Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 03.03.2003

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 03.03.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 3 SB 60/01
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 SB 43/02
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger ein höherer Grad der Behinde-rung (GdB) als 70 zusteht.
Bei dem am E. geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt (VA) zuletzt mit Bescheid vom 22. November 1994
einen GdB von 60 sowie die Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche ”G” und ”RF” fest. Gestützt auf einen Arztbrief
des Ra-diologen Dr. F. beantragte der Kläger am 20. September 2000 Erhöhung des GdB auf 90. Das VA holte einen
Befundbericht des Neurochirurgen Dr. G. ein und lehnte nach versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 27. Oktober
2000 mit Be-scheid vom 2. Januar 2001 den Antrag ab, weil die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch
Zehntes Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozial-datenschutz (SGB X) nicht erfüllt seien. Der auf Arztbriefe der
neurochirurgischen Abteilung des H. vom 20. November 2000 und 27. Dezember 2000 sowie des Radiologen Dr. I.
vom 28. Dezember 2000 gestützte Widerspruch führte nach versorgungsärztlicher Stellungnahme des Dr. J. zum Teil-
Abhilfebescheid, mit dem ab 20. September 2000 ein GdB von 70 (nebst den schon bisher zuerkann-ten
Nachteilsausgleichen) festgestellt wurde (Teil-Abhilfebescheid vom 27. April 2001). Zugrunde lagen die
Funktionseinschränkungen:
1. Umformende Wirbelsäulenveränderungen, Bandscheibenleiden, enger Spinalkanal, Fehlstatik des Beckens
(verwaltungsinterne Bewer-tung: 40),
2. Taubheit rechts, geringgradige Innenohrschwerhörigkeit links (verwaltungsinterne Bewertung: 30),
3. Hüft- und Kniegelenksveränderungen beidseits (verwaltungsin-terne Bewertung: 30),
4. Schultergelenksveränderungen mit sekundärer Muskel-verschmächtigung im rechten Oberarmbereich,
Einschränkung der Un-terarmdrehbeweglichkeit beidseits (verwaltungsinterne Bewertung: 20).
Der weitergehende Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. April 2001).
Gegen den Widerspruchsbescheid hat sich der Kläger mit der am 17. Mai 2001 beim Sozialgericht (SG)
eingegangenen Klage gewandt, mit der er einen GdB von mindestens 90 erstrebt hat. Er hat sich auf ein
augenärztliches Attest des Dr. K. gestützt. Das SG Lüneburg hat Beweis erhoben durch Untersuchungsgutachten des
Chirurgen Dr. L. vom 16. August 2001 mit Erläuterung vom 15. November 2001. Dem Gutachten folgend hat das SG
die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. Februar 2002 abgewiesen und sich die Ausführungen des Sachverständigen
zu eigen gemacht.
Gegen den am 11. Februar 2002 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit der am 11. März 2002
eingegangenen Berufung. Diese stützt er auf Arztbriefe des Urologen Prof. Dr. M. vom 26. November 2001 sowie der
Chirurgin Frau Dr. N. vom 15. Februar 2002, einen Befund des Krankengymnasten O. vom 18. Februar 2002 sowie auf
den Operationsbericht der Frau Dr. N. vom 23. Mai 2002.
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 5. Februar 2002 aufzuheben und den Bescheid vom 2.
Januar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2001 in der Fas-sung des Teil-Abhilfebescheides
vom 27. April 2001 zu ändern,
2. den Beklagten zu verpflichten, einen GdB von 90 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid mit der versorgungsärztli-chen Stellungnahme der Frau Dr. P.
vom 2. Juli 2002 für richtig.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehinderten-Akten des VA
Hannover (Q.) sowie die Akten S 11 Vs 79/87 und S 3 VS 158/93 des SG Lüneburg vorgelegen und sind Gegenstand
der Ent-scheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet mit Zustimmung der Beteiligten gemäß § 155 Abse. 1, 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
Die gemäß § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein höherer GdB als 70 nicht zu.
Prüfungsmaßstab ist § 48 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein mit Dauerwirkung aus-gestatteter Verwaltungsakt mit
Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass
vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Diese Vor-aussetzungen sind
erfüllt. Denn die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers haben sich gegenüber den dem Bescheid vom 22.
November 1994 zugrunde lie-genden Verhältnissen wesentlich verändert. Insbesondere hat sich eine Verände-rung im
Wirbelsäulenbereich ergeben. Die übrigen Funktionseinschränkungen haben sich nicht wesentlich verschlechtert.
Die Maßstäbe des ursprünglich heranzuziehenden Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) finden sich in § 69 Abse. 1
und 3 des vom Senat infolge der zwischen-zeitlichen Rechtsentwicklung im Rahmen der Verpflichtungsklage
anzuwenden-den Sozialgesetzbuchs - Neuntes Buch - (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
wieder. Ergänzend ist hinzuzufügen, das die Bewertungs-maßstäbe des SchwbG und des SGB IX inhaltlich durch die
"Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz” (AHP) ausgefüllt werden. Diese sind keine Normen, nicht einmal Verwaltungsvorschriften,
denn u.a. fehlt jede entsprechende Er-mächtigungsgrundlage. Sie sind aber antizipierte Sachverständigengutachten,
das heißt letztenendes die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qua-lität und Auswirkung haben und
ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche
Normen von der Verwaltung und von den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur
wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem
Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizini-schen Wissenschaft
entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten
widerlegt werden (BSGE 72, 285; 75, 176; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr.
6).
Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das
bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und
Schmerzen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen
Überzeugung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, hat das Ge-richt alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und
entsprechend § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) mit ärztlicher Hilfe selbständig zu bewerten. Liegen mehrere
Funktionsbeeinträchtigungen vor, ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen (BSGE 81,
50; 82, 176).
Der Teil-Abhilfebescheid vom 27. April 2001 bewegt sich vollständig im Rahmen der Maßstäbe der
rechtsnormähnlichen AHP. Ein GdB darüber hinaus ist nicht festzustellen:
Im Vordergrund steht die Einschränkung der Wirbelsäulenfunktion. Diese bestand ausweislich des Arztbriefes der
Neurochirurgischen Klinik des H. vom 20. November 2000 in einer ausgeprägten Spinalkanalstenose im Segment L4/5
mit erheblicher Schmerz- und Beschwerdebeeinträchtigung. Insoweit hat sich ei-ne Verschlimmerung der
Funktionsbeeinträchtigung ergeben, die Grundlage des Bescheides vom 22. November 1994 war. Die im
erstinstanzlichen Gutachten mitgeteilten Bewegungsausmaße der Wirbelsäule zeigen die eingeschränkte Be-
weglichkeit, die sich vorwiegend in der Lendenwirbelsäule, in geringerem Umfang an der Halswirbelsäule zeigt.
Während die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule bei dem eingeschränkten Schoberzeichen (Ausmaß 10/12
gegenüber 10/15 als Normalwert) das Vorneigen und Rückneigen gegenüber dem Normalwert von 80-0-40 bei dem
Kläger mit Werten von 40-0-10 und das Drehen im Sitzen bei einem Normalwert von 45-0-45 bei dem Kläger mit
Werten von 10-0-10 erheblich einge-schränkt ist, zeigen sich die Bewegungsausmaße im Halswirbelsäulenbereich
weniger ausgeprägt. Von daher ist die versorgungsärztlich vorgeschlagene Be-messung der Beeinträchtigung im
Wirbelsäulenbereich mit einem Wert von 40 nicht zu beanstanden (vgl. AHP S. 140).
Die Hörbehinderung ist nach den Grundsätzen der AHP (S. 69) mit einem Wert von 30 ebenfalls zutreffend bemessen;
dies wird vom Kläger auch nicht in Zweifel gezogen.
Nicht zu beanstanden ist auch die Bewertung der Hüft- und Kniegelenksverände-rungen. Jeweils durch den
erstinstanzlichen Sachverständigen mitgeteilten Be-wegungsausmaße der Hüftgelenke im Bereich
Streckung/Beugung lassen kaum Einschränkungen erkennen, während es bei Abspreizen/Anführen sowie Drehung
auswärts/einwärts bei 90 Grad-Beugung im Hüftgelenk Einschränkungen mit Schmerzangabe durch den Kläger gab.
Nach den Maßstäben der AHP (S. 149) ist hierfür ein GdB von 20 angemessen. Die spezielle Untersuchung der
Kniege-lenke ergab durch den Sachverständigen keine Auffälligkeiten. Allerdings auffällig waren die unterschiedlich
großen Umfangsmaße der unteren Gliedmaßen, die rechts deutlich größer waren als links. Nach den
Bewertungsmaßstäben der AHP (S. 151) ist insoweit eine Bewertung mit maximal 20 gerechtfertigt. In den ange-
fochtenen Bescheiden ist die Einschränkung der Hüfte und der Knie zu einem Wert von 30 zusammengefasst. Dies
ist nicht zu beanstanden.
Die Einschränkungen im Schultergelenk und Unterarm links sind mit einem Wert von 20 einzustufen (AHP S. 143).
Eine Versteifung des Schultergelenks links liegt nicht vor. Die Bewegungseinschränkung des Schultergelenks
einschließlich Schultergürtel ist mit einem Wert von 10 einzustufen, wenn der Arm nur um 120 Grad zu heben und mit
entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfä-higkeit verbunden ist. Bei dem Kläger ist davon auszugehen,
dass der linke Arm seitwärts/körperwärts mit einem Bewegungsausmaß von 60-0-20 (statt 180-0-40 als Normalwert)
sowie rückwärts/vorwärts mit einem Bewegungsausmaß von 30-0-90 (statt 40-0-160) bewegt werden kann. In
Verbindung mit der eingeschränk-ten Unterarmdrehung des linken Arms von 50-0-50 (gegenüber Normalwert von 85-0-
85) ist es gerechtfertigt, diesen Komplex zusammenzufassen. Die Gesamt-bewertung von 20 für diesen Bereich ist
gerechtfertigt.
Keine mit einem GdB zu bedenkende Funktionseinschränkung ergibt sich aus dem augenärztlichen Attest des Dr. K.,
welches den Zustand im Oktober 2001 beschreibt (vgl. AHP S. 63). Denn der Kläger weist auf dem rechten Auge eine
Sehschärfe von 1,0, also ein volles Sehvermögen, und auf dem linken Auge von 0,9, also lediglich mit geringer
Einschränkung auf.
Angesichts dieser Funktionseinschränkungen, deren Schwergewicht im Bereich der Wirbelsäule liegt, ist mit
Rücksicht auf die übrigen Einschränkungen der GdB von 70 gerechtfertigt. Denn die Beeinträchtigung im
Wirbelsäulenbereich wirkt sich auch auf die Einschränkung im Bereich der Hüfte aus, die nicht vollkommen isoliert
von der Wirbelsäule gesehen werden kann. Selbständig steht neben der im Vordergrund stehenden Einschränkung die
Beschränkung der Hörfähigkeit des Klägers. Nach den Vorgaben der AHP (S. 35) ist es auch bei leichten Funktions-
beeinträchtigungen mit einem Wert von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Außmaßes
der Behinderung zu schließen. Nimmt man die im Vordergrund bestehenden Ausfälle der Funktionsfähigkeit der
Wirbelsäule und des Gehörs zusammen, so werden sie durch das Schultergelenk und die Be-einträchtigung
insbesondere im Hüftbereich geringfügig ergänzt. Ein höherer GdB als 70 kann danach nicht festgestellt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.