Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 02.10.2001
LSG Nsb: innere medizin, anhörung, orthopädie, erlass, niedersachsen, therapie, krankheit, verwaltungsakt, scheidung, schmerz
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 02.10.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Osnabrück S 2 SB 326/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5/9 SB 58/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der im Jahre 1952 geborene Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Be-hinderung (GdB) von 40 nach dem
Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) – früher: Schwerbehindertengesetz (SchwbG) –.
Das Versorgungsamt (VA) Osnabrück bewertete mit Bescheid vom 27. September 1995 den GdB des Klägers mit 30
und stützte diese Entscheidung auf folgende Funktionseinschränkungen:
Verschleißkrankheit der Wirbelsäule, Bandscheibenvorfall,
Hauterkrankung.
Mit dem Bescheid führte das VA Osnabrück ein Anerkenntnis aus, das der Beklagte am 6. April 1994 in dem
Verfahren S 10 Vs 45/94 bei dem Sozialgericht (SG) Osna-brück abgegeben hatte. Dem Anerkenntnis lag die
gutachtliche Stellungnahme des Arztes für Innere Medizin Dr. G. vom 8. März 1994 und der Arztbrief der Klinik und
Poliklinik für Allgemeine Orthopädie in H. vom 30. August 1993 zugrunde. Ein in dem Rechtsstreit S 10 Vs 45/94
noch eingeholtes orthopädisches Gutachten des Dr. I., Franziskus-Hospital J., vom 3. März 1995 bestätigte ebenfalls
einen GdB von 30.
Im Februar 1997 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag, mit dem er die Zu-erkennung eines GdB von
mindestens 50 sowie des Nachteilsausgleichs &61618;G&61618; be-gehrte. Zur Begründung seines Antrags
überreichte er das in dem Verfahren S 11 J 117/94 von dem SG Osnabrück eingeholte Gutachten des Dr. K., Klinik
für manu-elle Therapie in L. vom 11. April 1996. Nach Auswertung des Gutachtens durch den Ärztlichen Dienst
(gutachtliche Stellungnahme vom 25. Februar 1997) wies das VA Oldenburg – Außenstelle Osnabrück – den Antrag
zurück, da in den bisher festge-stellten Behinderungen eine wesentliche Änderung (Verschlimmerung) nicht nach-
gewiesen sei. Der GdB betrage unverändert 30; die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich &61618;G&61618;
seien nicht erfüllt (Bescheid vom 9. April 1997). Auf den Wi-derspruch des Klägers holte der Beklagte die gutachtliche
Stellungnahme des Ärztli-chen Dienstes vom 6. Juni 1997 ein, die die bisherige Beurteilung bestätigte. Darauf-hin
wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück (Widerspruchsbe-scheid vom 10. Juli 1997).
Mit seiner hiergegen am 25. Juli 1997 bei dem SG Osnabrück erhobenen Klage hat der Kläger zunächst die
Zuerkennung eines GdB von mindestens 50 sowie die Zuer-kennung des Nachteilsausgleichs &61618;G&61618;
weiterverfolgt. Das SG hat das orthopädische Gutachten des Dr. M. – Ostwestfälisches Institut für medizinische
Begutachtung – vom 26. April 1998 eingeholt. Der Sachverständige Dr. M. ist zu dem Ergebnis ge-kommen, dass
sich die Behinderungen des Klägers nicht wesentlich geändert hätten und der GdB insgesamt lediglich mit 20 zu
bewerten sei. Auf den Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG Osnabrück sodann das
Gutach-ten des Dr. K., Klinik für manuelle Therapie in L., vom 7. April 1999 eingeholt. Der Sachverständige Dr. K. ist
zu dem Ergebnis gelangt, dass sich die Behinderungen, die den Feststellungen im Bescheid vom 27. September 1995
zugrunde gelegen ha-ben, nicht wesentlich geändert hätten. Allerdings seien aus seiner Sicht die Behinde-rungen
seinerzeit nicht ausreichend gewürdigt worden. Der GdB betrage insgesamt 40. Nach Auswertung des Gutachtens
durch den Ärztlichen Dienst HAT der Beklagte die gutachtlichen Stellungnahmen der Ärztin für Neurologie Dr. N. vom
11. Mai 1999 und 12. August 1999 vorgelegt, nach denen unter Würdigung aller Befunde in beiden Gutachten der GdB
weiterhin mit 30 bewertet werden müsse. Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat das SG Osnabrück daraufhin
den Sachverständigen Dr. K. er-gänzend nach Aktenlage gehört. In seiner Stellungnahme vom 23. September 1999
hat dieser weiterhin die Ansicht vertreten, dass der GdB des Klägers mit 40 einzu-stufen sei. Außerdem hat der
Sachverständige darauf hingewiesen, dass sich im Vergleich zum 3. März 1995 eine so starke Befundveränderung
ergeben habe, dass ab Neuantrag im Februar 1997 eine Erhöhung des GdB auf jeden Fall erforderlich sei. Einen
weiteren Antrag des Klägers auf Anhörung des Dr. K. gemäß § 109 SGG hat das SG Osnabrück mit Beschluss vom
25. Januar 2000 abgelehnt, da besondere Umstände, die eine nochmalige Anhörung in Betracht kommen ließen,
weder vorge-tragen worden noch sonst ersichtlich seien.
Mit Urteil vom 14. März 2000 hat das SG Osnabrück die zwischenzeitlich auf die Zu-erkennung eines GdB von 40
reduzierte Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht Folgendes ausgeführt: Eine wesentliche
Verschlimmerung des Beschwerde-bildes des Klägers lasse sich nach den erhobenen Befunden nicht feststellen.
Auch der Sachverständige Dr. K. sei letztlich zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Funktionseinbußen, die den
Feststellungen im Bescheid vom 27. September 1995 zugrunde gelegen hätten, nicht wesentlich geändert hätten. Der
Sachverständige Dr. K. habe lediglich eine von den Vorbeurteilungen abweichende Würdigung vorge-nommen.
Wirbelsäulenschäden bedingten erst dann einen GdB von 30 bis 40, wenn sie mit mittelgradigen bis schweren
funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäu-lenabschnitten verbunden seien. Lägen wie hier schwere funktionelle
Auswirkungen nur im Lendenwirbelsäulenabschnitt vor und hätten die außerdem im Halswirbelsäu-lenabschnitt
bestehenden Veränderungen nur geringe funktionelle Auswirkungen mit einem GdB von allenfalls 10, komme nur ein
GdB von 30 in Betracht.
Gegen das ihm am 3. April 2000 zugestellte erstinstanzliche Urteil hat der Kläger am 14. April 2000 Berufung
eingelegt. Entgegen den Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil habe der Sachverständige Dr. K. schwere
funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, nämlich im Bereich der Halswirbelsäule und im Bereich
der Lendenwirbelsäule festgestellt. In beiden Bereichen bestünden Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen
einschließlich eines Wirbelgleitens. Er leide fast täglich an unerträglichen Schmerzen im Bereich des Brustkorbs.
Diese rührten von der Halswirbelsäule her. Entgegen dem erstinstanzlichen Urteil habe der Sachverständi-ge Dr. K.
darüber hinaus festgestellt, dass eine signifikante Änderung der Verhältnis-se ab dem 1. Februar 1997 vorliege, die
eine Erhöhung des GdB um 10 rechtfertige. Außerdem habe das erstinstanzliche Gericht nicht hinreichend
berücksichtigt, dass bei ihm ärztlich ein Flüssigkeitsverlust als Zeichen der Degeneration im Bereich der
Bandscheiben L2/3, L4/5 und L5/S1 sowie eine Vorwölbung im Bereich L2/3 und ei-ne mediale Protrusion im Bereich
L5/S1 festgestellt worden seien. Zu den Be-schwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule sei anzumerken, dass er
unter sehr starken Schmerzen im Bereich des Genitals, insbesondere der Hoden leide, die auf die Schäden an der
Lendenwirbelsäule zurückzuführen seien. Dort sei ein entspre-chender Nerv beeinträchtigt. Außerdem sei die
Einholung einer ergänzenden Stel-lungnahme des Sachverständigen Dr. K. nach Vorlage der Röntgenaufnahmen, die
Dr. M. anlässlich seines Gutachtens gefertigt habe, beantragt worden. Diesem Be-weisantritt, der hiermit wiederholt
werde, sei nicht gefolgt worden. Insgesamt betrage der GdB mindestens 40.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
das Urteil des SG Osnabrück vom 14. März 2000 und den Bescheid des Beklagten vom 9. April 1997 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 1997 aufzu-heben,
den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von 40 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat den Befundbericht des Arztes für Orthopädie Dr. O. vom 6. August 2000 nebst Anlage eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Betei-ligten wird auf den Inhalt der
Prozessakte sowie der beigezogenen Gerichtsakten des SG Osnabrück S 10 Vs 45/94 und S 11 J 117/94 sowie die
den Kläger betreffen-den Schwerbehindertenakten des VA Oldenburg – Außenstelle Osnabrück – ergän-zend Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143 f SGG statthafte Berufung ist form- sowie fristgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen
zulässig.
Sie ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig.
Gemäß § 48 Abs 1 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit
in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnis-sen, die beim Erlass des Bescheides vorgelegen haben, eine
wesentliche Änderung eingetreten ist. In den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers, die beim Erlass des
Verwaltungsaktes vom 27. September 1995 vorgelegen haben, ist keine Ver-schlimmerung eingetreten, die einen GdB
von mehr als 30 rechtfertigen würde.
Der Kläger leidet nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. M. (Gutachten vom 2. März 1998) und Dr. K.
(Gutachten vom 7. April 1999) sowie des behandeln-den Arztes Dr. O. (Befundbericht vom 6. August 2000) an
Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule. Diese haben nach der Beurteilung des Sachverständigen Dr. M. allenfalls
mittelgradige funktionelle Auswirkungen, während der Sachverständige Dr. K. die funktionellen Auswirkungen als
schwerwiegend einstuft. Nach Würdigung sämtlicher ärztlicher Feststellungen sieht der Senat lediglich das Vorliegen
mittelgra-diger funktioneller Auswirkungen als bewiesen an. Nach den der gerichtlichen Ent-scheidung
zugrundezulegenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach
dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 Rdnr 26.18, S. 140 setzen mittelgradige funktionelle Auswirkungen in
einem Wirbelsäulenabschnitt eine häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungsein-schränkung oder Instabilität
mittleren Grades bzw häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome voraus. Schwere funktionelle
Auswirkungen lie-gen dann vor, wenn eine häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungsein-schränkung oder
Instabilität schweren Grades bzw häufig rezidivierende und Wo-chen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome
vorhanden sind. Bei der klini-schen Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. K. am 17. Dezember 1998 litt der
Kläger – anders als bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. M. – unter einer starken
schmerzreflektorisch bedingten Funktionseinschränkung der Lendenwirbelsäule, die nach Angaben des Klägers zwei
Tage zuvor aufgetreten war. Nach den weiteren Ausführungen in dem Gutachten stellen sich ähnliche Schmerz-
attacken des Klägers in relativ regelmäßigen Abständen ein und halten dann regel-mäßig über mehrere Tage an.
Derartige Befunde stellen mittelgradige funktionelle Auswirkungen im Sinne der AHP dar. Für diese Einschätzung
sprechen auch die An-gaben des Dr. O. im Befundbericht vom 6. August 2000. Dr. O. beschreibt extreme
Verschlechterungszustände fast bis zur Bewegungsunfähigkeit für einige Tage und im Übrigen einen mäßiggradigen
Schmerzzustand. Für nur kurz andauernde starke Schmerzattacken mit entsprechenden Bewegungseinschränkungen
sprechen auch die Befunderhebungen des Dr. M ... Dieser beschreibt eine athletische Muskelbe-mantelung des
Gesäßes und beider Beine des Klägers ohne Zeichen eines Scho-nungsschwundes. Angesichts dieser
Feststellungen, die teilweise von Dr. K. selbst getroffen worden sind, vermögen dessen Ausführungen in der
ergänzenden Stel-lungnahme vom 15. November 1999, der Kläger leide glaubhaft an Schmerzatta-cken, die häufig
aufträten und über Wochen anhielten, nicht zu überzeugen.
Darüber hinaus steht es zur Überzeugung des erkennenden Senats nicht fest, dass der Kläger an Funktionsstörungen
der Halswirbelsäule leidet, die schwergradige oder auch nur mittelgradige funktionelle Auswirkungen haben. Zwar hat
Dr. K. das Vorlie-gen schwergradiger funktioneller Auswirkungen der Halswirbelsäule beschrieben. Diese
Beurteilungen sind jedoch nicht durch entsprechende Befunde belegt. Nach den Ausführungen im Gutachten vom 7.
April 1999 besteht eine Lockerung des Segmentes C3/4 und eine Hypomobilität des cervico-thoracalen
Übergangsberei-ches. Aus diesen Befunden resultieren deutliche muskuläre Dysbalancen in der Schulter-Nacken-
Region mit Schmerzen entlang der cervicalen Muskelketten, die über die Hinterkopfregion bis zum Scheitelbein
aufsteigen. Auch im Befundbericht des Dr. O. finden sich keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen eines
Halswirbelsäulenschadens mit andauernden mittelgradigen oder gar schwergradigen funktionellen Auswirkungen. In
seinem Befundbericht vom 6. August 2000 erwähnt Dr. O. im Wesentlichen Funktionsstörungen der
Lendenwirbelsäule. Ein (schwerstgradiges) Schmerzsyndrom im HWS-Bereich bzw ein HWS-Syndrom wird ab 1997
lediglich drei Mal, und zwar am 30. April 1997, 20. August 1998 und 8. Dezember 1998 erwähnt.
Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wir-belsäulenabschnitt und leichten
funktionellen Auswirkungen in einem anderen Wir-belsäulenabschnitt bedingen nach den AHP 1996, Rdnr 26.18, S.
139 f. keinen höhe-ren GdB als 30. Bei dieser Bewertung sind die üblicherweise vorhandenen Schmer-zen und auch
erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände mit berücksich-tigt (AHP 1996, Rdnr 18, S. 33).
Die vom Kläger des weiteren vorgetragenen Hinweise auf das Vorliegen degenerati-ver Veränderungen im Bereich der
Wirbelsäule sowie die Vorwölbung im Bereich L2/3 und die mediale Protrusion im Bereich L5/S1 bedingen keinen
höheren GdB. Degenerative Veränderungen für sich genommen rechtfertigen noch nicht die An-nahme eines GdB
(AHP 1996 Rdnr 26.18, S. 134). Ebenso wenig sind Diagnosen maßgeblich. Entscheidend für die Höhe des GdB ist
allein das Ausmaß vorhandener Funktionseinschränkungen.
Schließlich war eine erneute Anhörung des Sachverständigen Dr. K. nach § 109 SGG nicht erforderlich. Der
Sachverständige Dr. K. ist bereits zwei Mal in der ersten Instanz gehört worden. Wiederholenden Anträgen ist nur
dann stattzugeben, sofern besondere Umstände dies rechtfertigen (Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage 1998, § 109 Rdnr
10a und 11a). Solche liegen hier nicht vor. Die röntgenologischen Auf-nahmen machen eine ergänzende gutachtliche
Äußerung nicht erforderlich. Wie be-reits ausgeführt, sind nicht röntgenologische Veränderungen für den GdB, sondern
allein vorhandene Funktionseinschränkungen maßgeblich.
Sonstige Funktionsstörungen sind nicht erkennbar. Insbesondere haben beide Gut-achter erklärt, dass eine
Veränderung der äußeren Haut des Klägers nicht objekti-vierbar sei.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen.