Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 30.04.2009
LSG Nsb: örtliche zuständigkeit, niedersachsen, behinderter, anmerkung, sicherheit, zuständigkeitsstreit, rechtsschutz, rehabilitation, unterbringung, behinderung
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 30.04.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 51 SO 93/09 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 8 SO 99/09 B ER
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 2. April 2009 wird
zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin erstattet der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des
Beschwerdeverfahrens.
Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe:
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss
des Sozialgerichts Hannover (SG) vom 2. April 2009 ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht entschieden, dass die
Antragsgegnerin im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes ab dem 13. März 2009 bis zunächst längstens zum 28.
Februar 2010 die Kosten für die Unterbringung der Antragstellerin in der Abteilung C. der D. Pflegeheime GmbH im
Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen hat. Der Senat hält die Entscheidungsgründe für zutreffend, sodass
darauf verwiesen wird, § 142 Abs 2 Satz 3 SGG.
Im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen wird lediglich ergänzend folgendes ausgeführt: Die am 29. Mai 1974
geborene Antragstellerin hat aufgrund ihrer seelischen Behinderung offensichtlich Anspruch auf die begehrten
Eingliederungshilfeleistungen (intensiv unterstütztes Wohnen in dezentralen Wohnbereich der Pflegeheime D.); die
beteiligten Sozialhilfeträger sehen dies offenbar ebenso. Streit besteht allein über die örtliche Zuständigkeit. Die
zuerst angegangene Beigeladene hat den entsprechenden Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe an die
Antragsgegnerin weitergeleitet, welche ihrerseits die örtliche Zuständigkeit der Beigeladenen für begründet hält. In
diesem Zusammenhang hat das im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes angerufene Sozialgericht zutreffend
erkannt, dass es sich bei den fraglichen Leistungen um Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach
dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) handelt und die
beteiligten Sozialhilfeträger als Rehabilitationsträger zur Teilhabe-Leistungserbringung in Betracht kommen, §§ 4, 6
SGB IX. Das SG hat weiterhin zur Zuständigkeitsbestimmung § 14 SGB IX herangezogen und zutreffend festgestellt,
dass die Antragsgegnerin nach dieser Vorschrift vorläufig zur Leistungserbringung verpflichtet ist, weil die
Beigeladene den Antrag rechtzeitig an die Antragsgegnerin weitergeleitet hat. Auf diese Ausführungen wird verwiesen.
Die Beschwerde geht im Wesentlichen dahin, dass bei einer Fallgestaltung wie der vorliegenden die Regelung des §
43 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) zur Anwendung käme. Danach wäre die Beigeladene
als zuerst angegangener Leistungsträger verpflichtet, vorläufig Leistungen zu erbringen. Mit dieser Begründung ist die
Beschwerde nicht erfolgreich.
Es trifft zu, dass einige Gerichte die Vorschrift des § 43 SGB I vor der Regelung des § 14 SGB IX heranziehen (so
OVG Lüneburg, Urteil vom 23. Juli 2003 - 12 ME 297/03 - FEVS 55, Seite 384; OVG Hamburg, Beschluss vom 9.
Oktober 2003 - 4 Bs 458/03 - FEVS 55, Seite 365; VGH Kassel, Beschluss vom 21. September 2004 - 10 TG
2293/04 - FEVS 56, Seite 328; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21. Juni 2007 - L 13 SO 5/07 ER -).
Diesen Entscheidungen ist nicht zu folgen. Sie berücksichtigen nicht ausreichend das Hauptanliegen der in § 14 SGB
IX getroffenen Regelung über die vorläufige Zuständigkeit bei Teilhabeleistungen und das dazu ergangene Urteil des
BSG (vom 26. Oktober 2004 - B 7 AL 16/04 - BSGE 93, Seite 283 = FEVS 56, Seite 385). Hierzu hat das BSG unter
Heranziehung der Begründung des Gesetzgebers ausgeführt, dass das Hauptanliegen des SGB IX war und ist, die
Koordination der Leistungen und die Kooperation der Leistungsträger durch wirksame Instrumente sicherzustellen,
wobei eines dieser Instrumente § 14 SGB IX ist. Danach sollen Streitigkeiten über die Zuständigkeitsfrage bei
ungeklärter Zuständigkeit nicht mehr zu Lasten der behinderten Menschen bzw der Schnelligkeit und Qualität der
Leistungserbringung gehen. Grundsätzlich solle zwar die Zuständigkeit der einzelnen Zweige der sozialen Sicherheit
für Rehabilitationsträger unberührt bleiben; jedoch solle das Verfahren durch eine rasche Zuständigkeitserklärung
deutlich verkürzt werden damit die Berechtigten die Leistungen schnellstmöglich erhalten. Die Vorschrift des § 14
SGB IX enthalte für Leistungen zur Teilhabe behinderter Menschen eine für die Rehabilitationsträger abschließende
Regelung, die den allgemeinen Regelungen zur vorläufigen Zuständigkeit oder Leistungserbringung im Ersten Buch
und den Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger vorgehe und alle Fehler der Feststellung der
Leistungszuständigkeit erfasse.
Mit anderen Worten: Durch § 14 SGB IX soll durch eine rasche Klärung von Zuständigkeiten etwaigen Nachteilen des
gegliederten Systems entgegengewirkt werden, in dem eine für alle Rehabilitationsträger geltende abschließende
Regelung geschaffen wurde, die den allgemeinen Regelungen zur vorläufigen Zuständigkeit oder Leistungserbringung
im SGB I und den Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger vorgeht (vgl Luthe, Anmerkung zum BSG-Urteil vom
26. Oktober 2004 - B 7 AL 16/04 R - in juris PR-SozR 4/2005 Anmerkung 3). Daraus folgt, dass durch § 14 SGB IX
die Anwendungen des § 43 SGB I generell ausgeschlossen ist (vgl Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss
vom 6. Dezember 2006 - 12 CE 06.2732-ZfSH/SGB 2007, Seite 620).
Die Notwendigkeit der ausschließlichen Anwendung des § 14 SGB IX belegt auch der vorliegende Rechtsstreit. Die
beteiligten Sozialhilfeträger verweigern die nötige und erforderliche Leistungserbringung wegen jeweils behaupteter
Unzuständigkeit; gerade dieser Vorgehensweise sollte durch die Regelung in § 14 SGB IX vorgebeugt werden. Der
Zuständigkeitsstreit soll nicht auf dem Rücken der behinderten Menschen ausgetragen werden. Deshalb wird die -
vorläufige - Zuständigkeitsregelung konzentriert in § 14 SGB IX. Andere Zuständigkeitsregelungen zur vorläufigen
Leistungserbringung sind damit suspendiert, wie zB § 43 SGB I oder § 98 Abs 2 Satz 3 SGB XII, worauf die
beteiligten Sozialhilfeträger sich wechselweise berufen.
Die von einigen Gerichten bevorzugte Anwendung des § 43 Abs 1 SGB I führt für den behinderten Menschen nicht zu
einer schnelleren und leichteren (vorläufigen) Anspruchserfüllung. Wenn die beteiligten Sozialhilfeträger sich
wechselseitig auf ihre fehlende Zuständigkeit berufen - wie der vorliegende Fall belegt -, muss auch bei Anwendung
des § 43 SGB I um vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht nachgesucht werden. Mithin ist den Sozialhilfeträgern die
Einsicht nahe zu bringen, dass bei Leistungen zur Teilhabe nach den Vorschriften des SGB IX die (vorläufige)
Zuständigkeit ausschließlich nach § 14 SGB IX bestimmt wird. Hielten sich die Rehabilitationsträger an diese
Regelung, wären gerichtlichen Streitverfahren wie das vorliegende überflüssig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da die Antragsgegnerin unterliegt, hat sie die notwendigen
außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten. Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, § 193
Abs 4 SGG.
Gerichtskosten werden in Sozialhilfeverfahren dieser Art nicht erhoben.
Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.