Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24.06.2004

LSG NRW: adipositas, ärztliche behandlung, operation, krankheit, zustand, form, therapie, reduktion, krankenversicherung, verminderung

Landessozialgericht NRW, L 5 KR 129/03
Datum:
24.06.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 129/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 16 (13) KR 86/02
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 16.06.2003 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat der
Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Mammareduktionsplastik
(Brustverkleinerungsoperation).
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Die bei der Beklagten versicherte 1942 geborene Klägerin wiegt bei einer Körpergröße
von 173 cm etwa 120 kg. Sie beantragte mit einem Bericht der Frauenklinik der
Städtischen Kliniken E vom 25.10.2000 am 27.10.2000 bei der Beklagten die
Gewährung einer Brustverkleinerungsoperation. In dem Bericht heißt es, es bestehe
eine ungleiche Brustgröße, die rechte Brust sei mindestens 1/3 bis 1/2 größer als die
linke. Wegen der ausgeprägten Ungleichheit der Brustgröße bestehe eine schmerzhafte
Fehlhaltung im Wirbelsäulenbereich. Durch das Brustgewicht befänden sich auf beiden
Schultern tiefe Schnürfurchen der BH-Träger und ein chronisches Ekzem unter beiden
Brüsten. Die Durchführung einer operativen Brustverkleinerung sei unbedingt
ungeachtet der gleichzeitig bestehenden Adipositas indiziert, da eine Gewichtsreduktion
nur wenig an der Gigantomastie ändern und die ausgeprägte Anisomastie (Ungleichheit
der Brüste) in keiner Weise verändern würde.
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Die Klägerin übersandte weiter einen Bericht des Allgemeinmediziners Dr. I vom
13.11.2000, der angab, es bestehe seit etwa 10 Jahren eine ausgeprägte Adipositas.
Leider sei es nicht erfolgreich gelungen, das Gewicht zu reduzieren. Die Klägerin werde
häufig vorstellig wegen Wirbelsäulenbeschwerden, insbesondere im Bereich der HWS
und BWS. Aufgrund der Gigantomastie hätten sich diese Beschwerden in den letzten
Jahren weiter verschlimmert. Unabhängig von einer Gewichtsreduzierung sei die
Brustkorrektur erforderlich, um die Wirbelsäulenbeschwerden zu lindern. Der Orthopäde
N2 führte in einer Bescheinigung vom 29.11.2000 aus, die Klägerin habe von Dezember
1999 bis März 2000 wiederholt aufgrund seit Jahren rezidivierender Schmerzen im
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Hals-/Schulter-/ Armbereich in Behandlung gestanden. Durch die angestrebte
Mammareduktionsplastik sei ein positiver Effekt auf die gestörte Hals-/Schulter-
/Armmuskulatur sowie die sekundäre Fehlstatik zu erwarten, weiter sei mittelfristig mit
einem Rückgang der cervicocephalgieformen Schmerzen zu rechnen. Dr. N von dem
von der Beklagten befragten Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK)
führte in einer Stellungnahme vom 04.01.2001 aus, es liege eine massive Adipositas
vor, die Brüste seien in diesem Zusammenhang nachrangig, vorrangig vor der
Brustverkleinerung sei eine Gewichtsreduktion.
Mit Schreiben vom 09.01.2001 teilte die Beklagte der Klägerin daraufhin mit, eine
Kostenübernahme für die Brustverkleinerungsoperation könne nicht erfolgen. Auf die
Übersendung einer weiteren Bescheinigung des Orthopäden Dr. N1, der ebenfalls
angab, aufgrund der Makromastie bestünden erhebliche Beschwerden im HWS- und
LWS-Bereich, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 03.05.2001 erneut die
Kostenübernahme für eine Mammareduktionsplastik ab. Auf den Widerspruch der
Klägerin veranlasste sie eine Untersuchung durch den MDK. Dort gab die Klägerin an,
seit 1996 habe die Brustgröße ständig zugenommen bei einer allgemeinen
Gewichtszunahme von ca. 15 kg. Dr. W vom MDK fand bei der Untersuchung eine
ausgeprägte Gigantomastie bei allgemeiner Adipositas und eine Asymmetrie der Brüste.
Die rechte Brust sei tieferstehend als die linke und erscheine auch optisch als größer.
Es bestanden rötlich livide Hautverfärbungen in der unteren Hälfte beider Brüste, die
Haut unterhalb der Brüste war beidseits schweißig und wies insbesondere im Bereich
der linken Brust Hautveränderungen infolge stattgehabter intertriginöser Veränderungen
auf. Im Bereich der Wirbelsäule fand sich ein deutlicher Schultertiefstand nach rechts,
eine vermehrte Brustkyphose und Hyperlordosierung im lumbalen Bereich und eine
muskuläre Verspannung im Nacken-Schulter-Bereich beidseits ohne subjektive
Schmerzäußerung. Dr. W kam zu dem Ergebnis, dass sich ohne eine anhaltende
drastische Gewichtsreduktion auch die alleinige operative Reduktionsplastik der beiden
Brüste nicht die Beschwerden im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates nicht
anhaltend verbessern würden. Mit Schreiben vom 29.10.2001 teilte die Beklagte der
Klägerin daraufhin mit, es bleibe bei dem Bescheid vom 03.05.2001 und wies den
Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.03.2002 zurück.
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Zur Begründung der Klage hat sich die Klägerin auf die im Verwaltungsverfahren
eingereichten ärztlichen Stellungnahmen bezogen und eine weitere Stellungnahme des
Gynäkologen Dr. X (Chefarzt der gynäkologischen Abteilung des N-Krankenhauses St.
K I vom 04.12.2001) vorgelegt. Dieser betont, dass bei der Klägerin eine extreme
Gigantomastie bestehe und die von Dr. W vorgeschlagene Gewichtsreduktion zu
keinerlei Veränderung der Hautlappenlänge führen würde. Allein eine chirurgische
Maßnahme sei im Stande, den jetzt bereits bestehenden deutlichen Hautüberschuss im
Bereich der Brust zu beseitigen. Sicherlich sei eine Operation nicht allein im Stande, die
orthopädische Beschwerdesymptomatik zu verbessern. Da die Klägerin eine
Gewichtsreduktion auch durch zahlreiche diätetische Maßnahmen nicht erreicht habe,
glaube er, dass in diesem Fall eine primäre Operation als psychische Motivation für eine
nachfolgende Gewichtsabnahme in Erwägung gezogen werden sollte.
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Auf Antrag der Klägerin ist nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Orthopäden
Dr. T ein Gutachten eingeholt worden. In seinem Gutachten vom 22.01.2003 führte er
aus, im Bereich der gesamten Wirbelsäule lägen Veränderungen vor. Diese beträfen im
Bereich der LWS eine skoliotische Fehlhaltung mit ausgeprägten reaktiv degenerativen
Veränderungen durch diese Fehlstatik. Im Bereich der BWS liege der Zustand einer
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Spondylosis deformans vor. Der Zustand gehe über das übliche Ausmaß degenerativer
Veränderungen hinaus mit knöchernen Spangenbildungen, die die
Wirbelzwischenräume im Bereich der mittleren und unteren BWS überbrückten und
hierdurch zu einer hochgradigen Bewegungseinschränkung dieses
Wirbelsäulenabschnitts bei vermehrter Rundrückenbildung geführt hätten. Im Bereich
der HWS liege eine vermehrte kompensatorische Ausbiegung nach vorne
(Hyperlordose) vor, die als Ausgleich zur Rundrückenbildung der BWS anzusehen sei.
Degenerativ lägen ebenfalls Veränderungen der Bandscheiben im mittleren unteren
HWS-Abschnitt vor. Bei den vorliegenden ausgeprägten Veränderungen des
Stützorgans seien die Auswirkungen des erheblichen Übergewichtes der Brüste statisch
leicht zu erklären. Durch die relativ erhebliche Gewichtseinwirkung auf die BWS komme
es zu einer Vermehrung der Rundrückenbildung im oberen BWS-Abschnitt, hierdurch
bedingt träten glaubhaft radikuläre sensible Schmerzzustände auf. Kompensatorisch
habe dies Auswirkungen auf die biomechanischen Verhältnisse der HWS mit
Entwicklung bzw. Verstärkung einer entsprechenden Schmerzsymptomatik. Durch das
Übergewicht der Brüste habe sich eine Eigendynamik mit vermehrtem Herabhängen der
Brüste und einer asymmetrischen Ausbildung entwickelt. Eine allgemeine
Gewichtsreduktion ändere nur wenig am Gewicht der Mammae. Wegen der ungünstigen
statischen Verhältnisse durch die erhebliche Übergewichtigkeit der Brüste bei bereits
bestehenden ausgeprägten degenerativen Veränderungen der BWS handele es sich
bei der Mammareduktionsplastik um einen medizinischen Eingriff, der auf eine deutliche
entscheidende Reduktion der Schmerzsymptomatik ziele. Das Krankheitsbild der
Gigantomastie liege als eigenständiger pathologischer Zustand unabhängig von der
allgemeinen Adipositas vor, er sei der Überzeugung, dass ohne eine radikale
Brustverkleinerung die allgemeine Brustgewichtsreduktion nicht erreicht werden könne.
Die Beklagte hat dazu eine Stellungnahme des MDK (Dr. C) vom 05.03.2003 vorgelegt.
Dort wird angegeben, vorrangig sei eine Gewichtsreduktion. Dass die bisherigen,
offensichtlich nicht strukturierten Versuche zur Gewichtsreduktion keinen Erfolg ergeben
hätten, könne nicht als Begründung zur Mammareduktionsplastik herangezogen
werden, zumal eine solche Operation nicht als Baustein einer Adipositas-Therapie zu
bewerten sei. Bei einer Gewichtsreduktion sei eine nahezu proportionale
Gewichtsreduktion der Mammae zu erwarten. Es lägen auch keine wissenschaftlichen
Untersuchungen dazu vor, dass Mammareduktionsplastiken dauerhaft eine Entlastung
des Achsenskeletts mit entsprechender Reduktion der Beschwerden begründeten.
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Gestützt auf das Gutachten von Dr. T hat das Sozialgericht mit Urteil vom 16.06.2003 die
Beklagte antragsgemäß zur Gewährung einer Brustverkleinerungsoperation verurteilt.
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Mit der fristgerecht eingelegten Berufung wendet sich die Beklagte gegen die
Verurteilung und meint, aufgrund der vorliegenden Adipositas sei primär eine
Gewichtsreduktion indiziert. Wissenschaftliche Studien, die eine Kausalität zwischen
orthopädischen Beschwerden und der Brustgröße belegten, gebe es nicht. Es fehle
daher an dem nach der Rechtsprechung des BSG erforderlichen wissenschaftlichen
Nachweis, dass sich die Beschwerden von Seiten der Wirbelsäule bzw. des
Schultergürtels nach einer Mammareduktionsplastik bessern würden.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16.06.2003 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
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Im Berufungsverfahren ist ein Befundbericht von dem Allgemeinmediziner Dr. I (Bericht
vom 22.01.2004) eingeholt worden, der über die bisherigen Versuche zur
Gewichtsabnahme berichtet hat. Sodann ist von der Chirurgin Dr. E ein Gutachten
eingeholt worden. In ihrem Gutachten vom 25.02.2004 ist sie zu dem Ergebnis gelangt,
es bestehe eine Gigantomastie der Brüste mit extremer Ptose und erheblicher
Ungleichgewichtigkeit. Eine operative Intervention mit Mammareduktionsplastik sei bei
der Klägerin notwendig. Es sei davon auszugehen, dass alleine durch die
Brustverkleinerung schon eine erhebliche Verminderung der von der Klägerin
nachvollziehbar beschriebenen Beschwerden von Seiten der Hals- und Schulterregion
wie der oberen BWS erreicht werden könne. Eine allgemeine Gewichtsreduktion wäre
unabhängig hiervon sinngebend, es handele sich jedoch mittlerweile um zwei
voneinander weitgehend unabhängig verlaufende Krankheitsbilder. Wegen der
Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen. Die Beklagte hat dazu eine
weitere Stellungnahme von Dr. C übersandt, in der wiederum ausgeführt wird, im
vorliegenden Fall sei eine grundlegende Adipositas-Therapie erforderlich.
Mammaproportion und die Gesamtkonstitution der Klägerin müssten als
zusammenhängend und sich gegenseitig bedingend dargestellt werden. Es fehle auch
der wissenschaftliche Beleg dafür, dass die Symptomatik von Seiten der Mammae von
der Adipositas zu trennen sei.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat im
Ergebnis zutreffend die Beklagte zur Gewährung der Brustverkleinerungsoperation
verurteilt.
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Versicherte haben nach § 27 Absatz 1 Satz 1 5. Buch Sozialgesetzbuch (SGB V)
Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu
erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu
lindern. Diese Krankenbehandlung umfasst nach Satz 2 a.a.O. die ärztliche Behandlung
(Nummer 1) sowie gegebenenfalls die Krankenhausbehandlung (Nummer 5). In
krankenversicherungsrechtlichem Sinne ist Krankheit ein regelwidriger Körperzustand,
der Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (vergl. Schmidt
in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung - SGB V, § 27 Randnummer 50 m. N. der
Rechtsprechung). Eine Regelwidrigkeit ist gegeben, wenn der Körperzustand vom
Leitbild eines gesunden Menschen abweicht. Entscheidend ist, ob der Versicherte zur
Ausübung der normalen psychophysischen Funktionen in der Lage ist (vergl. BSGE 59,
119, 121).
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Die Klägerin hat Anspruch auf die Brustverkleinerungsoperation als Maßnahme der
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Krankenbehandlung. Bei ihr liegt eine Gigantomastie beider Brüste, verbunden mit einer
deutlichen Ungleichheit (rechts größer links) und einer erheblichen Ptosis vor. Es spricht
hier viel dafür, dass - ausnahmsweise - schon Größe und Form der Mammae als
behandlungsbedürftiger Körperzustand anzusehen sind, mit anderen Worten, die
beantragte Brustverkleinerungsoperation wegen eines krankhaften Zustandes der
Mammae erforderlich ist. Wie der Senat in seinem Urteil vom 26.04.2004 (L 5 KR
207/02) dargelegt hat, werden allerdings im Regelfall Übergewicht der Brüste und eine
Ptose nicht als Krankheit zu beurteilen sein, weil sie weder eine Fuktionseinschränkung
bedingen noch entstellend sind. Eine Brustverkleinerungsoperation kommt daher
allenfalls dann in Betracht, soweit sich das Übergewicht der Brüste verschlimmernd auf
Rücken- und Schulter-/Armbeschwerden auswirken. Da insoweit allerdings eine
Operation nur mittelbar der Bekämpfung der auf orthopädischem Gebiet liegenden
Krankheit dienen soll, bedarf eine solche "mittelbare" Behandlung jedoch einer
besonderen Rechtfertigung; wegen des Eingriffs in ein funktionell intaktes Organ sind
besonders strenge Anforderungen an die Abwägung von Art und Schwere der
Erkrankung, des Risikos und des eventuellen Nutzens der Therapie zu stellen (vergl.
insoweit BSG, Urteil vom 19.02.2003 - B 1 KR 1/02). Die Frage, ob hier - auch unter
Berücksichtigung, dass es wegen der Beeinträchtigung des Submammaeraumes zur
Ausbildung ekzematöser Veränderungen in der Submammaefalte gekommen ist (Dr. E,
ebenso MDK-Gutachten Dr. W vom 05.09.2001) - schon die Brustgröße/-form als
krankhaft zu bezeichnen ist (sowohl die Sachverständige Dr. E), kann letztlich offen
bleiben, da die Brustoperation jedenfalls (auch) zur Verminderung der Beschwerden
von Seiten der Hals- und Schulterregion sowie der oberen BWS erforderlich ist. Dies
steht aufgrund des nachvollziehbar und überzeugend begründeten Gutachtens von Dr.
E fest.
Wie die Sachverständige ausgeführt hat, liegt bei der Klärgerin nicht nur eine
Gigantomastie vor. Vor allem ist durch die Wirkung der Schwerkraft auf die extrem
großen Brüste es zu einer Verschiebung des Brustdrüsenkörpers nach unten
gekommen, so dass in Höhe des eigentlichen Brustansatzes nur noch Hautlappen ohne
wesentlichen Inhalt vorliegen und der vergrößerte Brustdrüsenkörper sich weitgehend
im herabhängenden Teil der Brust befindet. Dies lässt sich anhand der dem Gutachten
beigefügten Fotodokumentation gut nachvollziehen. Wie die Sachverständige weiter
ausführt, kommt es hierdurch zu einem ausgeprägten ziehenden und zergelnden Effekt,
der an dem Hautschlauch hängenden Gewichte, so dass ein Teil der von der Klägerin
beklagten Beschwerden hierdurch begründet ist. Ferner hat die massive
Brustvergrößerung rechtsseitig durch das erhebliche Ungleichgewicht der Brüste bereits
zu einem ausgeprägten Schultertiefstand rechtsseitig geführt. Bei dem Schultertiefstand
handele es sich nicht um ein aktives Hoch- bzw. Herunterziehen, sondern um eine
funktionell myostatische Schädigung zum Ausgleich der ungleichen Gewichte. Dieses
Ungleichgewicht führe zusätzlich zu der durch die Brustgewichte verursachten
muskulären Dysbalance am Aufhängeapparat zu einer weiteren myostatischen
Beeinträchtigung. In diesem Zusammenhang müsse beachtet werden, dass radiologisch
bereits erhebliche strukturelle Veränderungen von Seiten der Brust- und
Halswirbelsäule festgestellt worden seien. Die Klägerin sei somit altersbedingt nicht
mehr in der Lage, eine entsprechende Ausgleichsbewegung der Wirbelsäule
durchzuführen, die einen stabilisierenden Charakter hätte. Bei Fehlen dieser
Ausgleichsmöglichkeit führten die zusätzlich durch die Brustgröße, das Gewicht und die
Ungleichgewichtigkeit der Brüste entstehenden statischen Effekte zu einer weiteren
Beschwerdehaftigkeit und Verstärkung der Schmerzsymptomatik von Seiten der
Wirbelsäule. Alleine durch die Brustverkleinerung könne schon eine erhebliche
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Verminderung der von der Klägerin nachvollziehbar beschriebenen Beschwerden von
Seiten der Hals- und Schulterregion sowie der oberen Brustwirbelsäule erreicht werden.
Die im Gutachten von Dr. C gegen diese Beurteilung erhobenen Einwände greifen nicht
durch. Schon grundsätzlich geht diese Stellungnahme von der unzutreffenden
Vorstellung aus, dass es für die Erforderlichkeit der Operation allein auf einen
krankhaften Zustand der Brustdrüsenkörper ankomme. Dabei wird übersehen, dass sich
hier die Frage stellt, wie sich die Brustgröße und -form auf die auf orthopädischem
Gebiet bestehenden Beschwerden auswirkt. Offenbar vor diesem Hintergrund wird in
dem Gutachten von Dr. C auf die Argumentation der Sachverständigen nicht im
Einzelnen eingegangen. Dies gilt insbesondere für deren Hinweis auf die
Beschwerdeverstärkung durch die durch die Ptose verursachte Zugbelastung und das
Ungleichgewicht der Brüste. Die Aussage von Dr. C, aus den Fotoaufnahmen ergebe
sich, dass die Brüste auf den adipösen Bauchdecken auflägen, also geradezu eine
Entlastung hinsichtlich der Zugwirkung eintrete, ist abwegig, denn der behauptete
Abstützeffekt entfällt mit jeder Bewegung. Dass ein deutlicher Schultertiefstand rechts
vorliegt, ist auch im Gutachten von Dr. W bestätigt worden, die daraus resultierende
myostatische Beeinträchtigung ist ohne weiteres nachvollziehbar. Auch die radiologisch
nachweisbaren Veränderungen der Brust- und Halswirbelsäule werden von Dr. C nicht
bewertet. Diese Veränderungen sind sicherlich nicht auf die Brustgröße zurückzuführen,
jedoch hat Dr. E insoweit überzeugend begründet, dass hierdurch die
Kompensationsfähigkeit von Seiten der Brustwirbelsäule eingeschränkt ist und diese
nicht mehr die Möglichkeit hat, statische Dysbalancen, bedingt durch die
Ungleichgewichtigkeit der Brüste, aufzufangen.
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Soweit Dr. C meint, im Vordergrund müsse die allgemeine Gewichtsreduktion stehen,
da proportional zur Reduktion des Körpergewichts auch das Gewicht der Mammae
reduziert werde, hat Dr. E darauf hingewiesen, dass sich diese Aussage in der Regel
auf jüngere Frauen mit einer Volumen verstärkten Brust beziehe. Bei der Klägerin sei
die Situation eine andere: In ihrem Alter sei das Gewebe völlig erschlafft, es sei bereits
zu einem massiven Durchhängen des Brustdrüsenkörpers nach unten gekommen und
die Brüste hätten gigantische Ausmaße erreicht, die auch mit einer entsprechenden
Gewichtsreduktion nicht zu korrigieren seien. Sie ist auch der im Gutachten von Dr. W
vertretenen Auffassung entgegen getreten, dass Frauen mit einem Body-Mass-Index
von 40 kg pro qm Körperoberfläche eine derartige oder vergleichbare Brustgröße hätten.
Frauen mit einem derartigen Übergewicht seien in der Bundesrepublik sicher nicht
selten, eine Brustveränderung, wie sie bei der Klägerin vorliege, sei jedoch auch für den
erfahrenen plastischen Chirurgen ein eher seltener Anblick.
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Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass auch bei einer Reduzierung des Gewichts der
Mammae wegen der Hautveränderungen sich nichts an der Ptose ändern würde (so
schon Dr. X in seiner Bescheinigung vom 04.12.2001), so dass der von Dr. E
beschriebene ziehende und zergelnde Effekt der herabhängenden Brustdrüsenkörper,
den sie für einen Teil der von der Klägerin beklagten Beschwerden verantwortlich
macht, weiter bestehen bliebe. Die Sachverständige verkennt auch nicht, dass bei der
Klägerin ein massives Übergewicht vorliegt, das jedoch in diesem Fall als zusätzliche
Krankheit anzusehen sei. Dass die Operation unabhängig von einer - sicherlich
notwendigen und anzustrebenden - allgemeinen Gewichtsreduktion allein schon wegen
der Ptose und der Ungleichgewichtigkeit der Brüste notwendig ist, um eine erhebliche
Besserung der Beschwerdesymptomatik hinsichtlich des Halswirbelsäulen- und
Schulterbereichs sowie des oberen Brustwirbelsäulenbereichs zu erreichen, hat sie
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überzeugend begründet.
Vor diesem Hintergrund ist es unerheblich, dass wissenschaftlich gesicherte
Erkenntnisse zum ursächlichen Zusammenhang zwischen Brustgröße und
orthopädischen Gesundheitsstörungen nicht vorliegen (vergl. LSG Baden- Württemberg,
Urteil vom 18.10.2002 - L 4 KR 4692/01). In den weitaus meisten Fällen mag tatsächlich
zu bezweifeln sein, dass eine Brustverkleinerungsoperation zur Behandlung
orthopädischer Gesundheitsstörungen erforderlich sein kann. Angesichts der von der
Sachverständigen in diesem Fall als außergewöhnlich beschriebenen Brustgröße und -
form und der (altersbedingten) degenerativen Veränderungen der Brustwirbelsäule liegt
bei der Klägerin ein Ausnahmefall vor, für den die Sachverständige nachvollziehbar
begründet hat, dass schon allein die Brustverkleinerungsoperation zu einer Besserung
der auf orthopädischem Gebiet liegenden Beschwerden führen wird.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
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Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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