Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.05.2008

LSG NRW: hauptsache, irrtum, meinung, kreis, fahrtkosten, leistungskürzung, rechtswidrigkeit, glaubhaftmachung, rechtsschutz, ausnahme

Landessozialgericht NRW, L 19 B 33/08 AS ER
Datum:
19.05.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 19 B 33/08 AS ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 16 (8) AS 169/07 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des
Sozialgerichts Münster vom 08.01.2008 geändert. Die Antragsgegnerin
wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für den Zeitraum vom
01.11.2007 bis 31.01.2008 weitere 280,80 Euro zu zahlen. Dem
Antragsteller wird für das Antragsverfahren Prozesskostenhilfe unter
Beiordnung von Rechtsanwalt T bewilligt. Die Antragsgegnerin hat dem
Antragsteller die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Beschwerde
gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu
erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt T bewilligt.
Gründe:
1
Die Antragsgegnerin, die dem Antragsteller, dessen Leistungsvermögen nach einem für
die Deutsche Rentenversicherung Bund erstellten Gutachten vom 14.09.2006 (Dr. S)
lediglich schwere körperliche Tätigkeiten nicht mehr zulässt, laufend
Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)
bewilligt hat, bot diesem mit Heranziehungsbescheiden vom 05. und 10.07.2007 einen
Brückenjob in Form "Unterstützung des Gärtners" mit einer Arbeitszeit von 30 Stunden
pro Woche an. Der Antragsteller widersprach diesen Bescheiden, weil er sich für die
Tätigkeit körperlich als nicht geeignet ansah. Daraufhin senkte die Antragsgegnerin die
dem Antragsteller zustehende Regelleistung um 30 % (93,60 Euro) für den Zeitraum
vom 01.11.2007 bis 31.01.2008 (Bescheid vom 22.10.2007).
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Der Kläger hat gegen die Heranziehungsbescheide Klage erhoben und am 28.11.2007
beim Sozialgericht (SG) Münster die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines
Widerspruchs gegen den Bescheid vom 22.10.2007 sowie die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe beantragt.
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Mit Beschluss vom 08.01.2008 hat das SG die Anträge abgelehnt, weil die
Interessenabwägung zum Nachteil des Antragstellers ausgehe.
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Die dagegen gerichteten Beschwerden, denen das SG nicht abgeholfen hat, sind
zulässig, auch wenn durch die zum 01.04.2008 in Kraft getretene Bestimmung des §
172 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der Fassung des Gesetzes zur
Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 (BGBl. I 444) die
Beschwerde in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen worden
ist, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre. Letzteres ist hier der Fall,
weil der streitige Leistungsbetrag nicht die für die zulassungsfreie Berufung erforderliche
Beschwer erreicht (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG). Zwar erfassen Änderungen des
Prozessrechts im allgemeinen auch schwebende Verfahren, dies gilt aber nicht, soweit
es sich um unter Geltung des alten Rechts abgeschlossene Prozesshandlungen und
abschließend entstandene Prozesslagen handelt (BGHZ 114, 1, 3f m.w.N.). Letzteres ist
hier der Fall, weil die Beschwerden schon zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung
eingelegt gewesen sind.
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Die Beschwerden sind auch begründet. Das SG hat weder den Sachverhalt zutreffend
erfasst, noch sich mit den rechtlichen Aspekten des Falles in der erforderlichen Weise
auseinander gesetzt. Von der an sich gebotenen Zurückverweisung sieht der Senat im
Hinblick auf die Entscheidungsreife der Sache jedoch ab.
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Entgegen der Auffassung der Beteiligten und des SG richtet sich der begehrte
einstweilige Rechtsschutz nicht nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG, weil die
Antragstellerin nicht in eine laufende Leistung mit ihrer Absenkungsentscheidung
eingegriffen hat. Der letzte Bewilligungszeitraum vor der streitigen Absenkung endete
am 31.10.2007 (Bescheid vom 14.04.2007). Die Absenkung ist erst mit Wirkung vom
01.11.2007 erfolgt (Bescheid vom 22.10.2007) und ab diesem Zeitpunkt hat die
Antragsgegnerin lediglich verminderte Leistungen für den Folgezeitraum bewilligt
(Bescheid vom 24.10.2007, vom Antragsteller ebenfalls mit dem Widerspruch
angefochten). Der Antragsteller kann daher nur im Wege einer Regelungsanordnung
nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur
Gewährung höherer Leistungen begehren. Insoweit ist sein Antrag jedoch
auslegungsfähig, weil er erkennbar darauf ausgerichtet ist, den ungekürzten
Leistungssatz einstweilen zugesprochen zu erhalten. Der Antrag ist jedoch begrenzt auf
den Zeitraum 01.11.2007 bis 31.01.2008, worüber auch das SG nur entschieden hat,
auch wenn die Antragsgegnerin möglicherweise durch den Bescheid vom 24.10.2007
gekürzte Leistungen bis zum 30.04.2008 zugesprochen hat.
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Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines
vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S.
4 SGG iVm § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Der Anordnungsanspruch ist
glaubhaft, weil schon der Heranziehungsbescheid erheblichen rechtlichen Bedenken
begegnet, so dass es an einem ordnungsgemäßen Angebot des Brückenjobs fehlt.
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Nach § 16 Abs. 3 S. 1 SGB II sollen für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Arbeit
finden können, Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden. Lehnt der Hilfebedürftige es
ab, eine solche Arbeitsgelegenheit aufzunehmen, wird das Arbeitslosengeld II in einer
ersten Stufe um 30 v. H. der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20
maßgebenden Regelleistung abgesenkt (§ 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1c SGB II). Nach
Aktenlage kann unterstellt werden, dass der Antragsteller derzeit keine Arbeit findet,
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sodass die Antragsgegnerin ihm eine Arbeitsgelegenheit (Brückenjob) anbieten durfte
(vgl. dazu Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 2 Rn. 12). Entgegen der Auffassung des
Antragstellers ist auch nicht erkennbar, dass ihm die angebotene Tätigkeit im Hinblick
auf seine gesundheitlichen Verhältnisse unzumutbar war. Die Arbeitsbeschreibung, die
die Antragsgegnerin im laufenden Verfahren mit Schriftsatz vom 20.12.2007 vorgelegt
hat, gibt keinen Hinweis darauf, dass der Antragsteller mit schweren Arbeiten befasst
werden sollte, die ihm allein nach dem Gutachten vom 14.09.2006 nicht erlaubt sind.
Soweit Dr. F mit Attest vom 13.07.2006 dem Antragsteller bescheinigt hat, nicht über
Kopf und nicht in Kniehöhe arbeiten zu können, fehlt es insoweit an einer Begründung,
so dass diesem Attest lediglich die Bedeutung einer Gefälligkeitsbescheinigung
beigemessen werden kann.
Ob die angebotene Arbeit das Merkmal der Zusätzlichkeit im Sinne des § 16 Abs. 3 S. 2
SGB II erfüllt (vgl. dazu Eicher/Spellbrink aaO, §16 Rn 218ff) und ob eine
Arbeitsgelegenheit im Sinne des § 16 Abs. 3 S. 1 SGB II eine Dauer von 30 Stunden
wöchentlich umfassen darf (bejahend Harks in jurisPK-SGB II, § 16 Rn 106; Pfohl in
Linhart/Adolph, SGB II; SGB XII, Asylbewerberleistungsgesetz, § 16 Rn 75; ablehnend
Eicher/Spellbrink aaO, § 16 Rn. 227), kann der Senat offen lassen. Jedenfalls erfüllt die
Art und Weise des Angebotes des betreffenden Brückenjobs nicht die gesetzlichen
Voraussetzungen. Zwar hat der Antragsteller dieses nicht gerügt, bezüglich der
Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruches (ebenso wie des Anordnungsgrundes)
sind jedoch zumindest sämtliche aktenkundigen Umstände von Amts wegen zu prüfen
(vgl Düring in Jansen, Kommentar zum SGG, 2. Aufl., § 86b Rn. 12).
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Welche Anforderungen an einen Heranziehungsbescheid im Sinne des § 16 Abs. 3 S. 1
SGB II zu stellen sind, braucht der Senat hier nicht abschließend zu entscheiden.
Insbesondere kann dahin stehen, ob die zu §§ 18 Abs. 3, 19 Abs. 2, 25 Abs. 1
Bundessozialhilfegesetz (BSHG), denen die §§ 16 Abs. 3, 31 Abs. 1 SGB II im
Wesentlichen nachgebildet sind, ergangene Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 67, 1; 68, 91; 97) uneingeschränkt zu
übertragen ist (so die wohl herrschende Meinung, vgl. Eicher/Spellbrink, aaO, Rn 238;
Niewald in LPK-SGB II, 2. Aufl. § 16 Rn 51; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, § 16 Rn.
415). Danach musste die angebotene gemeinnützige Tätigkeit genau nach Art,
zeitlichem Umfang und zeitlicher Verteilung bezeichnet werden (BVerwGE 68, 97, 99 f.).
Ob diese strengen Anforderungen auch auf das SGB II mit seiner vom BSHG teilweise
abweichenden Zielsetzung übertragbar sind, kann offen bleiben. Jedenfalls muss das
Angebot eines Brückenjobs den Hilfesuchenden in die Lage versetzen, zu prüfen, ob
ihm die angebotene Arbeit zumutbar ist und ob im Hinblick auf den Einsatz ggf. Kosten
auf ihn zukommen, die durch die gewährte Mehraufwandsentschädigung auch gedeckt
werden. Andernfalls würde der Hilfesuchende gezwungen, Arbeiten aufzunehmen,
denen er - z. B. aus gesundheitlichen Gründen - nicht gewachsen ist, oder er müsste bei
einer unzureichenden Aufwandsentschädigung Zuzahlungen aus seiner Regelleistung
vornehmen. Beides ist insbesondere im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
nicht hinnehmbar (vgl Eicher/Spellbrink aaO, § 16 Rn 230; a. A. bezüglich der
Mehraufwandsentschädigung Pfohl aaO, § 16 SGB II Rn. 77). Diesen Anforderungen
genügt der Heranziehungsbescheid der Antragsgegnerin nicht. Dieser beschränkte sich
hinsichtlich der angebotenen Tätigkeit auf die Erklärung "Unterstützung des Gärtners",
ohne dass sich hieraus die zu leistenden Arbeiten des Antragstellers, die auch aus der
Unterstützung des Hausmeisters bestehen sollten, absehen ließen und wodurch
möglicherweise der Irrtum des Antragstellers über die Art der angebotenen Tätigkeit
bedingt worden ist. Des Weiteren fehlte ein Hinweis auf den Einsatzort. Da aber als
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"Maßnahmeträger" der Kreis T bezeichnet worden ist, war für den Antragsteller auch
nicht erkennbar, ob die ihm pro Arbeitsstunde zugesagte Mehraufwandsentschädigung
von 1,- Euro ausreichend sein würde, um die anfallenden Fahrtkosten bestreiten zu
können. Erweist sich demzufolge der Heranziehungsbescheid als rechtswidrig, so war
der Antragsteller berechtigt, die angebotene Tätigkeit abzulehnen.
Angesichts der offensichtlichen Rechtswidrigkeit der Heranziehungs- und
Absenkungsbescheide ist unabhängig von der Höhe der Leistungskürzung ein
Anordnungsgrund als glaubhaft gemacht anzusehen, weil es insoweit dem Antragsteller
nicht zuzumuten ist, auf die von Gesetzes wegen zustehenden Leistungen bis zur
Entscheidung in der Hauptsache zuzuwarten.
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Da Antrag und Beschwerde demzufolge Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 73a Abs. 1
SGG iVm § 114 ZPO bieten, ist auch insoweit der Beschluss des SG zu ändern und
dem Antragsteller Prozesskostenhilfe für das Antragsverfahren sowie für das
Beschwerdeverfahren zu bewilligen. Da der Antragsteller nach seinen persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung auch
nur teilweise aufzubringen, ist diese ratenfrei zu gewähren (§ 73a Abs. 1 SGG iVm §
115 ZPO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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Die Nichterstattungsfähigkeit der Kosten der Beschwerde gegen die Ablehnung der
Prozesskostenhilfe folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 127 Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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