Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 07.02.2002

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 07.02.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 1a SB 10308/95
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5/9 SB 123/98
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Kläger nach den Maßstäben des Schwer-behindertengesetzes (SchwbG)
oder des Sozialgesetzbuches – Neuntes Buch – (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen als
Schwerbehinderter anzuerkennen ist.
Der am H. geborene Kläger stellte am 25. Dezember 1994 einen Antrag nach dem SchwbG wegen zahlreicher
Gesundheitsstörungen.
Das Versorgungsamt (VA) Oldenburg holte Befundberichte des Augenarztes Dr. I. vom 24. Januar 1995 und des
Arztes für Allgemeinmedizin Dr. J. vom 11. März 1995 ein, denen jeweils weitere ärztliche Unterlagen beigefügt
waren, und stellte mit Be-scheid vom 24. April 1995 den Grad der Behinderung (GdB) ab 25. Dezember 1994 mit 30
fest für folgende Funktionsstörung:
"Psycho-vegetatives Erschöpfungssyndrom mit multiplen körperlichen Beschwer-den”.
Der auf Zuerkennung eines GdB von 50 gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Wi-derspruchsbescheid vom 9. August
1995).
Den am 9. August 1995 abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger mit der am 4. September 1995
eingegangenen Klage angegriffen. Diese hat er damit be-gründet, er habe aufgrund eines Weichteilrheumatismus
starke Schmerzen mit Ein-schränkung der Bewegungsfähigkeit und folgenden Schlafstörungen, ferner leide er an
einem Cluster-Kopfschmerz, der dazu führe, dass das linke Augenlid nicht voll-ständig zu heben sei und die
Sehfähigkeit nachgelassen habe.
Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat Befundberichte der Neurologen Prof. Dr. K., des Arztes für Allgemeinmedizin
Dr. L., des Orthopäden Dr. M., des Augenarztes Dr. I. und des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. J. eingeholt. Im
Verlauf des Klage-verfahrens hat der Beklagte unter Beibehaltung des GdB von 30 die Behinderung wie folgt
bezeichnet (Ausführungsbescheid vom 26. Mai 1998):
"1. Psychovegetatives Erschöpfungssyndrom mit multiplen körperlichen Be-schwerden vor allem am
Bewegungsapparat,
2. Schuppenflechte”.
Das SG hat Beweis erhoben durch Untersuchungsgutachten der Neurologen Prof. Dr. N. vom 1. Mai 1997. Dem
Gutachten folgend hat es mit Gerichtsbescheid vom 16. April 1998 die Klage abgewiesen. In den
Entscheidungsgründen, auf deren Ein-zelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, das medizinische
Beweisergeb-nis habe ein im Vordergrund stehendes psychovegetatives Erschöpfungssyndrom mit multiplen
körperlichen Beschwerden vor allem im Bewegungsapparat belegt, das einen höheren Einzel-GdB als 30 nicht
rechtfertige. Denn bei der klinischen Untersu-chung durch die Sachverständigen sei der neurologische Befund
unauffällig gewe-sen. Ein Fibromyalgie-Syndrom habe sich nicht bestätigt. Für eine rheumatische Er-krankung
typische Veränderungen seien nicht festzustellen. Objektivierbare und die Funktion relevant einschränkende
Ausfallerscheinungen des Nervensystems seien ausgeblieben. Das sich hieraus ergebende nicht näher qualifizierbare
muskulo-skelettale Schmerzsyndrom sei nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärzt-liche Gutachtertätigkeit
im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbe-hindertengesetz” (AHP) zutreffend bewertet. Dies gelte
sowohl auf der Grundlage der AHP 1983 (dort S. 40) als auch der AHP 1996 (dort S. 60). Die Schuppenflechte
bedinge einen höheren Teilwert als 10 nicht (AHP 1983 S. 99; AHP 1996 S. 131). Weiter bestehende
Gesundheitsstörungen wie der Cluster-Kopfschmerz und das beeinträchtigte Sehvermögen seien keine Behinderung
im Sinne des SchwbG, da sie nicht über 6 Monate ununterbrochen andauerten und einer Behandlung zugäng-lich
seien (Kopfschmerzsymptomatik) bzw einen Wert von 10 nicht bedingten (Kurz-sichtigkeit). Die Gesamtschau der
Behinderung rechtfertige lediglich einen GdB von 30.
Den am 5. Mai 1998 zugestellten Gerichtsbescheid greift der Kläger mit der am 3. Juni 1998 eingegangenen Berufung
an, in der er sein erstinstanzliches Vorbringen vertieft und auf einen Krankenhausaufenthalt im Juni 1998 wegen eines
Bandschei-benvorfalls hinweist.
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des SG Oldenburg vom 16. April 1998 aufzu-heben und den Bescheid vom 24. April 1995 in
der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 9. August 1995 in der Fassung des Ausführungs-bescheides vom 26.
Mai 1998 zu ändern,
2. den Beklagten zu verpflichten, einen GdB von mindestens 50 ab 25. Dezember 1994 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Zweitinstanzlich sind Befundberichte der Orthopäden Dres. O. vom 30. Oktober 1998 und Dr. P. vom 30. März 1999
(mit Arztbrief der Orthopäden Dres. Q. vom 16. Juli 1998, der Internistin und Rheumatologin Frau Dr. R. vom 5.
November 1998 und der Radiologen Dres. S. vom 15. Juni 1998) eingeholt worden. Der Senat hat ferner Be-weis
erhoben durch jeweils auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsge-setz (SGG) eingeholte
Untersuchungsgutachten des Internisten und Rheumatologen Dr. T. vom 16. März 2001 und der Orthopädin Frau U.
vom 29. August 2001. Wäh-rend Dr. T. den GdB mit 40 bewertet, spricht sich Frau U. für einen GdB von 30 aus.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehindertenakten des
Versorgungsamts Oldenburg (Az.: 06-9969 1) vorgele-gen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist nicht begründet. Zutreffend hat das SG die Klage
abgewiesen. Ein höherer GdB als 30 steht dem Kläger nicht zu.
Nicht ergänzungsbedürftig hat das SG die Voraussetzungen der Bewertung nach den Maßstäben des SchwbG
dargestellt. Hierauf wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen Bezug genommen. Der Senat hat auch das SGB
IX zugrunde zu legen, das am 1. Juli 2001 in Kraft getreten ist (Artikel 68 Abs 1 des Gesetzes vom 19. Juni 2001),
während das SchwbG aufgehoben worden ist (Artikel 63 des Geset-zes). Nach § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX sind
Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher
ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Schwerbe-hindert sind Menschen, wenn bei ihnen ein
GdB von 50 vorliegt, § 2 Abs 2 SGB IX. Die Feststellung des GdB erfolgt nach § 69 Abs 1 SGB IX, die Maßstäbe
des § 30 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) gelten dabei – wie bisher – entsprechend. Ihnen entspricht die
Entscheidung des SG auch mit den Ausführungen zur Heran-ziehung der normähnlich (BSGE 67, 204 ff; BSGE 72,
285; BSGE 75, 176) sich auswirkenden AHP. Zutreffend hat das SG das Ergebnis der Beweisaufnahme ge-würdigt.
Auch hierauf nimmt der Senat zur Vermeidung überflüssiger Wiederholun-gen Bezug, § 153 Abs 2 SGG.
Die zweitinstanzlichen Ermittlungen rechtfertigen eine abweichende Bewertung nicht. Der orthopädische, zuletzt von
der Sachverständigen Frau U. erhobene Befund er-gab zwar eine Bandscheibenprotrusion, der jedoch ein klinischer
Effekt ebenso fehlt wie einer Spinalkanalstenose und angenommenen Foramenstenose im Bereich C5/C6 rechts. Die
kyphosierende Fehlstatik der Brustwirbelsäule und der oberen Lendenwirbelsäule zeigt einen lediglich leicht über das
altersübliche Maß hinausge-henden Befund, die Arthrose der kleinen Wirbelgelenke der oberen Lendenwirbel-säule hat
definitiv nicht zu einer Beteiligung der Nervenwurzel mit ischialgiformen Schmerzen oder gar radiculären Ausfällen
geführt. Hinsichtlich des lokale Schmerz-syndroms der unteren Lendenwirbelsäule ist ein 1998 definierter lumbaler
Band-scheibenvorfall ohne aktuelle Relevanz, denn neurologische Ausfallerscheinungen sind damit nicht verbunden.
Es besteht zwar eine Schmerzhaftigkeit der Rotatoren-manschette des Schultergelenks, mit der wesentliche
Funktionsstörungen indes nicht verbunden sind. Ein gewisses Schmerzpotential durch Fersensporn beidseits ist einer
normalen orthopädischen Behandlung gut zugänglich und deshalb nicht ge-sondert zu bewerten. In der Summe zeigt
der orthopädische Befund eine klare So-matisierung ohne wesentliches Korrelat im Bewegungsapparat. Die
Bewegungs- und Haltefunktion der Wirbelsäule ist lediglich bei längeren statischen Belastungen ge-stört. Diese
geringfügige Beeinträchtigung rechtfertigt einen GdB von 20.
Die Funktionsstörung beruht im Wesentlichen auf der schon erstinstanzlich durch die Sachverständigen Prof. Dr. N.
dargestellten muskulo-skelettalen Schmerzsyndrom-erscheinung. Diese hat der Beklagte nachvollziehbar als
psychovegetatives Er-schöpfungssyndrom mit multiplen körperlichen Beschwerden, vor allem am Bewe-
gungsapparat, bezeichnet und zutreffend bewertet. Auch insoweit ist dem SG zuzu-stimmen. Bestätigt wird dies
durch den von Dr. T. in dem Gutachten vom 16. März 2001 niedergelegten Befund, der ein chronifiziertes
Schmerzsyndrom belegt. Bei der Untersuchung durch diesen Sachverständigen waren alle Gelenke aktiv und passiv
frei beweglich ohne Funktionseinschränkungen und entzündliche Gelenkverände-rungen. Die Beschwerden sind
behandelbar und besserungsfähig. Denn in seiner eigenen Selbsteinschätzung hat der Kläger die Fragen in dem
Funktionsfragebogen für den Zeitraum vor der im Januar 2001 in V. durchgeführten Kurmaßnahme und für die Zeit
danach differenziert beantwortet. Vor der Kur zum Teil angegebene ”große Schwierigkeiten” bei verschiedenen
Verrichtungen sind nach der Kur nicht mehr auf-getreten. Eine eigenständige rheumatologische Erkrankung hat auch
Dr. T. nicht di-agnostiziert. Der körperliche Untersuchungsbefund ohne Nachweis umschriebener Funktionsstörungen
stimmt mit den Angaben des Klägers nicht überein. Auch darauf lässt sich die Annahme einer nicht primär
organbezogenen Erkrankung stützen.
Angesichts der von der Sachverständigen U. erhobenen Befunde ist deren mit dem Beklagten übereinstimmende
Bewertung einer klaren Somatisierung ohne wesentli-ches Korrelat im Bewegungsapparat zutreffend. Für solche
somatoforme Störungen legen die AHP einen GdB von 30 bis 40 fest (AHP S. 60). Angesichts der von dem Kläger
selbst nach der Behandlung in V. mitgeteilten Besserung verschiedener Funktionen ist eine wesentliche
Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähig-keit anzunehmen, die aber mit einem GdB von 30 ausreichend
bewertet ist. Demge-genüber erscheint auch unter Berücksichtigung der von Dr. T. zugrunde gelegten Ermüdbarkeit
und der Chronizität ein GdB von 40 zu hoch. Die Chronizität belegt nicht mehr als das Vorliegen einer Behinderung, §§
3 Abs 1 S. 3 SchwbG, 2 Abs 1 SGB IX. Der Erfolg der Heilmaßnahme zeigt überdies, dass auch dieses Leiden be-
einflussbar ist und der Kläger eine konkrete Besserung seines Zustandes erfahren hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG.