine solche Übertragungsmöglichkeit nicht in § 186 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB VI
vorgesehen. Nach dem klaren Wortlaut betreffe diese Regelung die Fallgestaltung der
Nachversicherung. Im vorliegenden Fall gehe es jedoch nicht um die Nachversicherung
von beitragsfreien Zeiten, sondern um die Übertragung von entrichteten Pflichtbeiträgen
gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 (richtig: Nr. 8) AVG auf ein berufsständisches Versorgungswerk.
Aufgrund der klaren gesetzlichen Regelung des § 186 Abs. 1 SGB VI sei für eine
Auslegung dieser gesetzlichen Vorschrift mit dem Ziel der Einbeziehung von
Pflichtbeiträgen kein Raum. Entgegen der Auffassung des Klägers ergebe sich eine
Notwendigkeit der beanspruchten Übertragungsmöglichkeit auch nicht unmittelbar aus
verfassungsrechtlichen Gründen.
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Gegen den am 13.11.1998 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 14.12.1998
(Montag) Berufung eingelegt, mit der er mit umfangreicher Begründung sein Begehren
weiter verfolgt. Insbesondere trägt er vor, die für den Wehrdienst zur
Angestelltenversicherung entrichteten Beiträge würden faktisch gegenstandslos
vorenthalten, da er nunmehr im Versorgungswerk versichert sei und die Wartezeit auch
nicht mehr erreichen könne. Nach seiner Auffassung ergebe sich der geltend gemachte
Anspruch auf Übertragung der Beiträge aus zumindest analoger Anwendung der
Regelungen in § 186 Abs. 1 SGB VI, jedenfalls aber aus verfassungsrechtlichen
Gründen. Diese seien
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- hinsichtlich der allgemeinen Wehrpflicht aus dem Übermaßverbot,
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- mit Blick auf die Einbehaltung von Pflichtbeiträgen bei gleichzeitiger Vorenthaltung
entsprechender Ansprüche und das Analogieverbot in § 31 SGB I aus dem
Willkürverbot,
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- dem Gebot angemessener Entschädigung,
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- insbesondere aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG sowie
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- aus dem Verbot der Sondersteuer herzuleiten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungsschrift vom 11.12.1998
verwiesen. Der Kläger regt an, die Sache gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem
Bundesverfassungsgericht vorzulegen.
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Der Kläger beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 11.11.1998 abzuändern und die
Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.09.1997 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 06.04.1998 zu verpflichten, die für die Zeit vom
01.10.1987 bis 31.12.1988 und vom 06.08.1990 bis 07.09.1990 gezahlten
Pflichtbeiträge an den Beigeladenen zu übertragen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält - ebenso wie der in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beigeladene -
den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und den der von der Beklagten und dem Beigeladenen jeweils
beigezogenen Verwaltungsakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte die Sache verhandeln und entscheiden, obwohl der Beigeladene in
der mündlichen Verhandlung nicht vertreten gewesen ist. In der dem Beigeladenen
ordnungsgemäß zugestellten Terminsbenachrichtigung (Empfangsbekenntnis vom
03.04.2000) ist nämlich auf diese zulässige Verfahrensweise hingewiesen worden.
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Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Der Kläger hat auch nach
Auffassung des Senats keinen Anspruch auf Übertragung der für seinen Wehrdienst zur
Beklagten entrichteten Pflichtbeiträge auf das beigeladene Versorgungswerk, weil dies
gesetzlich nicht vorgesehen ist.
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Die vom Kläger begehrte Anwendung von § 186 Abs. 1 SGB VI ist nicht möglich. Eine
unmittelbare Anwendung dieser Vorschrift bzw. der früheren Vorschrift in § 124 Abs. 6 a
und 6 b AVG scheidet aus, weil es sich bei der Versicherung für den Wehrdienst
eindeutig um keine Nachversicherung im Sinne dieser Vorschriften handelt, sondern um
die Entrichtung von Pflichtbeiträgen gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 8 AVG.
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Eine analoge Anwendung von § 186 Abs. 1 SGB VI scheidet unabhängig davon, dass
Analogie bei Spezialregelungen ohnehin allenfalls sehr eingeschränkt möglich ist,
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deshalb aus, weil bei der Versicherung des Wehrdienstes und den Fällen der
Nachversicherung eine Vergleichbarkeit nicht vorliegt. Dies ergibt sich zunächst aus der
völlig unterschiedlichen versicherungsrechtlichen Ausgestaltung des Wehrdienstes, für
den nach dem hier anzuwendenden § 2 Abs. 1 Nr. 8 AVG Versicherungspflicht bei
alleiniger Beitragszahlung durch den Bund vorgesehen war, und den Fällen der
Nachversicherung, bei denen die nachzuversichernde Tätigkeit (zumeist im
Beamtenverhältnis) ursprünglich versicherungsfrei war. Während für den Wehrdienst die
Pflichtbeiträge in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Wehrdienst an den
allgemeinen Versicherungsträger (hier die Beklagte) zu entrichten sind, wird über die
Nachversicherung erst nach Beendigung der entsprechenden Tätigkeit entschieden.
Sofern gemäß § 186 SGB VI auf Antrag des Betroffenen die Nachversicherung nicht
beim allgemeinen Versicherungsträger, sondern bei einem berufständischen
Versorgungswerk erfolgen soll, erfolgt die Nachversicherung durch den früheren
Dienstherrn unmittelbar bei dem Versorgungswerk. Es handelt sich also nicht um eine
Übertragung von Beiträgen vom allgemeinen Versicherungsträger auf ein
berufsständisches Versorgungswerk, wie sie der Kläger hier hinsichtlich der für seinen
Wehrdienst entrichteten Beiträge begehrt.
Neben diesem eher formalen Gesichtspunkt scheidet eine Vergleichbarkeit der
versicherungsrechtlichen Behandlung des Wehrdienstes und der Fälle der
Nachversicherung und damit die begehrte analoge Anwendung aber auch deshalb aus,
weil die Nachversicherung nach § 186 SGB VI nur innerhalb eines Jahres nach Eintritt
der Voraussetzungen für die Nachversicherung (Ausscheiden aus der
versicherungsfreien Beschäftigung und kein Aufschubgrund - vgl.
Eicher/Haase/Rauschenbach, Anm. 3 zu § 186 SGB VI) möglich ist. Auch der Aufschub
der Nachentrichtung ist gemäß § 184 Abs. 2 SGB VI an enge zeitliche Voraussetzungen
geknüpft, wobei ein Zeitraum von zwei Jahren genannt wird, in dem z. B. eine neue
versicherungsfreie Tätigkeit aufgenommen wird. Dies zeigt, dass die Entscheidung über
die Nachversicherung bei einem allgemeinen Versicherungsträger oder aber einem
berufsständischem Versorgungswerk nach der gesetzlichen Regelung in
verhältnismäßig kurzer Zeit nach der Beendigung der nachzuversichernden Tätigkeit zu
treffen ist.
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Demgegenüber könnte die vom Kläger begehrte Übertragung der Pflichtbeiträge für den
Wehrdienst auf ein berufsständisches Versorgungswerk regelmäßig erst viele Jahre
nach dem Wehrdienst erfolgen, da Voraussetzung für den Eintritt in ein
berufsständisches Versorgungswerk eine entsprechende langjährige Ausbildung wie im
Falle des Klägers Studium und Referendarzeit ist.
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Beim Kläger lagen zwischen der Beendigung der Wehrübung im Jahre 1990 und dem
Eintritt in das Versorgungswerk der Rechtsanwälte über sechs Jahre. Nach Ablauf eines
solch langen Zeitraums, der im Falle des Wehrdienstes praktisch unvermeidbar ist, ist
auch in den unmittelbar von § 186 SGB VI erfassten Nachversicherungsfällen keine
Nachversicherung bei einem berufsständischen Versorgungswerk mehr möglich. Die
begehrte Übertragung der für den Wehrdienst entrichteten Beiträge auf das
berufsständische Versorgungswerk kann daher nicht in analoger Anwendung von § 186
SGB VI erfolgen.
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Das Sozialgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass sich ein solcher
Anspruch auch nicht unmittelbar aus verfassungsrechtlichen Gründen ergibt. Zwar weist
der Kläger zu Recht darauf hin, dass er den Wehrdienst aufgrund staatlicher Dienst
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verpflichtung und nicht aus freier Willensentscheidung verrichtet hat. Aus dieser
staatlichen Dienstverpflichtung ergibt sich eine Verpflichtung des Staates, die
Wehrpflichtigen sozial abzusichern, wozu auch eine entsprechende Altersvorsorge
gehört. Insoweit empfindet es auch der Senat als unbefriedigend, dass in Fällen dieser
Art evtl. die vom Staat für den Wehrdienst zum allgemeinen Versicherungsträger
entrichteten Pflichtbeiträge nicht auch zu einem entsprechenden Rentenanspruch
führen, weil nach Eintritt in ein berufsständisches Versorgungswerk die allgemeine
Wartezeit nicht mehr erfüllt werden kann.
Dabei ist jedoch zunächst zu bedenken, dass auch bei der vom Kläger angesprochenen
Regelung über die Nachversicherung im § 186 SGB VI durchaus Fallkonstellationen
denkbar sind, in denen wegen Zeitablaufs (s. o.) die Nachversicherung unwiderruflich
zum allgemeinen Rentenversicherungsträger erfolgt ist und eine Übertragung auf ein
berufsständisches Versorgungswerk ebenfalls nicht mehr möglich ist. Auch in solchen
Fällen ist es möglich, dass die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt wird und z. B. die
Nachversicherung für die Referendarzeit zu keinem Rentenanspruch führt. Dies hat der
Gesetzgeber im Hinblick auf die gewünschte zeitnahe Entscheidung über die
Nachversicherung in Kauf genommen und für die Betroffenen für zumutbar gehalten. Zu
beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass Regelungen für berufsständische
Versorgungswerke teilweise anders konzipiert sind als die gesetzliche
Rentenversicherung, so dass auch andere in der gesetzlichen Rentenversicherung
relevanten Zeiten von den berufsständischen Versorgungswerken nicht berücksichtigt
werden. Gleichwohl wird von den betroffenen Berufsgruppen das berufsständische
Versorgungswerk in der Regel insgesamt als günstiger angesehen, als die allgemeine
gesetzliche Rentenversicherung.
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Nach Auffassung des Senats verstößt es daher weder gegen den Gleichheitssatz noch
gegen das Willkürverbot des Art. 3 GG, wenn in Fällen dieser Art die für den Wehrdienst
entrichteten Pflichtbeiträge nicht auf ein berufsständisches Versorgungswerk übertragen
werden können und sich aus ihnen evtl. kein entsprechender Rentenanspruch ergibt.
Der Gesetzgeber hat in Erfüllung seiner Verpflichtung, den Wehrpflichtigen auch für die
Altersvorsorge eine soziale Absicherung zu schaffen, eine allgemeine Regelung
getroffen, die an den Verhältnissen in der überwiegenden Zahl der Fälle orientiert ist.
Wenn dies in Fällen der vorliegenden Art bei isolierter Betrachtung der Pflichtbeiträge
für den Wehrdienst zu einem unbefriedigendem Ergebnis führt, so ist dies nach
Auffassung des Senats verfassungsrechtlich hinnehmbar, da die berufsständischen
Versorgungswerke für die Betroffenen insgesamt recht günstige Regelungen bzw.
Leistungen vorsehen. Zudem erscheint es auch nicht ausgeschlossen, dass abhängig
vom weiteren beruflichen Werdegang des Klägers er evtl. auch noch einmal in der
allgemeinen Rentenversicherung versicherungspflichtig wird und die für den Wehrdienst
entrichteten Beiträge dann doch noch zur Geltung kommen.
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Die Berufung des Klägers konnte daher keinen Erfolg haben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die dafür erforderlichen
Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 bzw. 2 SGG nicht erfüllt sind. Insoweit wird
auch auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) in SozR 2400 § 124 Nr. 5 und Nr.
6 verwiesen, mit denen das BSG das zeitlich eingeschränkte "Wahlrecht" von
Nachzuversichernden für verfassungsgemäß gehalten hat.
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