Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 05.06.2014

LSG Niedersachsen: heirat, gesetzliche vermutung, künstlicher darmausgang, witwenrente, unbestimmter rechtsbegriff, tod, krankheit, lungenentzündung, pflegeheim, hochzeit

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Rentenversicherung
SG Lüneburg 1. Kammer, Gerichtsbescheid vom 05.06.2014, S 1 R 18/13
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Witwenrente.
Die am 04.09.1940 geborene Klägerin schloss mit dem am 22.11.1939
geborenen Versicherten Herrn E. (hier: Herr M.) am 20.12.2011 die Ehe. Am
30.03.2012 ist Herr M. verstorben.
Am 20.04.2012 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung
einer Witwenrente. Mit dem Schreiben vom 14.04.2012 wies die Beklagte die
Klägerin darauf hin, dass eine Witwenrente gemäß § 46 Abs. 2a SGB VI
ausgeschlossen sei, da die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert habe und
die gesetzliche Vermutung, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck
der Heirat gewesen sei, einen Anspruch auf eine Hinterbliebenenversorgung
zu begründen, bislang nicht widerlegt sei. Daraufhin trug die seinerzeitige
Prozessbevollmächtigte der Klägerin vor, dass die Klägerin mit ihrem Sohn
bereits am 15.10.1989 zu Herrn M. gezogen sei und sie daher schon 22 Jahre
vor der Heirat in einem Haushalt als Familie zusammengelebt hätten. Die
Klägerin habe sich um den gemeinsamen Haushalt und den Garten, Herr M.
um den landwirtschaftlichen Betrieb, in den sie sich im Laufe der Jahre
eingearbeitet habe, gekümmert. Zuletzt seien beide Rentner gewesen. Die
Klägerin habe eine eigene Rente von ca. 950,00 €, Herr M. eine solche von ca.
1000,00 € bezogen. Hiervon sei auch der gemeinsame Lebensunterhalt
finanziert worden. Als die Klägerin bei Herrn M. 1989 eingezogen sei, seien die
Möbel und der Hausrat komplett neu angeschafft worden. 1992 habe sich das
Paar gemeinsam ein Wohnmobil und im Jahr 1995 eine neue Küche gekauft.
Seit 5 Jahren habe die Klägerin eine Kontovollmacht über das Girokonto von
Herrn M. besessen, der seinerseits eine Vollmacht für das Konto der Klägerin
gehabt habe. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei daher eine
Versorgungsehe auszuschließen. Auch die lange Dauer des
Zusammenlebens würde gegen eine Versorgungsehe sprechen. Denn es sei
1989 bereits klar gewesen, dass das Paar habe zusammenbleiben wollen.
Darüber habe man sich oft unterhalten. Im Übrigen habe Herr M. der Klägerin
bereits vor 6 Jahren einen Heiratsantrag gemacht. Dieser sei ihr jedoch zu
plump gewesen, da er die Ringe einfach unter den Weihnachtsbaum gelegt
habe, wo sie diese erst am nächsten Tag zufällig entdeckt habe. Es sei
damals nur deshalb nicht zu einer Heirat gekommen, weil sich die Klägerin
einen Heiratsantrag romantischer vorgestellt habe. Bei der Heirat am
20.12.2011 hätten dann die romantischen Voraussetzungen für die Klägerin
gestimmt. Mit einem so baldigen Tod von Herrn M. habe sie nicht gerechnet.
Aus beigezogenen medizinischen Unterlagen ergab sich allerdings, dass bei
Herrn M. im Oktober 2011 ein Sigmakarzinom diagnostiziert wurde. Im
Klinikum F. erfolgte daraufhin am 10.10.2011 eine operative Teilentfernung
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des Mastdarms unter Mitnahme eines Teils des Bauchfells und des
Wurmfortsatzes, da während des operativen Eingriffs eine entsprechende
Metastasierung festgestellt worden war. Ferner wurde ein künstlicher
Darmausgang gelegt. Am 20.11.2011 erlitt Herr M. zudem einen Hirninfarkt
und wurde deswegen in der Zeit vom 22.11.2011 in der neurologischen
Abteilung des G. behandelt. Dort ergab sich im weiteren Verlauf der
stationären Behandlung keine Verbesserung der körperlichen und kognitiven
Belastbarkeit und des neurologischen Störungsbildes, da die
Tumorerkrankung zunehmend das Krankheitsgeschehen beherrschte. Im
Entlassungsbericht wurden u. a. folgende Diagnosen angegeben:
- Hirninfarkt rechts (anterior sowie multiple kleine Mediainfarkte) durch
Embolie zerebraler Arterien am 20.10.2011,
- höchstgradige Stenose der Arteria carotis interna rechts, Harnwegsinfekt,
- Enterokokken als Ursache von Krankheiten, die in anderen Kapiteln
klassifiziert sind,
- stenosierendes siegelringzelliges Sigmaadenokarzinom,
- anteriore Rektumresektion,
- Peritonealkarzinose, Chemotherapie 13.10.2011,
- V. a. Hypophysenmakroadenom,
- Anämie infolge Tumorleiden,
- Dekubitalgeschwür 3. Grades, sakral,
- koronare Herzkrankheit,
- arterieller Hypertonus,
- inkomplette Hypästhesie der Haut links (Extremitäten),
- schlaffe Hemiparese links,
- V. a. Polyneuropathie durch sonstige toxische Agenzien (Chemotherapie),
- chronische Nierenkrankheit, Stadium 3, passager dekompensiert,
- Hyperurikämie,
- Vorhandensein eines Ileostomas,
- transistorische ischämische Attacke rechts cerebral am 19.10.2011,
- Gonarthrose beidseitig.
Am 08.12.2011 erfolgte die Verlegung in das Alten- und Pflegeheim H., wo sich
der Gesundheitszustand von Herrn M. abermals verschlechterte. So wurde
nach anhaltendem Erbrechen am 19.12.2011 eine Magensonde angelegt und
außerdem der palliative Dienst eingeschaltet. Dem Krankenblatt vom
19.12.2011 zufolge war an diesem Tag eine weitere Verschlechterung des
allgemeinen Zustands zu erwarten, da sich herausgestellt hatte, dass die
distale Naht am Colon brüchig war. In dem Krankenblatt wurde auch
ausgeführt, dass hierüber ein Gespräch mit den Angehörigen geführt wurde. In
dieser Situation wurde am 20.12.2011 im Pflegeheim die Ehe geschlossen. Mit
dem Bescheid vom 02.07.2012 lehnte die Beklagte die Gewährung einer
Hinterbliebenenrente ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt,
dass die Vermutung des § 46 Abs. 2 a SGB VI nicht widerlegt worden sei.
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Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die
Prozessbevollmächtigte der Klägerin geltend, dass der Tod von Herrn M. nicht
aufgrund seiner Krebserkrankung, sondern plötzlich und unerwartet aufgrund
einer Lungenentzündung eingetreten sei. Die Klägerin habe zusammen mit
ihren Kindern den landwirtschaftlichen Betrieb von Herrn M. weitergeführt, weil
dies für ihn sehr wichtig gewesen sei und sie ihm dies stets versprochen habe.
Außerdem habe Herr M. schon lange vor dem Auftreten der Erkrankung
konkrete Heiratsabsichten gehabt, wobei zwei Motive hierfür wesentlich
gewesen seien. Zum einen habe er sich die Betreuung und Pflege durch seine
Ehefrau sichern wollen. Zum anderen sei er dabei einer religiösen Eingebung
gefolgt, da er das starke Gefühl gehabt habe, dass seine Heirat Gottes Wille
sei. Diesem habe er unbedingt nachkommen wollen. Herr M. sei ein sehr
gläubiger Mensch gewesen, der jeden Tag auch zusammen mit seinen
Kindern gebetet habe. Als seine Krankheit aufgetreten sei, habe sich sein
Glaube noch verstärkt. Er habe von der Schöpfungsgeschichte gesprochen,
wo geschrieben stehe, dass es nicht gut sein, wenn der Mensch alleine
sei. Außerdem habe Gott gesagt, dass man „ein Fleisch nicht trennen könne“.
Auch die Klägerin habe Herrn M. schon lange heiraten wollen, jedoch auf
einen noch romantischeren Heiratsantrag gewartet und sich die Hochzeit für
einen ganz besonderen Moment aufsparen wollen. Darüber, dass einer von
ihnen erkranken und bald versterben würde, habe sie nicht nachgedacht. Die
Klägerin habe sich dann für die Heirat entschieden, um den Wunsch ihres
Ehemannes nachzukommen. Sie habe sich gefreut, nun ihre Liebe zu
besiegeln. Sie habe auch gehofft, dass ihm dies Auftrieb in einer schweren
Lebensphase geben würde. Genau dies sei auch geschehen, da Herr M. nach
der Heirat noch einmal richtig aufgeblüht sei.
Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 11.12.2012
zurückgewiesen. Darin wurde außerdem darauf hingewiesen, dass aus den
Pflegeprotokollen nach der Hochzeit weiterhin die Vergabe von Morphium zur
Schmerzlinderung zu entnehmen sei. Zwar habe sich Herr M. ab dem
03.01.2012 in einem gebesserten Allgemeinzustand befunden. Seitens der
behandelnden Ärzte und Pflegekräfte sei jedoch von einer langfristig
ungünstigen Prognose ausgegangen und der palliative Therapieansatz
aufrechterhalten worden. Aus den Pflegeprotokollen würde sich ergeben, dass
darüber auch die Klägerin in Gesprächen informiert worden sei. Zwar sei die
plötzlich aufgetretene Lungenentzündung ursächlich für den Tod von Herrn M.
gewesen. Diese sei aber aufgrund der längeren Immobilisation von Herrn M.
entstanden.
Hiergegen hat die Klägerin durch ihre seinerzeitige Prozessbevollmächtigte am
09.01.2013 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben und ihr
Begehren weiterverfolgt. Im Schriftsatz vom 20.03.2014 hat die jetzige
Prozessbevollmächtigte außerdem vorgetragen, dass Herr M. und die Klägerin
auch deshalb so spät geheiratet hätten, weil sie sich nicht über den Ehenamen
hätten verständigen können. Die Klägerin habe nicht „I.“ heißen wollen und
Herr M. habe sich nicht vorstellen können, einen anderen als seinen Namen
zu tragen. Zudem sei die Klägerin im Jahr 2010 selbst an Brustkrebs erkrankt.
Erst nach der Überwindung dieser Krankheit hätten sich die Eheleute darauf
verständigt, einen Doppelnamen für die Klägerin zu wählen. Außerdem habe
sie nach ihrer Krebserkrankung erst wieder richtig auf die Beine kommen
wollen, bevor sie heiratet. Durch die Krebserkrankung ihres Ehemannes habe
die Hochzeit erneut verschoben werden müssen. Der behandelnde Arzt habe
der Klägerin jedoch zu verstehen gegeben, dass ihr Mann mit dieser
Erkrankung noch einige Jahre leben könne. Im Übrigen habe Herr M. nicht die
Absicht gehabt, im Pflegeheim zu bleiben. Er sei auch sehr optimistisch
gewesen, dieses Ziel zu erreichen. Er habe bereits Pläne für die Zukunft
gehabt und sei davon ausgegangen, das er bald wieder gesund werden
würde, wieder Holzmachen und mit dem Wohnmobil Reisen unternehmen
könne. Damit, dass er plötzlich und unerwartet eine Lungenentzündung
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bekommen habe, habe niemand rechnen können. Die Eheleute hätten eine
Liebesheirat vollzogen. Das Zusammenleben sei nicht ohne Trauschein
konzipiert gewesen.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 02.07.2012 und
den Widerspruchsbescheid vom 11.12.2012 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab dem 01.04.2012 eine
große Witwenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung lagen die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten
zugrunde. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind
rechtmäßig, da die Klägerin keinen Anspruch auf eine Witwenrente hat.
Gem. § 46 Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Witwen, die nicht wieder geheiratet
haben, nach dem Tode des versicherten Ehegatten, der die allgemeine
Wartezeit erfüllt hat, u. a. dann Anspruch auf große Witwenrente, wenn sie das
45. Lebensjahr vollendet haben. Diese Voraussetzungen sind zwar vorliegend
erfüllt, da die Klägerin die Witwe des am 30.03.2012 verstorbenen
Versicherten Herrn M. ist, der wiederum die allgemeine Wartezeit von fünf
Jahren gemäß § 50 Abs. 1 SGB VI erfüllt hatte. Sie hatte im Zeitpunkt des
Todes von Herrn M. auch das 45. Lebensjahr vollendet.
Die Gewährung einer Witwenrente scheitert hier jedoch an § 46 Abs. 2a SGB
VI, der mit Wirkung vom 01.01.2002 durch das
Altersvermögensergänzungsgesetz vom 21.03.2001 (BGBl I 403) eingeführt
worden ist und für alle seit dem 01.01.2002 geschlossenen Ehen gilt (vgl.
§ 242a Abs. 3 SGB VI). Danach ist der Anspruch auf Witwenrente
ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei
denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht
gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat
war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Da die
Ehe zwischen der Klägerin und Herrn M. weniger als ein Jahr gedauert hat,
nämlich vom 20.12.2011 bis 30.03.2012, ist der Tatbestand des § 46 Abs. 2a
Halbsatz 1 SGB VI erfüllt.
Im vorliegenden Fall liegen aber keine besonderen Umstände vor, aufgrund
derer trotz der kurzen Ehedauer die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es
der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf
Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Die Anknüpfung an die Ehedauer
von weniger als einem Jahr enthält hierbei die gesetzliche Vermutung, dass
beim Tod innerhalb dieses Zeitraums die Erlangung der Versorgung
regelmäßig das Ziel der Eheschließung war (vgl. BT-Drucksache 14/4595 S.
44). Sie kann widerlegt werden, wenn Umstände vorliegen, die trotz kurzer
Ehedauer nicht auf eine Versorgungsehe schließen lassen, was nach der
Gesetzesbegründung zum Beispiel bei einem Unfalltod angenommen wird.
Das Merkmal "besondere Umstände" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der
von den Rentenversicherungsträgern und den Sozialgerichten mit Inhalt
ausgefüllt werden muss und der vollen richterlichen Kontrolle unterliegt (vgl.
BSG, Urt. v. 05.05.2009 - B 13 R 55/08 R, m. w. N.). Darunter fallen alle
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äußeren und inneren Umstände des Einzelfalls, die auf einen von der
Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen
lassen. Es kommt auf die Beweggründe, d.h. Motive und Zielvorstellungen,
beider Ehegatten an.
Die Annahme einer Versorgungsehe ist nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die
Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beider Eheleute für die
Heirat ergibt, dass andere Beweggründe als die Versorgungsabsicht
insgesamt den Versorgungszweck überwiegen oder zumindest gleichwertig
sind (vgl. Thüringer LSG, Urt. v. 29.10.2013 – L 6 R 1610/10).
In der o. g. Entscheidung hat das BSG die Vorschrift als verfassungskonform
angesehen und darüber hinaus Folgendes ausgeführt: "Ein gegen die
gesetzliche Annahme einer Versorgungsehe sprechender besonderer
(äußerer) Umstand i. S. des § 46 Abs. 2a Halbsatz 2 SGB VI ist insbesondere
dann anzunehmen, wenn der Tod des Versicherten, hinsichtlich dessen bisher
kein gesundheitliches Risiko eines bevorstehenden Ablebens bekannt war,
unvermittelt ("plötzlich" und "unerwartet") eingetreten ist. Denn in diesem Fall
kann nicht davon ausgegangen werden, dass es alleiniger oder
überwiegender Zweck der Heirat war, dem Ehegatten eine
Hinterbliebenenversorgung zu verschaffen. In der Gesetzesbegründung wird
als ein Beispiel hierfür der "Unfalltod" genannt (BT-Drucks 14/4595 S 44).
Hingegen ist bei Heirat eines zum Zeitpunkt der Eheschließung offenkundig
bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidenden Versicherten in der
Regel der Ausnahmetatbestand des § 46 Abs. 2a Halbsatz 2 SGB VI nicht
erfüllt. Jedoch ist auch bei einer nach objektiven Maßstäben schweren
Erkrankung mit einer ungünstigen Verlaufsprognose und entsprechender
Kenntnis der Ehegatten der Nachweis nicht ausgeschlossen, dass dessen
ungeachtet (überwiegend oder zumindest gleichwertig) aus anderen als aus
Versorgungsgründen geheiratet wurde. Allerdings müssen dann bei der
abschließenden Gesamtbewertung diejenigen besonderen (inneren und
äußeren) Umstände, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, umso
gewichtiger sein, je offenkundiger und je lebensbedrohlicher die Krankheit
eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung gewesen war.
Dementsprechend steigt mit dem Grad der Lebensbedrohlichkeit einer
Krankheit und dem Grad der Offenkundigkeit zugleich der Grad des Zweifels
an dem Vorliegen solcher vom hinterbliebenen Ehegatten zu beweisenden
besonderen Umstände, die von diesem für die Widerlegung der gesetzlichen
Annahme ("Vermutung") einer Versorgungsehe bei einem Versterben des
versicherten Ehegatten innerhalb eines Jahres nach Eheschließung angeführt
werden." Die besonderen Umstände müssen außerdem nach § 202 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 292 der Zivilprozessordnung (ZPO) mit
Vollbeweis belegt werden (vgl. BSG, Urt. v. 03.09.1986 - 9a RV 8/84).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist zunächst festzustellen, dass Herrn M.
seit Oktober 2011 nicht nur an einer Darmkrebserkrankung litt. Vielmehr traten
sich in der Folgezeit mehrere gravierende Probleme hinzu, wie sie in der
eindrucksvollen Liste der Diagnosen im Entlassungsbericht des J. vom
08.12.2011 aufgeführt sind (z. B. Hirninfarkt am 22.11.2011; Niereninsuffizienz,
koronare Herzkrankheit, Enterokokkeninfektion etc.). Daraufhin wurde Herr M.
am 08.12.2011 in das Pflegeheim verlegt, wo sich nach den Pflegeprotokollen
der Zustand weiter verschlechterte und insbesondere durch anhaltendes
Erbrechen geprägt war. Dies führte zur Einschaltung des palliativen Dienstes
und am 19.12.2011 zur Anlegung einer Magensonde. Es kann nun keinem
Zweifel unterliegen, dass es sich bereits allein bei der diagnostizierten
Darmkrebserkrankung, zumal bereits eine Metastasierung festgestellt worden
war, um eine potentiell lebensbedrohliche Krankheit handelt, bei der mit einem
möglichen Tod von Herrn M. gerechnet werden musste. Durch das Hinzutreten
der weiteren Gesundheitsstörung ist jedoch im Dezember 2011 eine Situation
mit einer Vielzahl von lebensbedrohlichen Parametern entstanden, die an
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Dramatik kaum zu überbieten war. Bei einem derart gravierenden,
lebensbedrohlichen und multimorbiden Krankheitsbild musste bei lebensnaher
Betrachtungsweise die Klägerin daher jederzeit damit rechnen, dass weitere
Komplikationen auftreten, an denen Herr M. auch versterben hätte können. Sie
selbst hat sogar eingeräumt, dass sein Körper bereits so geschwächt war,
dass er die später hinzugekommene Lungenentzündung nicht mehr
bekämpfen konnte. Das Vorbringen, dass sie nicht mit dem Tod ihres Mannes
gerechnet habe, hält die Kammer daher für abwegig. Dementsprechend ist
nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen die Messlatte für die
Widerlegung der Rechtvermutung im vorliegenden Fall extrem hoch.
Vor diesem Hintergrund kann die Kammer aus dem weiteren Vorbringen der
Klägerin keine Umstände entnehmen, welche die Rechtsvermutung
widerlegen könnten.
Dabei kann als wahr unterstellt werden, dass sich Herr M. schon lange mit dem
Gedanken getragen hat, die Klägerin zu heiraten. Wie ausgeführt, kommt es
jedoch auf die Motive von beiden Partnern an. Offensichtlich konnte jedoch
das Zusammenleben als Ehepaar in all den Jahren aus unterschiedlichen
Gründen nicht realisiert werden, sei es, dass der erste Heiratsantrag von Herrn
M. offenbar erst nach 16 Jahren des Zusammenlebens erfolgte, sei es, dass
die romantischen Voraussetzungen der Klägerin nicht stimmten, sei es, dass
sie sich die Hochzeit für einen ganz besonderen Moment aufsparen wollte
oder keine Einigung über den Ehenamen erzielt werden konnte. Das lange
eheähnliche Zusammenleben der Klägerin mit Herrn M. vor der Heirat spricht
vielmehr eher dafür, das dieses ohne den Rahmen der Ehe konzipiert war und
die Hürden für eine Heirat in all den Jahren zu groß waren, um den
entscheidenden Schritt zu vollziehen. Vor dem Hintergrund des jahrelangen
Zusammenlebens in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft bliebe es im
Übrigen auch unerfindlich, warum die Klägerin und Herr M. die romantischen
Voraussetzungen nicht alsbald nach dem misslungenen Heiratsantrag wahr
werden ließen, wenn beiden Partnern so sehr an der Heirat gelegen war.
Weiterhin lässt sich das Argument der Klägerin, dass eine Heirat bzw.
Hochzeitsfeier nur bei Vorliegen der romantischen Voraussetzungen und einer
ausreichenden körperlichen Fitness in Frage kam, auch nicht damit zur
Deckung bringen, dass die Ehe gerade zu einem Zeitpunkt geschlossen
wurde, als Herr M. – wie oben dargestellt – durch mehrere gravierende
Krankheiten schwerst angeschlagen und in extremster Weise gehandicapt im
Pflegeheim lag.
Außerdem ist auch nicht davon auszugehen, dass die finanzielle Situation der
Klägerin auch ohne die Hinterbliebenenrente völlig gesichert war, da ihr für
sich und die Weiterführung des Hofs nach dem Wegfall der Rente von Herrn
M. lediglich die eigene Rente i. H. v. nur 950,00 € verbleibt.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass dem Umstand, dass sich der
Zustand von Herrn M. nach der Eheschließung kurzfristig besserte und er am
30.03.2012 nicht an der Darmkrebserkrankung, sondern an den Folgen einer
Lungenentzündung verstorben ist, keine Bedeutung zukommt, da auf die
Sachlage und die Motive zum Zeitpunkt der Eheschließung abzustellen ist.
Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt
geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Die
Beteiligten haben sich mit dieser Entscheidungsform auch einverstanden
erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.