Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.02.2001

LSG NRW: aufschiebende bedingung, versorgung, ermächtigung, niedergelassener, psychotherapeut, inhaber, verfügung, härte, arbeitsgemeinschaft, diplom

Landessozialgericht NRW, L 11 KA 122/00
Datum:
21.02.2001
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 11 KA 122/00
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 25 KA 109/00
Sachgebiet:
Vertragsarztrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 09.08.2000 abgeändert. Der Beschluss des Beklagten
vom 23.03.2000 wird aufgehoben. Außergerichtliche Kosten sind in
beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die bedarfsunabhängige Ermächtigung der Beigeladenen
zu 8) als Psychologische Psychotherapeutin in D ... (§ 95 Abs. 10 SGB V).
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Die Beigeladene zu 8) ist 1959 geboren und nach einem entsprechenden
Studienabschluss seit 1993 Diplom-Psychologin. Vom 01.04.1994 bis 31.01.1995 war
sie Psychologie-Jahresassistentin in der Familienberatungsstelle der Stadt K ...
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Seit dem 01.02.1995 arbeitet sie als Diplom-Psychologin bei der Katholischen
Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche (Träger: Caritasverband), bis
31.08.1998 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von insgesamt 32 Stunden, seit dem
01.09.1998 in der Beratungsstelle K ... mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 17,5
Stunden. Sie bezieht dort ein Nettoeinkommen i.H.v. 2.077,00 DM.
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Die Beigeladene zu 8) wohnt in K ... Seit 1993 erbringt sie auch ambulante
psychotherapeutische Behandlungen an Patienten, die Versicherte gesetzlicher
Krankenkassen sind. Für die Zeit vom 25.06.1994 bis 24.06.1997 hat sie insgesamt 195
ambulante Psychotherapiestunden (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) bei
zehn Patienten nachgewiesen. Diese Behandlungen hat sie in den Räumen der
Psychologischen Arbeitsgemeinschaft K ...-P ..., Inhaber U ... M ..., durchgeführt, in der
sie für zwei Nachmittage in der Woche einen Raum gegen ein Entgelt von 400,-- DM
monatlich gemietet hatte. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Erklärung der
Beigeladenen zu 8) in der Sitzung des Beklagten bezug genommen.
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Von Januar 1997 bis August 1998 behandelte sie keine Patienten ambulant. Seit dem
01.09.1998 ist sie in einer Praxis in D ..., M ... 7 a tätig, für die sie die Ermächtigung
begehrt.
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Mit Beschluss vom 27.05.1999 wies der Zulassungsausschuss für Ärzte Düsseldorf den
Antrag der Beigeladenen zu 8) auf bedarfs unabhängige Ermächtigung ab. Die
Beigeladene zu 8) habe zwar die sogenannte Sockelqualifikation gem. § 95 Abs. 11
SGB V hinreichend belegt, im Zeitfenster habe sie aber keine ins Gewicht fallende
psychotherapeutische Tätigkeit nachgewiesen. Wegen der Tätigkeit beim
Caritasverband stehe sie nicht in erforderlichem Umfang zur Versorgung der gesetzlich
Versicherten zur Verfügung.
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Auf den Widerspruch der Beigeladenen zu 8) hat der Beklagte mit Beschluss vom
23.03.2000 die Beigeladene zu 8) als Psychologische Psychotherapeutin ermächtigt
und die Ermächtigung an die aufschiebende Bedingung der Reduzierung der
wöchentlichen Arbeitszeit in ihrem Beschäftigungsverhältnis auf 12 Stunden geknüpft.
Die Beigeladene zu 8) habe im Zeitfenster ausreichend Behandlungsstunden in eigener
niedergelassener Praxis erbracht. Nach der Erklärung der Reduzierung der Arbeitszeit
auf 12 Stunden wöchentlich stünde die Beigeladene zu 8) in ausreichendem Maße der
vertragsärztlichen Versorgung zur Verfügung.
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Die Klage der Klägerin hat das Sozialgericht Düsseldorf mit Urteil vom 09.08.2000
abgewiesen, weil es der Einschätzung des Beklagten gefolgt ist.
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Mit ihrer Berufung trägt die Klägerin unter Hinweis auf das Urteil des
Bundessozialgerichts vom 08.11.2000 - B 6 KA 52/00 R - vor, dass die Beigeladene zu
8) im sogenannten Zeitfenster nicht im erforderlichen Umfang an der vertragsärztlichen
Versorgung teilgenommen habe. Die Beigeladene zu 8) sei auch seit dem 01.09.1998
nicht mehr in der Praxis tätig, in der sie im Zeitfenster gearbeitet habe.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.08.2000 abzuändern und den
Beschluss des Beklagten vom 23.03.2000 aufzuheben.
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Der Beklagte stellt keinen Antrag.
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Die Beigeladene zu 8) beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
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Ihren am 20.11.2000 gestellten Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung des
Beschlusses des Beklagten vom 23.03.2000 hat die Beigeladene zu 8) im Senatstermin
nicht weiter verfolgt (L 11 B 70/00 KA).
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Wegen der weiteren Einzelheiten, auch des Vorbringens der Beteiligten, wird auf die
Prozeßsakten und die Verwaltungsakten des Beklagten und des
Zulassungsausschusses für Ärzte Düsseldorf Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom
09.08.2000 ist statthaft, zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu
Unrecht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 23.03.2000 ist rechtswidrig. Die
Beigeladene zu 8) hat keinen Anspruch auf eine bedarfsunabhängige Ermächtigung als
Psychologische Psychotherapeutin in D ...
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Im Hinblick auf die im Planungsbereich des Kreises N ... seit dem 25.09.1999 und nach
wie vor bestehende Zulassungssperre wegen Überversorgung könnte die Beigeladene
zu 8) sich dort nur aufgrund einer bedarfsunabhängigen Ermächtigung niederlassen. Sie
erfüllt jedoch das Tatbestandsmerkmal des § 95 Abs. 10 Satz 1 Nr. 3 SGB V nicht,
nämlich der Teilnahme an der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der
Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung im sogenannten Zeitfenster.
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Der Senat schließt sich nach eigener Prüfung und Überzeugungsbildung der im Urteil
des Bundessozialgerichts vom 08.11.2000 - B 6 KA 52/00 R - vertretenen
Rechtsauffassung an, dass diese Regelung mit Verfassungsrecht im Einklang steht.
Danach sind die Einbeziehung der Psychotherapeuten in die Bedarfsplanung und die
Bindung der Privilegierung einer bedarfsunabhängigen Zulassung als Psychotherapeut
an die Teilnahme an der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung der
Versicherten in der Vergangenheit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (S. 7 bis
10 des Urteils). Der Senat schließt sich ebenfalls der vom Bundessozialgericht
vertretenen Rechtsauffassung an, dass auch Erstattungspsychotherapeuten wie die
Beigeladene zu 8) zum Kreis der durch die Übergangsregelung begünstigten Personen
gehören (Bl. 15 bis 16 des Urteils). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf das
den Beteiligten bekannte Urteil Bezug genommen.
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Der Senat ist nach eigener Prüfung und Beurteilung der Überzeugung, dass die
Auslegung des Begriffs der "Teilnahme" im Sinne des § 95 Abs. 10 Satz 1 Nr. 3 SGB V
durch das Bundessozialgericht im oben genannten Urteil Grundrechte der
Beigeladenen zu 8) nicht verletzt. Denn eine Ausnahme von der bedarfsabhängigen
Zulassung sieht das Gesetz nur für diejenigen Psychotherapeuten vor, die innerhalb des
Zeitfensters an der psychotherapeutischen Versorgung der Versicherten teilgenommen
haben. Damit sollen diejenigen Psychotherapeuten geschützt werden, für die die
grundsätzlich zu mutbare Verweisung auf eine bedarfsabhängige Zulassung eine
unbillige Härte darstellen würde. Aus dem in der Gesetzbegründung ausdrücklich
formulierten und hinreichend deutlich zum Ausdruck kommenden Charakter als
Härtefallregelung kann die Zulassung auch in einem überversorgten Planungsbereich
zur Vermeidung der Notwendigkeit einer Aufgabe einer selbst geschaffenen Praxis
erteilt werden. Die in § 95 Abs. 10 Satz 1 SGB V enthaltene Differenzierung zwischen
Berufsangehörigen, die in überversorgten Gebieten zugelassen werden können, und
solchen, die ihren Zulassungswunsch nur abhängig von der Bedarfslage realisieren
können, verstößt nicht gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG. Die
Privilegierung der bisher an der ambulanten Versorgung der Versicherten beteiligten
Psychotherapeuten rechtfertigt sich nur dann, wenn diese sich unter Einsatz ihrer
Arbeitskraft und finanzieller Mittel eine berufliche Existenz an einem bestimmten Orte
geschaffen haben, die für sie in persönlicher wie materieller Hinsicht das für eine
Berufstätigkeit typische Ausmaß erreicht hat. Danach muss der Psychotherapeut im
sogenannten Zeitfenster in niedergelassener Praxis eigenverantwortlich Versicherte der
gesetzlichen Krankenkassen in anerkannten Behandlungsverfahren in einem
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bestimmten Mindestumfang behandelt haben. Damit ist sowohl den Zulassungsgremien
wie den Sozialgerichten eine flexible, den Besonderheiten jedes Einzelfalles Rechnung
tragende Handhabe ermöglicht (S. 10 bis 12 des Urteils). Es sind alle Umstände in die
Gesamtbetrachtung einzubeziehen, die für das Vorliegen eines Härtefalles relevant
seien können.
Nach den Feststellungen des Senats erfüllt die Beigeladene zu 8) die dafür
erforderlichen Voraussetzungen nicht.
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Sie ist im sogenannten Zeitfenster nicht in eigener niedergelassener Praxis tätig
geworden. Unter einer psychotherapeutischen Praxis versteht der Senat ebenso wie
das Bundessozialgericht in Anlehnung an die Gegebenheiten im ärztlichen und übrigen
freiberuflichen Bereich die Gesamtheit der gegenständlichen und personellen
Grundlagen des freiberuflich Tätigen. Dabei sind Praxisanschrift und Praxisräume in der
Regel unverzichtbare Voraussetzungen. Diese Räume müssen dem Behandler zur
eigenständigen Nutzung für eine gewisse Dauer tatsächlich zugewiesen seien (BSG
aaO, S. 16/17). Nach den Feststellungen des Senates hat die Beigeladene zu 8) die 195
Behandlungsstunden im Zeitfenster in einem für zwei Nachmittage in der Woche
angemieteten Raum einer psychologischen Arbeitsgemeinschaft gehalten. In der
bloßen Anmietung und Möglichkeit der Nutzung nur eines Raumes hat bereits das
Bundessozialgericht keine geeignete gegenständliche Grundlage für eine
niedergelassene Praxis gesehen. Die Anmietung eines einzelnen Raumes innerhalb
der Praxisräume anderer Freiberufler ohne die entsprechenden Nebenräume wie
Wartezimmer, Büroraum, Eingangsbereich usw. ermöglicht in der Regel keine
eigenständige freiberufliche Tätigkeit. Die fehlende innere Eigenverantwortlichkeit einer
Praxisführung der Beigeladenen in diesem Raum wird auch darin deutlich, dass der
Inhaber Ulrich Maier sie gedrängt haben will, sich entgegen ihrer tiefenpsychologischen
Orientierung mehr verhaltenstherapeutisch auszurichten. Eine solche sachliche
Einflußnahme auf den Kernbereich der freiberuflichen Tätigkeit geht weit über die
üblichen Gestaltungen eines Mietvertrages über Räume hinaus. Auch besteht nach der
Auslegung durch das Bundessozialgericht ein Anspruch auf bedarfsunabhängige
Zulassung grundsätzlich nur für die "Praxis", in der im Zeitfenster an der ambulanten
Behandlung der Versicherten teilgenmonnen wurde. Denn § 95 Abs. 10 Satz 1 Nr. 3
SGB V will Psychotherapeuten davor schützen, eine bestehende Praxis aufgeben und
an einem anderen (nicht gesperrten) Ort weiterführen zu müssen. Ein solcher
Zusammenhang besteht für die Tätigkeit der Beigeladenen zu 8) nicht. Denn sie hat
eine ambulante Behandlungstätigkeit in Köln Ende 1996 aufgegeben, bis August 1998
überhaupt nicht weitergeführt und erst im September 1998 in Dormagen
wiederaufgenommen. Eine Zulassung in einem anderen Planungsbereich als
demjenigen, in dem die "Praxis" mit der relevanten Betätigung im Zeitfenster liegt, ist
regelmäßig ausgeschlossen (s. auch BSG vom 08.11.2000 - B 6 KA 51/00 R -).
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Weiterhin hat die Beigeladene zu 8) auch nicht im erforderlichen Mindestumfang an der
ambulanten Versorgung teilgenommen.
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Der Senat schließt sich insoweit der Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts im
obengenannten Urteil (S. 21 bis 25 des Urteils) an, dass der Behandlungsumfang
gegenüber Versicherten der Krankenkassen annähernd einer halbtägigen Tätigkeit
entsprochen haben muss und die Behandlungen in der eigenen Praxis nicht gegen über
anderen beruflichen Tätigkeiten, sei es in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis,
sei es gegenüber anderen Kostenträgern, von nachrangiger Bedeutung gewesen sein
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dürfen. Die Verweisung auf eine bedarfsabhängige Zulassung und der damit
verbundene Zwang zu einem beruflichen Neuanfang an einem anderen als dem
bisherigen Ort der ambulanten Betätigung kann nur dann eine unzumutbare Härte
darstellen, wenn der bisherige ambulante Behandlungsumfang die Berufstätigkeit des
Psychotherapeuten mitgeprägt hat oder objektiv nachvollziehbar darauf ausgerichtet
gewesen ist. Danach muss die ambulante Behandlungstätigkeit nicht die einzige
einkommensrelevante berufliche Betätigung gewesen sein, andererseits muss sie aber
vom Umfang her für das gesamte Erwerbseinkommen bedeutsam gewesen sein. Eine
Teilnahme im Sinne des § 95 Abs. 10 Satz 1 Nr. 3 SGB V kann daher ausgeschlossen
werden, wenn im Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit eines Psychotherapeuten im
Zeitfenster andere Tätigkeiten gestanden haben und die ambulanten Behandlungen
den Charakter einer Nebentätigkeit von untergeordneter Bedeutung hatten. Die
Beigeladene zu 8) hat im gesamten Zeitraum vom 25.06.1994 bis Dezember 1996
insgesamt 195 Behandlungsstunden am Versicherten gehalten und abgerechnet, das
sind durchschnittlich weniger als zwei Behandlungsstunden pro Woche unter
Zugrundlegung von 43 Arbeitswochen pro Kalenderjahr (vgl. BSG vom 25.08.1999 - B 6
KA 14/98 R -). Die Beigeladene zu 8) weist zu Recht darauf hin und der Senat
berücksichtigt, dass mit der Annahme einer 50-minütigen Dauer für
psychotherapeutische Sitzungen die Arbeitszeit des einzelnen Psychotherapeuten nicht
abschließend beschrieben ist, sondern im Hinblick auf die notwendigen begleitenden
Tätigkeiten ein zusätzlicher Arbeitsaufwand berücksichtigt werden muss. Deswegen
legt der Senat seiner Einschätzung einen wöchentlichen Arbeitsaufwand der
Beigeladenen zu 8) im Zeitfenster von drei Arbeitsstunden zugrunde. Demgegenüber
hat die Beigeladene zu 8) jedenfalls im Zeitfenster insgesamt 32 Stunden wöchentliche
Arbeitszeit in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen bei der Caritas geleistet. Dass
damit die Tätigkeit in eigener Praxis nicht annähernd halbtätig und gegenüber der
anderweitigen Berufsausübung nachrangig war, liegt auf der Hand und bedarf keiner
weiteren Begründung. Die ambulante Behandlungstätigkeit der Beigeladenen zu 8) in
vermeintlich eigener Praxis hat damit jedenfalls auch im Lichte des Artikel 12 GG ihre
Berufsausübung nicht entscheidend mitgeprägt.
Weil der Senat von der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 95 Abs. 10 SGB V
auch in der vom Bundessozialgericht vorgenommenen Auslegung überzeugt ist, kam
eine Aussetzung des Verfahrens nach Artikel 100 GG nicht in Betracht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 und 193 SGG.
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Die Klägerin macht gegenüber dem Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch nicht
geltend.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht mehr vor, nachdem
das Bundessozialgericht im obengenannten Urteil die grundsätzlichen Rechtsfragen
geklärt und der Senat aufgrund der von ihm festgestellten Umstände des Einzelfalls
entschieden hat.
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