Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.09.1999

LSG NRW: reformatio in peius, entschädigung, dolmetscher, bach, ermessen, rechtspflege, privatwirtschaft, handelskammer, polnisch, industrie

Landessozialgericht NRW, L 4 B 8/99
Datum:
10.09.1999
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 4 B 8/99
Vorinstanz:
Sozialgericht Gelsenkirchen, S 4 (22) AL 111/97
Sachgebiet:
Sonstige Angelegenheiten
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des
Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 16.11.1998 geändert. Die
Entschädigung des Antragstellers wird auf 174,00 DM festgesetzt.
Gründe:
1
Die am 03.05.1999 eingelegte - gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 des Gesetzes über die
Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ZSEG) nicht fristgebundene (vgl.
auch Meyer/Höver/Bach, Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und
Sachverständigen, 20. Aufl. 1997, § 16 Rz. 3) - Beschwerde des Bezirksrevisors
(Beschwerdeführers) gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Gelsenkirchen vom
16.11.1998, der das SG nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfe-Beschluss vom 06.05.1999),
ist, weil der Beschwerdewert des § 16 Abs. 2 Satz 1 ZSEG von DM 100 überschritten
wird, zulässig und auch begründet. Der antragstellende Dolmetscher für die polnische
Sprache (Beschwerdegegner) hat für die viertelstündige Tätigkeit für das SG im Termin
vom 07.05.1998 keinen Anspruch auf eine höhere Entschädigung als 174,-- DM.
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Dieser Festsetzung noch unterhalb des von der Anweisungsstelle des SG am
30.06.1998 festgesetzten Betrages von 261,-- DM steht nicht das Verbot der reformatio
in peius (Verschlechterungsverbot) entgegen, denn dieses Verbot greift bei der
gerichtlichen Festsetzung gegenüber der im Verwaltungswege berechneten
Entschädigung nicht ein. Die gerichtliche Festsetzung ist keine Abänderung der von der
Anweisungsstelle vorgenommenen Berechnung, sondern eine davon unabhängige
erstmalige Festsetzung nach § 16 ZSEG, durch die eine vorherige Berechnung der
Entschädigung im Verwaltungswege gegenstandslos wird (Meyer/Höver/Bach aaO Rz.
9.2).
3
Nach § 17 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Satz 1 ZSEG beträgt die dem
herangezogenen Dolmetscher zu gewährende Entschädigung für jede Stunde der
erforderlichen Zeit 50,-- bis 100,-- DM. Für die Bemessung des Stundensatzes sind nach
§ 3 Abs. 2 Satz 2 ZSEG der Grad der erforderlichen Fachkenntnisse, die Schwierigkeit
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der Leistung sowie besondere Umstände, unter denen die Dolmetschertätigkeit zu
erbringen war, maßgebend.
Zu Recht hat das SG einen Stundensatz von 75,-- DM als Grundentschädigung
festgesetzt, den der Beschwerdegegner in seiner Honorarabrechnung vom 15.06.1998
auch zunächst selbst beantragt hatte. Dieser mittlere Stundensatz ist grundsätzlich
zugrunde zu legen. Bei dem Polnischen handelt es sich um eine gängige europäische
Sprache. Soweit sich der Beschwerdegegner auf die Erforderlichkeit besonderer
Fachkenntnisse beruft, weil eine Sozialgerichtsbarkeit nach deutschem Muster in Polen
erst in der Entwicklungsphase begriffen sei, ist dies keine Besonderheit bei der
Übersetzung vom Deutschen ins Polnische. Auch andere europäische Länder haben
keine Deutschland vergleichbare Sozialgerichtsbarkeit. Insbesondere aber kommt es
nur darauf an, daß der jeweilige Kläger der mündlichen Verhandlung in seinem eigenen
Verfahren folgen kann, und nicht darauf, daß er zusätzlich Grundzüge der
Sozialgerichtsbarkeit versteht. Auch die Anforderungen an die Erfahrung des
Dolmetschers, auf die sich der Beschwerdegegner weiter bezieht, sind nicht anders als
bei anderen Sprachen. Ob der Dolmetscher schließlich generell in der Lage ist, simultan
zu dolmetschen, ist unerheblich. Die Sitzungsniederschrift vom 07.05.1998 enthält
jedenfalls keinerlei Hinweise darauf, daß ein echtes Simultandolmetschen gefordet war;
der Beschwerdegegner hat das auch nicht behauptet.
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Die hier somit zugrunde zu legende Entschädigung von 75,-- DM pro Stunde (so auch
Beschlüsse des erkennenden Senates vom 27.08.1997, L 4 S 5/97, und 18.02.1998, L 4
S 8/97; vgl. auch Meyer/Höver/Bach aaO § 17 Rz. 3) kann nach § 3 Abs. 3 Buchst. b
ZSEG nach billigem Ermessen um bis zu 50 v.H. überschritten werden, wenn der
Dolmetscher durch die Dauer oder die Häufigkeit seiner Heranziehung einen nicht
zumutbaren Erwerbsverlust erleiden würde oder wenn er seine Berufseinkünfte zu
mindestens 70 v.H. als gerichtlicher oder außergerichtlicher Dolmetscher erzielt. Auf
diese Erhöhung hat der Beschwerdegegner, auch wenn davon auszugehen ist, daß er
mindestens 70 v.H. seiner Einnahmen aus Dolmetschertätigkeit erzielt, keinen
Anspruch. Das nach § 3 Abs. 3 Buchst. b ZSEG eingeräumte billige Ermessen wird
nämlich nach der Rechtsprechung des erkennenden Senates (siehe die oben
genannten Beschlüsse sowie die vom 07.11.1996, L 4 S 5/96, und 06.10.1998, L 4 B
7/98) dahingehend ausgeübt, daß die Differenz zwischen der nach § 3 Abs. 2 ZSEG zu
gewährenden Grundentschädigung und dem Entgelt, das der Dolmetscher für eine
entsprechende Leistung in der privaten Wirtschaft oder in sonstigen Bereichen
außerhalb der Rechtspflege erzielt hätte, auf ein für ihn annehmbares Maß zu
reduzieren ist (vgl. dazu auch Meyer/Höver/Bach aaO § 3 Rn. 45.7). Das bedeutet
zugleich, daß der Dolmetscher, der für die Tätigkeit in der Rechtspflege lediglich
angemessen entschädigt werden soll, einen gewissen Einkommensverlust
hinzunehmen hat, bevor es zu einer Erhöhung des Stundensatzes im Sinne von § 3
Abs. 2 ZSEG kommen kann. Die Erhöhung nach § 3 Abs. 3 ZSEG kommt also erst bei
einer unzumutbaren Einbuße in Betracht.
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Ob ein Erwerbsverlust unzumutbar ist, ergibt sich zwar aus den Umständen des
Einzelfalles. Jedoch hat die Rechtsprechung Richtwerte entwickelt, unterhalb derer
grundsätzlich von einem zumutbaren Erwerbsverlust auszugehen ist. Diese Richtwerte
der zumutbaren Erwerbseinbußen liegen zwischen 20 und 25 %. Das bedeutet, daß ein
Erwerbsverlust von unter 20 % in aller Regel hinzunehmen ist. Ein Erwerbsverlust von
20 bis zu 25 % kann hinnehmbar sein, wenn im Rahmen des nach § 3 Abs. 3 ZSEG
eingeräumten Ermessens im konkreten Einzelfalle keine Besonderheiten erkennbar
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sind. Erwerbseinbußen von über 25 % sind hingegen in der Regel ausgleichsfähig.
Dabei ist aber entgegen der Handhabung durch das Vordergericht zu beachten, daß
auch über die Höhe des Zuschlages nach § 3 Abs. 3 ZSEG eine
Ermessenentscheidung nach den Umständen des Einzelfalles zu treffen ist. Dabei wird
es sich anbieten, die Überschreitung nach § 3 Abs. 3 Buchst. b ZSEG daran
auszurichten, daß die Erwerbseinbuße des Dolmetschers auf ein zumutbares Maß
zurückgeführt wird.
Im vorliegenden Falle ist davon auszugehen, daß der Beschwerdegegner entgegen den
Ausführungen des SG keine Erwerbseinbuße von mehr als knapp über 21 % zu erleiden
hat. Denn auch für einen Dolmetscher für die polnische Sprache kann realistischerweise
unterstellt werden, daß der durchschittliche Stundensatz in der Privatwirtschaft nicht
mehr als DM 95 beträgt. Von einem solchen durchschnittlichen Stundensatz außerhalb
der Tätigkeit für die Gerichte ist der erkennende Senat nach ausführlichen
Tatsachenerhebungen bereits für eine Dolmetschertätigkeit hinsichtlich der serbo-
kroatischen Sprache (Beschluss vom 27.08.1997, L 4 S 5/97), der spanischen Sprache
(Beschluss vom 29.04.1998, L 4 B 9/97) und der türkischen Sprache (Beschlüsse vom
18.02.1998, L 4 S 8/97, und 06.10.1998, L 4 B 7/98) ausgegangen. Schon aus
Gleichbehandlungsgründen besteht kein Anlaß, bei Übersetzungen betreffend die
polnische Sprache etwas anderes anzunehmen. Hinzu kommt, daß nach der in den
Akten befindlichen Auskunft der Industrie- und Handelskammer für Essen, Mülheim a.d.
Ruhr und Oberhausen vom 07.08.1996 für eine eintägige Dolmetschertätigkeit 250,--
DM und für eine solche von Mittwochabend bis Freitagmittag 600,-- DM pauschal
bezahlt worden sind, woraus sich bei der Annahme einer Tätigkeit von 16 Stunden ein
Stundensatz von DM 37,50 ergeben würde. Andere vom SG eingeholte Auskünfte mit
erheblich höheren Stunden- und Tagessätzen beziehen sich hingegen auf das weit
schwierigere und anstrengendere Simultandolmetschen über einen längeren Zeitraum.
Wird aber im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu
Dolmetschertätigkeiten betreffend andere europäische Sprachen auch für Polnisch ein
durchschnittlicher Stundensatz von DM 95 in der Privatwirtschaft zugrundegelegt, so hat
der Beschwerdegegner eine Erwerbseinbuße von etwa 21 % zu erleiden. Das bewegt
sich in dem Rahmen, in dem der Erwerbsverlust noch hinnehmbar sein kann.
Anhaltspunkte dafür, daß dies hier im Falle des Beschwerdegegners nicht sachgerecht
wäre, sind unter Berücksichtigung der Sitzungsniederschrift des SG vom 07.05.1998
nicht ersichtlich.
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Schließlich steht dem Beschwerdegegner, wie der Beschwerdeführer richtig ausgeführt
hat, nur die Grundentschädigung für zwei Stunden zu, weil die eigentliche Einsatzzeit
lediglich eine Viertelstunde betragen und der Beschwerdegegner nach seinen eigenen
Angaben vom 15.06.1998 seine Anreise um 10.45 Uhr angetreten und um 12.00 Uhr
beendet hat, also nicht einmal zwei volle Stunden unterwegs war. Der Zeitaufwand von
1 1/4 Stunden ist aber gemäß § 3 Abs. 2 Satz 3 ZSEG auf zwei Stunden aufzurunden.
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Daraus ergibt sich folgende Dolmetscherentschädigung:
10
150,- DM
11
Grundentschädigung (2 Std. à 75,- DM)
12
24,- DM
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MWSt. (16 v.H.)
14
Summe 174,- DM
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Diese Entscheidung ergeht nach § 16 Abs. 5 ZSEG kostenfrei und ist gemäß § 16 Abs.
2 Satz 4 ZSEG unanfechtbar.
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