Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 04.06.2002
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 04.06.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 11 VS 27/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 VS 2/01
Das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 19.Dezember 2000 wird aufgehoben. Die über das Anerkenntnis vom 1.
November 2000 hinaus-gehende Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung (WDB) Versorgung
nach § 80 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) i.V.m. § 30 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.
Der am 22. September 1966 geborene Kläger war vom 1. Juni 1989 bis zu seiner wegen Dienstunfähigkeit erfolgten
Entlassung mit Ablauf des 30. April 1991 Soldat bei der Bundeswehr. In einem Antrag auf Ausgleich vom 18. Juli
1990 wurde als vorläufige Krankheitsbezeichnung ein Schultergürtelkompressionssyndrom sowie ein
Halswirbelsäulen-Schultersyndrom aufgrund eines am 8. August 1989 während eines Nachtmarsches erlittenen
Sturzes auf die linke Schulter angegeben. Im Rahmen der von der Bundeswehr aufgenommenen medizinischen
Ermittlungen stellte die Herz-Kreislauf-Klinik I. in einem Befundbericht vom 28. Februar 1990 bei dem Kläger ein
neurovaskuläres Schultergürtelkompressionssyndrom (Thoracic outlet-Syndrom) beidseits, führend links, mit
Handischämie bei der Hyperabduktion links fest. Im Bundeswehrkrankenhaus J. wurde ein Costoclavicular-Syndrom
bei Verdacht auf Blockierung der ersten Rippe links am 10. April 1990 festgestellt.
Am 14. März 1991 beantragte der Kläger Versorgung nach dem SVG. Das Versorgungsamt (VA) Hannover zog die
den Kläger betreffenden medizinischen Unterlagen der Bundeswehr bei und veranlasste ein Untersuchungsgutachten
des Dr. K. vom 13. Februar 1992 mit radiologischer Zusatzuntersuchung der Frau Dr. L. vom 10. Februar 1992 sowie
ein Untersuchungsgutachten des Neurochirurgen Dr. M. vom 20. Februar 1992. Eine Versorgung lehnte es ab
(Bescheid vom 24. Juli 1992), weil eine wesentliche Verletzung nicht nachgewiesen sei. Der Sturz sei als Ursache der
Zirkulationsbehinderung auszuschließen. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. April 1998).
Gegen den am 28. April 1998 abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 29. Mai 1998 Klage erhoben.
Hierin führt er die Beschädigung auf den Unfall bei dem Nachtmarsch im August 1989 zurück, weil er vorher völlig
beschwerdefrei gewesen sei. Zur Begründung bezieht er sich auf den Arztbrief der Internisten und Angiologen Prof.
Dres. N./O. vom 30. April 1999.
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat den Kläger am 8. August 2000 angehört sowie Befundberichte des Neurologen
und Psychiaters Dr. P. vom 14. August 2000 mit weiteren ärztlichen Unterlagen sowie des Arztes für
Allgemeinmedizin Dr. Q. vom 18. September 2000 eingeholt. Der Beklagte hat am 1. November 2000 ein von dem
Kläger angenommenes Anerkenntnis einer "einmaligen Verschlimmerung eines Gefäß-, Nerven-
Kompressionssyndroms im Bereich des linken Schlüsselbeins” mit einer MdE um 10 ab 1. Mai 1991 abgegeben.
Einer Stellungnahme des Chirurgen Dr. R. vom 21. September 2000 für den Beklagten folgend hat das SG mit Urteil
vom 19. Dezember 2000 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, über das
angenommene Teil-Anerkenntnis hinaus dem Kläger Versorgung nach einer MdE um 30 seit 1. Mai 1991 wegen
"durch Prellung verschlimmerte Nerven-Gefäßkompression unter dem Schlüsselbein mit Durchblutungsstörungen” zu
gewähren. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, in der
Herz-Kreislauf-Klinik I. habe man Kompressionen wie die beim Kläger festgestellte als bei jungen Menschen üblicher
Weise ohne Beschwerden ablaufende Anlageanomalie bezeichnet, während hier von einer traumatischen Ursache
beiderseits auszugehen sei mit linksführender Symptomatik. Denn diese sei erst nach dem Unfall im Jahre 1989
aufgetreten. Dem sei Dr. R. überzeugend mit dem Argument gefolgt, direkt nach dem angeschuldigten Ereignis seien
sehr starke Schmerzen aufgetreten, die klinischen Zeichen einer Mangeldurchblutung bis zur Blauverfärbung der
linken Hand hätten sich erstmals nach dem Unfall und seither zunehmend nachweisen lassen. Demgemäß sei nicht
lediglich von einer einmaligen Verschlimmerung auszugehen, vielmehr von einem Dauerzustand mit sich
verschlimmernder Tendenz. Zutreffend habe Dr. R. die MdE um 30 eingeschätzt. Sie sei vergleichbar mit der
Auswirkung einer Versteifung des Schultergelenks in günstiger Stellung bei gut beweglichem Schultergürtel oder mit
einer Instabilität des Schultergelenks mittleren bis schweren Grades.
Gegen das am 15. Januar 2001 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit der am 22. Januar 2001
eingegangenen Berufung. Die Entscheidung des SG sei aus medizinischen Gründen nicht überzeugend. Vielmehr
bestehe lediglich eine MdE um 10 gemäß dem abgegebenen Anerkenntnis.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 19. Dezember 2000 aufzuheben und die über das Anerkenntnis vom 1.
November 2000 hinausgehende Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Untersuchungsgutachten des Internisten und Angiologen Prof. Dr. S. vom 7.
September 2001 mit schriftlicher Erläuterung vom 17. Januar 2002.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Beschädigtenakten des VA Hannover
(Antragslisten-Nr.: 52/91 – SVG; Lager-Nr.: 93100) sowie die WDB-Akte des Wehrbereichsgebührnisamtes III,
Düsseldorf, (Az.: M-202/90) und die Akte des SG Lüneburg (Az.: S 11 V 1/94 = L 8 V 5/96, Landessozialgericht
Niedersachsen) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil
kann keinen Bestand haben.
Ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, erhält nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen
der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Wehrdienstbeschädigung auf Antrag Versorgung in
entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit im SVG nichts Abweichendes bestimmt ist, § 80 Abs.
1 Satz 1 SVG. Wehrdienstbeschädigung ist eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung,
durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen
Verhältnisse herbeigeführt worden ist, § 81 Abs. 1 SVG; vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu
berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten, § 30 Abs. 1 Sätze 4 u. 5 BVG.
Es lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger über das Anerkenntnis des Beklagten hinaus eine WDB mit
gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen davon getragen hat. Eine solche wird durch das überzeugende
Untersuchungsgutachten des Internisten und Angiologen Prof. Dr. S. vom 7. September 2001 mit Erläuterung vom 17.
Januar 2002 ausgeschlossen. Es genügt zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer
Wehrdienstbeschädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, § 81 Abs. 6 Satz 1 SVG. Eine
solche ist zu bejahen, wenn nach der medizinischen Lehrmeinung mehr für als gegen einen solchen Zusammenhang
spricht. Dies ist hier nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen nicht der Fall. Nachvollziehbar hat
der Sachverständige als wesentlich die Unterscheidung zwischen einer funktionellen Gesundheitsstörung einerseits
und einer organisch fixierten Veränderung oder einem Schaden andererseits herausgearbeitet. Das funktionelle
Krankheitsbild ist durch intermittierende Beschwerden in bestimmten Armstellungen, insbesondere in
Hyperabduktionsstellung gekennzeichnet und lässt sich durch konservative therapeutische Maßnahmen zur
Kräftigung der Schultergürtelmuskulatur bessern. Die auslösende Armstellung muss vermieden werden. Davon
abzugrenzen sind organische Schäden des Gefäßsystems mit Bildung parietaler Thromben am Ort der
Gefäßwandläsion mit konsekutiver Emboliegefahr in den peripheren Arterien. Der Kläger leidet ausweislich der
angiologischen Untersuchung immer noch an einer funktionellen Durchblutungsstörung. Der Sachverständige hat
nachvollziehbar manifeste venöse Durchblutungsstörungen mit Abflussbehinderung im Sinne einer durchgemachten
Armvenenthrombose ebenso ausgeschlossen wie eine organisch fixierte arterielle Minderdurchblutung der Arme oder
Hände. Maßgebliche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Aussage des als besonders sachkundig
ausgewiesenen Sachverständigen, dass sowohl in seiner eigenen Praxis als auch in der angiologischen Literatur nicht
ein Fall bekannt ist, wonach ein funktionelles Thoracic outlet Syndrom durch Unfall entstanden ist. Auch bei dem
Kläger sind organisch fixierte Schäden nicht nachweisbar. Organische Veränderungen an den Gefäßen waren bereits
durch eine Arteriographie vom 5. Januar 1993 ausgeschlossen worden. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um einen
schicksalhaften Verlauf einer unfallunabhängigen Erkrankung handelt. Schon der Befundbericht der Herz-Kreislauf-
Klinik I. vom 28. Februar 1999 bestätigt die anlagemäßige Disposition des Klägers, hat allerdings einen zusätzlichen
traumatischen Einfluss nicht ausgeschlossen. Zur Begründung der hier erforderlichen, von dem zweitinstanzlichen
Sachverständigen nicht bejahten Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs in dem oben dargestellten Sinn
reicht dies indes nicht. Der zeitlich eher lose Zusammenhang mit erstmaligen Beschwerden und dem Sturz von
August 1989 ist als zufällig anzusehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.