Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 30.05.2002

LSG Nsb: psychotherapeutische behandlung, rente, neurologie, facharzt, psychiatrie, sozialarbeiter, arbeitsmarkt, niedersachsen, sozialmedizin, erwerbsunfähigkeit

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 30.05.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 5 RA 211/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 RA 45/01
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger bezieht von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) auf Dauer seit 1995. Er begehrt nunmehr
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) mit Wirkung vom 1. Oktober 1998, dem Ende seines
Beschäftigungsverhältnisses.
Der Kläger ist im Jahre 1946 geboren. Nach dem Realschulabschluss (1963) arbeitete er zunächst als
Justizangestellter (von 1963 bis 1968), wurde wegen Kreislaufstörungen vom Bundeswehr- und Zivildienst befreit und
nahm sodann das Studium zum Sozialarbeiter sowie zum Sozialpädagogen in H. auf (Abschlüsse zum Sozialarbeiter
und zum Diplom-Sozialpädagogen in 1971 und 1975). Da er keine Anstellung als Sozialpädagoge fand, trat er nach
kurzer Arbeitslosigkeit im Jahre 1975 als angestellter Sozialarbeiter in den Dienst des Landkreises I ... Hier war er im
allgemeinen Sozialdienst des Jugendamtes beschäftigt. Im Jahre 1988 wurde der Arbeitsplatz des Klägers von
seinem Wohnort I. nach J. verlegt mit der Notwendigkeit täglicher Fahrtwege. Im Jahre 1992 trennte sich die Ehefrau
des Klägers von ihm. Anfang 1993 scheiterte eine Bewerbung des Klägers um eine andere freie Stelle als
Sozialarbeiter. Im Herbst 1993 erfolgte die Scheidung des Klägers. Die beiden aus der Ehe hervorgegangenen Kinder
verblieben jeweils bei einem Elternteil. Ebenfalls in 1993 bestand eine längere Arbeitsunfähigkeit und der Kläger begab
sich in ambulante psychotherapeutische Behandlung. Es folgte ein 6-wöchiger Aufenthalt in einer
psychotherapeutischen Reha-Klinik. Einen mehrmonatigen Arbeitsversuch danach brach der Kläger im Sommer 1994
ab.
Nach dem Abbruch einer weiteren ambulanten psychotherapeutischen Behandlung hatte der Kläger im März 1995
Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit beantragt. Nach Ausgangs- und Widerspruchsverfahren hatte das
Sozialgericht (SG) Oldenburg die Beklagte mit Entscheidung vom 21. April 1998 verurteilt, dem Kläger Rente wegen
BU unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles bei Antragstellung im März 1995 ab 1. April 1995 zu zahlen. Zur
Begründung hatte es im Einzelnen ausgeführt, dass der Kläger namentlich nach dem vom SG veranlassten
Gutachten der Ärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Sozialmedizin Frau Dr. K. vom 26. November
1997 aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur auf geistigem Gebiet nur noch einfache bis mittelschwierige Aufgaben
bewältigen könne, wobei zusätzlich Tätigkeiten mit Publikumsverkehr, mit Auseinandersetzungen über psychische
Belange, Tätigkeiten unter Zeitdruck, mit Stressbelastung, mit höheren Anforderungen an das
Konzentrationsvermögen oder in einer psychisch belastenden Atmosphäre ausgeschlossen seien. Damit könne er den
Beruf des Sozialarbeiters nicht mehr ausüben. Dem hingegen könne der Kläger Rente wegen EU nicht beanspruchen,
da er mit seinem verbliebenen Leistungsvermögen noch zahlreiche Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
ausfüllen könne, so etwa als Bürohilfskraft (Ausführungsbescheid der Beklagten vom 8. Juli 1998). - Das Urteil wurde
rechtskräftig.
Nachdem im Anschluss der Arbeitgeber dem Kläger mit Wirkung zum Oktober 1998 gekündigt hatte, stellte der Kläger
noch im Oktober 1998 den zu diesem Verfahren führenden Antrag auf Rente wegen EU an Stelle der Rente wegen BU
und begründete ihn damit, dass sich sein Gesundheitszustand inzwischen verschlechtert habe und er nach der
Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses beim Landkreis in seinem Alter auch voraussichtlich keine neue Arbeit
finden werde. Zur Glaubhaftmachung seiner psychischen Beeinträchtigung fügte er eine Bescheinigung des
behandelnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie L. vom 30. Oktober 1998 bei. Die Beklagte zog die
Unterlagen aus dem ersten Rentenverfahren sowie das von dem Arzt für Sozialmedizin Dr. M. in einem Rechtsstreit
des Klägers um die Anerkennung der Schwerbehinderten-Eigenschaft vor dem SG Oldenburg (S 1a SB 10396/96)
gefertigte Gutachten vom 2. Mai 1998 bei und lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 21. Dezember 1998 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 1999 ab.
Mit seiner hiergegen am 23. September 1999 vor dem SG Oldenburg erhobenen Klage hat der Kläger zur Begründung
ergänzend vorgetragen, dass die im Vordergrund stehende psychische Beeinträchtigung inzwischen zu verstärkter
Erschöpfbarkeit, Ermüdbarkeit, Schlafstörungen und sozialen Anpassungsschwierigkeiten bis hin zur Isolierung
geführt habe. Daneben bestünden Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule, der Schultern, an den Fingergelenken
und der Hüfte. Zur Glaubhaftmachung hat er eine weitere Bescheinigung des behandelnden Arztes L. vom 13.
September 1999 vorgelegt. Das SG hat mehrere Befundberichte (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie L. vom 28.
Februar 2000; Facharzt für Hautkrankheiten Dr. N. vom 8. Februar 2000; Facharzt für Orthopädie Dr. O. vom 11.
Februar 2000) sowie die Arbeitgeberauskunft des Landkreises I. vom 14. Februar 2000 eingeholt. Sodann hat das SG
die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Sozialmedizin Frau Dr. K. beauftragt, ein Gutachten
nach ambulanter Untersuchung des Klägers zu erstellen. Der Kläger hat Vorbehalte zur Beauftragung dieser
Sachverständigen geäußert, da sie bereits in seinem ersten Rentenverfahren ein Gutachten über ihn erstattet habe
(vom 26. November 1997), das er für unzutreffend halte. Das SG hat an der Beauftragung mit der Begründung
festgehalten, die damals tätige Sachverständige sei sachkundig für die Begutachtung, da es im zweiten
Rentenverfahren um eine etwaige Verschlimmerung des Gesundheitszustandes des Klägers gehe. In ihrem daraufhin
gefertigten Gutachten vom 25. September 2000 hat Frau Dr. K. im einzelnen ausgeführt, dass sich das
Leistungsvermögen des Klägers seit ihrer ersten Untersuchung im Jahre 1997 nicht wesentlich geändert habe und
dass weiterhin vollschichtig leichte Arbeiten mit den auch bereits damals genannten qualitativen Einschränkungen
verrichtet werden könnten. Da der Kläger zwischenzeitlich allerdings seit ca. 6 Jahren aus dem Arbeitsleben
ausgeschieden sei (Beginn der Arbeitsunfähigkeit in 1994) sei eine stufenweise Wiedereingliederung mit einer
zeitlichen Belastung von vier Arbeitsstunden täglich für die Dauer von einem Vierteljahr zu empfehlen. Dabei sei
berufsbegleitend eine kombinierte antidepressiv-medikamentöse und psychotherapeutische Therapie indiziert. Das SG
hat daraufhin die Klage mit Urteil vom 8.12.2001 abgewiesen und sich zur Begründung im Wesentlichen den
Ausführungen im Gutachten der Frau Dr. K. angeschlossen.
Gegen das ihm am 15. Februar 2001 zugestellte Urteil richtet sich die am 28. Februar 2001 eingelegte Berufung, mit
der der Kläger vorträgt, dass die erstinstanzlichen Tatsachenfeststellungen nicht ausreichten, um den von ihm geltend
gemachten Anspruch zu versagen. So bestehe eine deutliche Diskrepanz bei der Einschätzung seiner
Leistungsfähigkeit durch Frau Dr. K. einerseits und dem behandelnden Facharzt L. sowie dem Gutachter im
Schwerbehinderten-Verfahren Dr. M. andererseits. Auch zu den Therapiemöglichkeiten sei der vom SG eingesetzten
Sachverständigen nicht zu folgen, denn eine zwischenzeitlich von Herrn L. durchgeführte Medikamentenstudie sei
ebenso erfolglos geblieben wie seine bisherigen psychotherapeutischen Behandlungen. Im Übrigen sei die Beurteilung
von Frau Dr. K. in sich widersprüchlich, da die Sachverständige noch 1997 eine Therapie für aussichtslos gehalten
habe und im Gutachten aus 2000 nunmehr eine Therapierbarkeit für gegeben erachte.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 8. Dezember 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 21.
Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 1999 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit seit dem 1. Oktober 1998 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide als zutreffend und bezieht sich zur Begründung ergänzend auf das Urteil
des SG.
Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren ein Gutachten nach ambulanter Untersuchung des Klägers von dem
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. P. vom 17. Dezember 2001 eingeholt. Der Sachverständige hält
vollschichtig leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung ohne großen Verantwortungsbereich und ohne
Entscheidungsdruck für zumutbar. Daneben sei darauf hinzuweisen, dass bislang weder eine mehrmonatige
medikamentöse Therapie mit modernen Antidepressiva noch eine intensive psychotherapeutische Behandlung
stattgefunden habe. Insoweit bestehe noch Behandlungspotential.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden
erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die
Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand von Beratung und
Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung
entscheiden, da sich die Beteiligten zuvor hiermit einverstanden erklärt haben.
Die gem. §§ 143f. SGG statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.
Weder das Urteil des SG noch die Bescheide der Beklagten sind zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch
darauf, an Stelle der bislang zuerkannten Rente wegen BU nunmehr ab dem 1. Oktober 1998 Rente wegen EU nach
dem bis zum 31. Dezember 2000 (§ 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - a.F.) geltenden Recht zu
erhalten. Er hat im Übrigen auch keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem seit dem 1.
Januar 2001 geltenden Recht (§ 43 SGB VI n.F.).
Das SG hat die maßgeblichen Rechtsgrundlagen herangezogen, zutreffend angewendet und ist nach sachgerechter
Ermittlung und Beweiswürdigung zu dem richtigen Ergebnis gelangt, dass dem Kläger Rente wegen EU nicht zusteht.
Dabei hat das SG insbesondere zutreffend ausgeführt, dass im Vordergrund der gesundheitlichen Beschwerden des
Klägers das psychische Leistungsbild steht, dieses jedoch nach den vorliegenden fachmedizinischen Unterlagen,
insbesondere nach dem Gutachten der Frau Dr. K. vom September 2000, noch eine vollschichtige Arbeit auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt zulässt. Zwar kann der Kläger nach dem vom SG festgestellten Leistungsvermögen keine
Tätigkeiten mehr verrichten, bei denen er erheblicher psychischer Belastung ausgesetzt ist, wie dies etwa bei der
Auseinandersetzung mit den psychischen Problemen anderer Menschen der Fall wäre. Dieser Einschränkung ist
jedoch bereits dadurch Rechnung getragen, dass der Kläger seinen bisherigen Beruf des Sozialarbeiters nicht mehr
ausüben muss und Rente wegen BU bezieht. Für eine Rente wegen EU ist hingegen maßgeblich, ob der Kläger auf
dem gesamten allgemeinen Arbeitsmarkt noch erwerbstätig sein kann, auch mit ungelernten Arbeiten einfacher Art.
Dies ist nach dem vom SG festgestellten Leistungsvermögen auch nach Überzeugung des Senats möglich, da der
Kläger insbesondere nach dem Gutachten von Frau Dr. K. noch Aufgaben mit u.a. einfacher Verantwortung und ohne
Publikumsverkehr ausführen kann. Der Senat schließt sich daher der Einschätzung des SG an und nimmt zur
Begründung im Übrigen gem. § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die Entscheidungsgründe des Urteils des SG (S. 4 letzter
Absatz bis S. 6 erster Absatz).
Im Berufungsverfahren hat sich nichts Abweichendes ergeben. Vielmehr hat der vom Senat beauftragte Facharzt für
Neurologie und Psychiatrie Dr. P. in seinem Gutachten vom Dezember 2001 ausdrücklich ausgeführt, dass im
Vordergrund der gesundheitlichen Beschwerden des Klägers allein die psychische Situation steht und sich in dieser
Hinsicht gegenüber dem Gutachten von Frau Dr. K. vom Vorjahr keine neuen Erkenntnisse ergeben haben. Der Kläger
kann auch nach Dr. P. vollschichtig leichte Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten ohne großen
Verantwortungsbereich, ohne Entscheidungsdruck und ohne differenzierte Tätigkeiten mit hohen Ansprüchen an seine
soziale Kompetenz verrichten, also insbesondere noch Arbeiten mit einfachen geistigen Anforderungen leisten (von
denen der Sachverständige auch beispielhaft einige Berufsbilder nennt). Diese gegenüber dem Gutachten von Frau
Dr. K. im wesentlichen gleichlautende Einschätzung ist für den Senat überzeugend, da sie von Dr. P. auf die im
wesentlichen gleichen Diagnosen gestützt wird (depressives Störungsbild bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung;
Frau Dr. K.: Depression bei kombinierter Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften und ängstlich-vermeidenden Zügen).
Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass nach den ebenso übereinstimmenden Einschätzungen von Dr. P. und
Frau Dr. K. die psychische Leistungsfähigkeit noch besserungsfähig erscheint, weil die therapeutischen Möglichkeiten
noch nicht ausgeschöpft sind. Entgegen dem Vortrag des Klägers hat Frau Dr. K. auch schon 1997 zumindest die
Fortsetzung der nervenärztlichen Betreuung als zweckmäßig angesehen. Beeinträchtigungen im psychischen
Befinden können jedoch nur dann zur Rentenberechtigung führen, wenn zuvor alle therapeutischen Möglichkeiten
ausgeschöpft wurden, mit deren Hilfe die EU binnen eines halben Jahres überwunden werden kann. (BSGE 21, 189,
192, 193; LSG Niedersachsen, Urteil vom 25. Mai 2000, L 1 RA 154/99 und Urteil vom 25. November 1999, L 1 RA
208/98; Gesamtkommentar-Lilge, § 43 SGB VI, Anm. 10.2. m.w.N.).
Der Kläger ist im Übrigen auch nicht voll erwerbsgemindert im Sinne von § 43 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001
geltenden Fassung, weil insbesondere eine zeitliche Leistungsbegrenzung nicht feststellbar ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Es hat kein gesetzlicher Grund gem. § 160 Abs. 2 SGG vorgelegen, die Revision zuzulassen.