Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 26.03.2014

LSG Niedersachsen: anerkennung, niedersachsen, berufskrankheit, akte, unfallversicherung, skoliose, belastung, wahrscheinlichkeit, beitrag, gewissheit

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Unfallversicherung
SG Lüneburg 2. Kammer, Urteil vom 26.03.2014, S 2 U 94/11
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Ziffer 2108 der
Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (= BKV) (hier:
BK 2108
Zur beruflichen Belastungssituation:
Der im Jahr 1948 geborene Kläger absolvierte von 1964 bis 1967 eine Lehre
zum
Fleischer
Ableistung seines Wehrdienstes war er von 1971 bis zum 30.09.2008 im G.
beschäftigt. Der genaue Umfang der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit ist
zwischen den Beteiligten streitig und hat im Laufe des Verfahrens zu immer
neuen Berechnungen nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (= MDD)
geführt. Streitig ist insbesondere, zu welchem Umfang der Kläger pro Schicht
beim Tragen der Schweinehälften und Rinderviertel einerseits und bei den
Arbeiten am Flextisch andererseits eingesetzt war.
Die Arbeiten am Flextisch waren im Wesentlichen dadurch geprägt, dass der
Kläger die Schweine nach der Brühung vom Flextisch aus in einen Elevator
gehängt hat. Dabei musste er einen Haken (1,35 kg) in jedes Hinterbein des
Schweines einführen und anschließend beide Haken mit beiden Händen in
das ca. 70 cm darüber liegende Transportband einhängen. Bis 1994 musste
der Kläger das Tier hierfür zunächst an sich heranziehen und um 180°
drehen. Danach war dies aufgrund einer eingeführten Teilautomatisierung
nicht mehr erforderlich. Dieser Vorgang wurde ca. 9 Mal pro Minute ausgeübt,
so dass pro Schicht über 4.000 Hebevorgänge dieser Art anfielen. Während
der Kläger geltend macht, dass er die bis zu 100 kg schweren Tiere bis zu
4.000 Mal am Tag angehoben habe, geht die Beklagte davon aus, dass die
Arbeiten am Flextisch keine wirbelsäulenbelastende Tätigkeit darstellen. Zwar
würde das Anhebegewicht am Flextisch ca. 12 kg betragen. Da der Kläger
diesen Vorgang jedoch in aufrechter Körperhaltung verrichtet habe, sei dieses
Gewicht nicht in der Lage gewesen, die erforderliche Mindestdruckkraft von
2.700 N auf der Lendenwirbelsäule (= LWS) aufzubauen. Das wirksame
Lastgewicht pro Hebevorgang würde lediglich 1.700 N betragen, so dass diese
Tätigkeiten zur Gänze nicht berücksichtigt werden könnten (Stellungnahme
des Präventionsdienstes der Beklagten vom 27.02.2014, Bl. 105 der Akte des
Sozialgerichts <= SG>).
Soweit es die Hebe- und Tragebelastung des Klägers betrifft, zeigen die
Ermittlungen keine einheitliche Linie. So wurde in der Stellungnahme vom
02.04.2012 von Herrn Dipl.-Phys. H. vom Präventionsdienst der Beklagten
ausgeführt, dass die Angaben zur Hebe- und Tragetätigkeit lediglich für einen
Tag/Woche zugetroffen hätten, so dass nicht in der überwiegenden Anzahl der
Arbeitsschichten gefährdende Tätigkeiten ausgeübt worden seien. Daher habe
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sich eine Gesamtbelastungsdosis von 0,00 Nh ergeben. Für den Fall, dass
jedoch die geltend gemachte Hebe- und Tragebelastung an 4 Tagen/Woche
erfolgt sei, würde sich demgegenüber eine Gesamtbelastungsdosis von
25.202,737 Nh ergeben (Bl. 116 f. der Akte der Beklagten <= BA>). Während
die Beteiligten im weiteren Verlauf davon ausgingen, dass der Kläger Hebe-
und Tragetätigkeiten außerhalb der Arbeiten am Flextisch lediglich am
Donnerstag ausgeführt habe, hat der Kläger gegenüber Dr. I. angegeben,
dass er von 1972 - 1978 an mindestens 4 Arbeitstagen/Woche an 4 – 5
Stunden Rinderviertel und Schweinehälften vom Kühlhaus zum Kühlwagen
getragen habe. Es habe sich hierbei um ca. 900 Stück mit 50 - 70 kg
gehandelt, die über eine Entfernung von ca. 20 m transportiert worden seien
(Bl. 80 ff. SG-Akte). In der arbeitstechnischen Stellungnahme vom 27.02.2014
führte daraufhin Herr März aus, dass unter dieser Prämisse die
arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien. Die Gesamtbelastungsdosis
würde danach 17,8 MNh betragen (Bl. 109 SG Akte).
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger schließlich vorgetragen, dass er
auch während seiner Lehrzeit Rinderviertel und Schweinehälften getragen
habe. Der Transport sei jeweils auf der Schulter erfolgt.
Zur Entwicklung der Wirbelsäulenerkrankung:
Nach den Angaben des Klägers seien erste Beschwerden im Bereich der LWS
bereits im Jahr 1980 aufgetreten (Bl. 59 BA). Behandlungszeiten sowie
Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund der Diagnose "Lumboischialgie" liegen aus
den Jahren 1999 - 2005 vor. Eine Röntgenaufnahme der LWS vom
04.06.2003 ergab „eine linkskonvexe Verbiegung der LWS, eine ausgeprägte
Spondylose der LWS von L 1 - S 1, eine Randzackenbildung im Bereich aller
Lenden-wirbelkörper und eine Verschmälerung der Zwischenwirbelräume bei L
4/5 und L 5/S 1“ (Bl. 16 BA). Die letzte Arbeitsunfähigkeit aufgrund von
Kreuzschmerzen bestand allerdings vom 20.05.2005 bis zum 01.06.2005 (Bl.
32 BA).
Vom 07.02.2007 - 17.02.2007 war der Kläger aufgrund einer
„Zervikalneuralgie" arbeitsunfähig erkrankt. Die letzte Arbeitsunfähigkeit vom
28.03.2008 bis zum 30.09.2008 beruhte auf einer Gonarthrose und einem
Impingementsyndrom der Schulter (Bl. 28 BA). Vom 18.06.2008 bis zum
09.07.2008 wurde außerdem in J. eine medizinische Reha-Maßnahme
durchgeführt. Auch dort waren als führende Gesundheitsstörungen die
Schulter- und Knieschmerzen angegeben, während die Lumbalgien, die
Handgelenksarthrose, die Adipositas als Nebendiagnosen rangierten. Seit
dem 01.08.2010 erhält der Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung aus
der gesetzlichen Rentenversicherung.
Zum berufsgenossenschaftlichen Feststellungs- und Widerspruchsverfahren:
Das berufsgenossenschaftliche Feststellungsverfahren wurde durch die
ärztliche Anzeige des behandelnden Arztes Dr. K. vom 17.09.2009 eingeleitet.
Da sich nach dem Bericht des Präventionsdienstes der Beklagten vom
19.01.2010 keine gefährdende Tätigkeit im Sinne einer BK 2108 ergab (Bl. 66
BA), lehnte die Beklagte mit dem
Bescheid vom 31.03.2010
einer BK 2108 ab. Im sich anschließenden Widerspruchsverfahren hat Dr. K.
am 28.11.2010 einen weiteren Bericht erstattet. Darin wurde ausgeführt, dass
der Kläger über Ruhe- und Belastungsschmerzen der Halswirbelsäule (=
HWS) klagen würde. Im Bereich der HWS sei „eine schwerste
Unkovertebralarthrose insbesondere in den Segmenten C 4 bis C 6“
vorhanden. Von „schwersten degenerativen Veränderungen sei auch die
mittlere und untere Brustwirbelsäule (= BWS) mit spondylotischen großen
Randzacken und durch Spangenbildung verbundene Wirbel“ betroffenen. Im
Bereich der LWS würde ein Bewegungs- und Belastungsschmerz mit
Ausstrahlung in die Oberschenkel vorliegen. Neurologische Symptome seien
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nicht festgestellt worden. Es würden „eine ausgeprägte Spondylose und
Osteochondrose und eine Verschmälerung des Zwischenwirbelraumes bei L
4/5 sowie eine deutliche linkskonvexe Skoliose“ vorliegen (Bl. 95 BA). In der
gutachtlichen Stellungnahme vom 17.01.2011 wies Dr. L. darauf hin, dass
beim Kläger vielfältige Veränderungen der gesamten Wirbelsäule bestehen
würden. Außerdem sei beim Kläger eine eigenständige Erkrankung im Sinne
einer „Spondylosis hyperostotica“ vorhanden. Unter der Annahme, dass beim
Kläger eine sog. Begleitspondylose bestehen würde, sei zwar zunächst von
einer Konstellation B 1 der „Medizinischen Beurteilungskriterien zu
bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der LWS" (abgedruckt in Trauma
und Berufskrankheit 3/2005, 211 ff., hier
: Konsensempfehlungen
auszugehen. Allerdings müssten beim Kläger auch die anderen
Wirbelsäulenabschnitte beachtet werden, so dass hier eine Konstellation B 8
oder B 7 nach den Konsensempfehlungen vorliegen könnte. Sofern die
arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien, wäre daher eine
Begutachtung durchzuführen. Fraglich sei allerdings, ob beim Kläger aufgrund
der zum Zeitpunkt der Tätigkeitsaufgabe führenden Schulter- und
Kniebeschwerden der Unterlassungstatbestand erfüllt sei (Bl. 102 ff. BA). In
der Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten vom 18.02.2011
wurde erneut die Auffassung vertreten dass die Belastungsabschätzung nach
dem MDD weiterhin bei 0,00 Nh liegen würde (Bl. 116 BA). Der Widerspruch
wurde mit dem
Widerspruchsbescheid vom 26.06.2011
122 BA).
Zum Klageverfahren:
Hiergegen hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers am 11.07.2011 beim
Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben und weiter geltend gemacht,
dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien. Das weitere
Klageverfahren war daher auch zunächst durch einen intensiven
Schriftwechsel der Beteiligten in Bezug auf die arbeitstechnischen
Voraussetzungen geprägt.
In der mündlichen Verhandlung wurde von der Kammer, dem
Sachverständigen und den Beteiligten ein Video in Augenschein genommen,
welches die Arbeit am Flextisch nach 1994, d. h. nach der durchgeführten
Teilautomatisierung, veranschaulicht. Außerdem hat Dr. I. in der mündlichen
Verhandlung ein Gutachten erstattet, nachdem er den Kläger zuvor am
12.02.2012 untersucht hatte. Darin hat er ausgeführt, dass beim Kläger im
Bereich und L 4/5 und L 5/S 1 eine deutliche Bandscheibenschädigung i. S.
eines sog. Vakuumphänomens vorliegen würde. Zwar seien auch an der LWS
Osteophyten im Sinne einer Abstützreaktionen vorhanden. Ob beim Kläger
eine sog. Begleitspondylose vorliege, könne jedoch nicht mit Gewissheit
festgestellt werden, da hierfür auch die „Spondylosis hyperostotica“ als
Grunderkrankung verantwortlich gemacht werden könne. Dafür würde auch
sprechen, dass entsprechende Veränderungen auch im Bereich der BWS in
ausgeprägter Weise vorhanden sind. Außerdem seien die Abstützreaktionen
auch durch die Skoliose bedingt. Weiterhin wäre bei der vom Kläger meist in
aufrechter Körperhaltung verrichteten Arbeit am Flextisch zu erwarten
gewesen, dass nicht nur die Segmente L 4/5 und L 5/S 1 im Sinne einer
Bandscheibenverschmälerung betroffen sind, sondern auch die darüber
liegenden LWS-Segmente. Im Übrigen seien die Veränderungen im HWS- und
BWS-Bereich gleich stark ausgeprägt, wie diejenigen im LWS-Bereich. Das
Erkrankungsbild im Bereich der HWS könne allerdings nicht mit einer BK 2109
im Einklang gebracht werden, da in diesem Fall Veränderungen in den oberen
Segmenten der HWS, insbesondere bei C 2/3, zu erwarten gewesen wären.
Dies ist jedoch beim Kläger nicht der Fall. Schließlich könne er auch keinen
wesentlichen Beitrag der mit der LWS-Erkrankung einhergehenden
Beschwerden an der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit feststellen. Dies
würde daran liegen, dass die letzte Arbeitsunfähigkeit hinsichtlich der LWS-
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Erkrankung aus dem Jahr 2005 datieren würde und bei der im Juni 2008
durchgeführten Reha-Maßnahme die Schultererkrankung ganz deutlich im
Vordergrund gestanden sei.
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
1.) den Bescheid der Beklagten vom 31.03.2010 und den
Widerspruchsbescheid vom 27.06.2011 aufzuheben,
2.) festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach der Ziffer
2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung lagen die Gerichtsakten sowie die Akten der Beklagten
zugrunde. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig (§
54 Abs. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nrn. 1, 3 SGG); sie ist jedoch nicht begründet. Die
angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig, da eine BK 2108 nicht festgestellt
werden kann.
Nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung kann nicht jede
Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt werden. Gem. § 9 Abs. 1 Siebtes
Buch Sozialgesetzbuch (= SGB VII) sind Berufskrankheiten vielmehr
nur
solche Krankheiten, welche in der Anlage 1 zur BKV im Einzelnen bezeichnet
sind und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2,
3 oder 6 begründenden Tätigkeiten erleiden (sog. Listenerkrankungen). Streitig
ist hier nur eine
BK 2108
"Bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges
Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeit in
extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten
gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder
das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können."
Für die Anerkennung einer Berufskrankheit gelten in der gesetzlichen
Unfallversicherung folgende Grundsätze: Während die
gesundheitsschädlichen beruflichen Einflüsse (d. h. im konkreten Fall die
arbeitstechnischen Voraussetzungen) und die Erkrankung als solche mit
Gewissheit bewiesen werden müssen, ist für die Feststellung des
Zusammenhangs zwischen den beruflichen Einwirkungen und dem
Gesundheitsschaden (haftungsausfüllende Kausalität) ein hinreichender Grad
von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung erst
dann erreicht, wenn bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf
eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen
(vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich erst dann
zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen
wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang
spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung
ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung,
Kommentar, § 8 SGB VII, Rz. 10 ff.). Die reine Möglichkeit eines solchen
Zusammenhangs ist daher für eine Anerkennung nicht ausreichend (BSG, Urt.
v. 27.06. 2000 - B 2 U 29/99 R, S. 8 f.; Urt. v. 02.05.2001 - B 2 U 16/00 R, S. 7
m. w. N.; Landessozialgericht <= LSG> Niedersachsen, Urt. v. 25.07.2002 - L
3/9/6 U 12/00, S. 6).
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Bei Anwendung dieser Kriterien kann hier keine Berufskrankheit anerkannt
werden. Zunächst war fraglich, ob beim Kläger die arbeitstechnischen
Voraussetzungen der BK 2108 erfüllt sind. In diesem Zusammenhang sei
allerdings darauf hingewiesen, dass die Kammer die Auffassung der
Beklagten, nach der die am Flextisch durchgeführten Hebevorgänge keine
belasteten Tätigkeiten i. S. einer BK 2108 darstellen, letztendlich teilt. Dies
beruht vor allem darauf, dass die lastenunabhängigen Konstanten der
Berechnungsformeln für das Umsetzen i. H. v. 800 N bzw. für das Heben i. H.
v. 1.800 N dadurch zustande kommen, dass diese Konstanten die Druckkraft
auf die Bandscheiben ohne jede zusätzliche Belastung, d. h. allein aufgrund
des Körpergewichts, beschreiben. In aufrechter Körperhaltung beträgt diese
durchschnittlich 800 N. Da beim Beugen des Rumpfes infolge der
Kompression der Bandscheiben eine entsprechende Belastung hinzukommt,
war dieser Wert auf insgesamt 1.800 N zu erhöhen. Dieser Ansatz wurde auch
vom medizinischen Sachverständigen für schlüssig erachtet. Somit werden
nach der Formel F
L5-S1
[N] = 800 + 75 x „wirksames Lastgewicht“ (vgl. BK
Report 2/2003, S. 80) für Umsetz- bzw. Hebevorgänge in aufrechter
Körperhaltung bei einem wirksamen Lastgewicht von 12 kg lediglich 1.700 N
Druckkraft auf die LWS-Bandscheiben aufgebaut. Eine solche Einwirkung ist
jedoch nach den gegenwärtigen medizinischen Erkenntnissen wiederum nicht
ausreichend, die LWS zu schädigen. Nach der Rechtsprechung des BSG
liegen solche Erkenntnisse vielmehr erst bei einer Mindestdruckkraft pro
Arbeitsvorgang i. H. v. 2.700 N vor (BSG, Urt. v. 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R, Rz
23). Selbst bei einem Anhebegewicht von 20 kg würden daher nur 2.300 N pro
Arbeitsvorgang erreicht.
Ob der Kläger – wie zuletzt angegeben – tatsächlich an vier Tagen/Woche
Schweinehälften und Rinderviertel getragen hat und somit entsprechend den
neuesten Berechnungen der Präventionsabteilung der Beklagten unter dieser
Prämisse die arbeitstechnischen Voraussetzungen mit einer Gesamtdosis i. H.
v. 17,8 MNh erfüllt sind, kann die Kammer offen lassen, da die Anerkennung
einer Berufskrankheit hier bereits aus rein medizinischen Gründen nicht
erfolgen kann. In diesem Fall ist wiederum die genaue Prüfung der
arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht mehr erforderlich (vgl. LSG
Niedersachsen, Urt. v. 06.04.2000 - L 6 U 163/99; Urt. v. 12.12.2000 - L 9/3 U
83/00, S. 8).
Selbst bei Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen existiert nach der
höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Vermutung dafür, dass eine im
Einzelfall vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS allein
ursächlich oder wesentlich mitursächlich auf die versicherte Tätigkeit
zurückzuführen ist (BSG, Urt. v. 18.11.1997 - 2 RU 48/96 = SGb 1999, 39 - 41;
LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 26.08.2008 - L 9 U 61/06, m. w. N.). Es
sind insbesondere nicht die Grundsätze des Anscheinsbeweises anzuwenden
(BSG, a. a. O.). Zur Begründung der Ursächlichkeit im Rechtssinne bedarf es
daher eines über die Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen
hinausreichenden positiven Nachweises einer überwiegenden
berufsbedingten Verursachung im konkreten Einzelfall. Dieser kann nicht
bereits dadurch erbracht werden, dass Umstände, die gegen eine
Verursachung sprechen oder diese gar ausschließen, nicht vorliegen. Das
bloße Fehlen solcher "Negativ-Kriterien" kann die Verursachung immer nur i.
S. einer neutralen Beweislage zwar möglich, nicht aber wahrscheinlich
machen (LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 26.08.2008 - L 9 U 61/06). Die
Anerkennung einer BK 2108 ist vielmehr bei der Prüfung der
haftungsausfüllenden Kausalität anhand der Kriterien "Lokalisation und Art der
Degeneration an verschiedenen Wirbelsäulenabschnitten, konkurrierende
Ursachen und Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit" zu beurteilen (LSG
Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 26.09.2008 - L 14 U 126/06).
Die Frage, unter welchen Umständen ein Schadensbild mit Wahrscheinlichkeit
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auf die berufliche Belastung zurückzuführen ist, muss darüber hinaus nach
dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand unter
Zuhilfenahme medizinischer Erfahrungssätze festgestellt werden. Als aktueller
Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung
gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf
dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über
die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen
abgesehen, Konsens besteht. Dazu können einschlägige Publikationen,
beispielsweise die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums oder
Konsensempfehlungen der mit der Fragestellung befassten Fachmediziner
herangezogen werden, sofern sie zeitnah erstellt oder aktualisiert worden sind
und sich auf dem neuesten Stand befinden (BSG, Urt. v. 27.06.2006 - B 2 U
13/05 R). Auch Dr. Dost hat dem folgend die o. g. Konsensempfehlungen als
Ausgangspunkt seiner Beurteilung gewählt. Denn bei diesen handelt es sich
um auf dem aktuellen Stand befindende Empfehlungen der mit der
einschlägigen Fragestellung befassten Fachmediziner, die den maßgebenden
medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergeben (BSG, Urt. v.
27.10.2009 - B 2 U 16/08 R).
Dr. I. hat zunächst das Erkrankungsbild des Klägers im Bereich der
Wirbelsäule zutreffend in die Gruppe"B"der Konsensempfehlungen
eingeordnet.DamitsindKonstellationen beschrieben,
in denen die bandscheibenbedingte Erkrankung das Segment L5/S1
und/oder L 4/5 betrifft und der Bandscheibenschaden sich bereits i. S.
einer Chondrose 2.° oder höher und/oder i. S. eines
Bandscheibenvorfalls manifestiert hat.
Beim Kläger besteht eine solche bandscheibenbedingte Erkrankung in den
Segmenten L 4/5 und L 5/S 1 im Sinne eines Vakuumphänomens, welches
nach den Ausführungen von Dr. I. eine deutliche Bandscheibenschädigung
darstellt.
Die Kammer konnte allerdings aufgrund der Ausführungen von Dr. I. nicht zu
dem Schluss kommen, dass im vorliegenden Fall eine Konstellation B 1 - und
somit sukzessive eine Konstellation B 7 oder B 8 - der Konsensempfehlungen
vorliegt, da Dr. I. eine Begleitspondylose, die eine Voraussetzung für die
Annahme der Konstellation B 1 ist, nicht sicher feststellen konnte. Er hat
vielmehr ausgeführt, dass für die entsprechenden Veränderungen auch die
Spondylosis hyperostotica als Grunderkrankung verantwortlich gemacht
werden kann. Dies ergibt sich vor allem darauf, dass entsprechende
Veränderungen auch im BWS-Bereich in ausgeprägter Weise vorhanden sind.
Außerdem sind die Abstützreaktionen auch durch die Skoliose bedingt.
Schließlich wäre bei der vom Kläger meist in aufrechter Körperhaltung
verrichteten Arbeit am Flextisch zu erwarten gewesen, dass nicht nur die
Segmente L 4/5 und L 5/S1 im Sinne einer Bandscheibenverschmälerung,
sondern auch die darüber liegenden LWS-Segmente, betroffen sind. Da eine
Begleitspondylose im Sinn einer beruflich bedingten belastungsadaptiven
Reaktion nicht festgestellt werden kann, kann für die weiteren Überlegungen
nicht auf die Konstellation B 1 zurückgegriffen werden.
Ob hier eine Konstellation B 2 der Konsensempfehlungen, nach der unter
gewissen Voraussetzungen die Anerkennung einer BK 2108 auch ohne
Feststellung einer Begleitspondylose möglich ist, vorliegt, kann dahinstehen.
Selbst beim Vorliegen der darin genannten Voraussetzungen könnte eine
Anerkennung nicht erfolgen, da das beim Kläger vorliegende Schadensbild in
die Konstellation
B 6
werden Konstellationen im Sinne der Klassifizierung B 2 erfasst mit der
Besonderheit, dass die Bandscheibenschäden im HWS- und BWS-Bereich
gleich stark ausgeprägt sind wie an der LWS.
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Dr. I. hat nun unter Bezugnahme die vorliegenden röntgenologischen
Untersuchungen überzeugend dargestellt, dass die Bandscheibenschäden an
der HWS und BWS mindestens gleichartig ausgeprägt sind wie an der LWS.
Außerdem hat er schlüssig ausgeführt, dass das Erkrankungsbild des Klägers
im Bereich der HWS nicht mit einer BK 2109 in Einklang bringen ist, da in
diesem Fall Veränderungen in den oberen Segmenten der HWS,
insbesondere bei C 2/3, zu erwarten gewesen wären. Dies ist jedoch beim
Kläger nicht der Fall. Die Schwere der Erkrankung im HWS- und BWS-Bereich
wurde auch durch die Berichte des behandelnden Arztes Dr. K. bestätigt,
wobei ergänzend darauf hinzuweisen ist, dass aufgrund der Diagnose
„Zervikalneuralgie“ vom 07.02.2007 - 17.02.2007 Arbeitsunfähigkeit bestand
und somit die Wirbelsäulenerkrankung in diesem Abschnitt auch klinisch in
Erscheinung getreten ist. Da bezüglich der Konstellation B 6 der
Konsensempfehlungen in der medizinischen Wissenschaft kein Konsens für
das Vorliegen einer BK 2108 besteht, kann eine Anerkennung nicht erfolgen
(vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 01.02.2007 – L 6 U 168/05;
Beschl. v. 07.10.2010 – L 14 U 193/10).
Aus diesem Grund kann auch offen bleiben, ob hier der sog.
Unterlassungstatbestand, d. h. ob die gefährdende Tätigkeit aufgrund der
bandscheibenbedingten Wirbelsäulenerkrankung aufgegeben wurde, erfüllt ist.
Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass auch insoweit Dr. I. keinen
wesentlichen Beitrag der mit der LWS-Erkrankung einhergehenden
Beschwerden an der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit feststellen konnte,
zumal die letzte Arbeitsunfähigkeit hinsichtlich der LWS-Erkrankung aus dem
Jahr 2005 datiert und bei der im Juni 2008 durchgeführten Reha-Maßnahme
die Schultererkrankung ganz deutlich im Vordergrund stand.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.