Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 18.03.2003

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 18.03.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 3 SB 147/01
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 SB 73/02
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger ein höherer Grad der Behinde-rung (GdB) nach den Maßstäben des
Neunten Sozialgesetzbuchs Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) zusteht.
Der am D. geborene Kläger beantragte am 7. November 2000 nach einem Herz-infarkt die Feststellung des
Behindertenstatus sowie die Feststellung der Voraus-setzungen des Nachteilsausgleichs ”RF” (Befreiung von der
Rundfunkgebühren-pflicht).
Das Versorgungsamt (VA) holte Befundberichte des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 30. November 2000 (mit
weiteren ärztlichen Unterlagen), des Ortho-päden Dr. F. vom 12. Dezember 2000 und des Facharztes für Hals-Nasen-
Ohrenkrankheiten Dr. G. ein und stellte nach versorgungsärztlicher Stellungnah-me des Dr. H. mit Bescheid vom 29.
März 2001 einen GdB von 20 fest. Auf den mit ärztlichen Stellungnahmen des Dr. E. sowie einem Arztbrief des Dr. F.
be-gründeten Widerspruch stellte das VA mit Teil-Abhilfebescheid vom 14. August 2001 einen GdB von 30 sowie die
dauernde Einbuße der körperlichen Beweglich-keit aufgrund folgender Funktionseinschränkungen fest:
1. Herzleistungsminderung bei koronarer Herzkrankheit mit Infarkt und Kranzgefäßaufweiterungsbehandlung
(verwaltungsinterne Bewer-tung: 20),
2. Verschleißleiden der Wirbelsäule mit Belastungsminderung und ausstrahlender Schmerzsymptomatik
(verwaltungsinterne Bewertung: 20).
Eine Funktionsminderung der Schultergelenke wirkte sich auf den GdB nicht er-höhend aus. Der weitergehende, auf
die Feststellung eines GdB von 50 gerich-tete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. August
2001).
Mit der am 19. September 2001 eingegangenen Klage hat der Kläger weiterhin einen GdB von 50 begehrt. Das
Sozialgericht (SG) Lüneburg hat ein im Termin zur mündlichen Verhandlung erläutertes Untersuchungsgutachten des
Internisten Dr. I. eingeholt. Dem Gutachten folgend hat es mit Urteil vom 18. März 2002 die Klage abgewiesen. In den
Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, nach den Maßstäben der
"Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz” (AHP) seien Herzleiden sowie Wirbelsäulenleiden in Verbindung mit den
Schulterbeschwerden jeweils mit einem Wert von 20 nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen zu bewerten.
Dies führe zu einem zutreffenden GdB von 30.
Gegen das am 28. März 2002 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 29. April 2002 (Montag)
eingegangenen Berufung, mit der er weiterhin einen GdB von 50 begehrt.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
1. das Urteil des SG Lüneburg vom 18. März 2002 aufzuheben und den Bescheid vom 14. August 2001 in der
Fassung des Widerspruchs-bescheides vom 30. August 2001 zu ändern,
2. den Beklagten zu verpflichten, einen GdB von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat Befundberichte des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 5. Oktober 2002 - mit Arztbriefen des
Internisten J., des Internisten und Kardiolo-gen Prof. Dr. K. sowie des Radiologen Dr. L. -, des Radiologen Dr. L.
sowie des Neurologen und Psychiaters Dr. M. eingeholt.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehinderten-Akten (N.) des
VA Verden vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet mit Zustimmung der Beteiligten gemäß § 155 Abse. 1, 3 und 4 in Verbindung mit § 124 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein höherer GdB als 30 nach dem
Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, nicht zu. Die getroffenen Entscheidungen sind nicht zu
beanstan-den.
Die Maßstäbe des ursprünglich heranzuziehenden Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) finden sich in § 69 Abse. 1
und 3 des vom Senat infolge der zwischen-zeitlichen Rechtsentwicklung im Rahmen der Verpflichtungsklage
anzuwenden-den Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
wieder. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die Bewer-tungsmaßstäbe des SchwbG und des SGB IX inhaltlich durch
die AHP ausgefüllt werden. Diese sind keine Normen, nicht einmal Verwaltungsvorschriften, denn u.a. fehlt jede
entsprechende Ermächtigungsgrundlage. Sie sind aber antizipierte Sachverständigengutachten, das heißt
letztenendes die Summe von Erfahrungs-sätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie
Richtli-nien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der
Verwaltung und den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur wie solche
eingeschränkt ü-berprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höher-rangigem Recht,
Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft
entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten
widerlegt werden (BSGE 72, 285; 75, 176; zur verfassungsrechtlichen Unbedenk-lichkeit BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr.
6).
Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das
bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und
Schmerzen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen
Überzeugung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, hat das Ge-richt alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und
entsprechend § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) mit ärztlicher Hilfe selbständig zu bewerten. Liegen mehrere
Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen (BSGE 81,
50; E 82, 176).
Der Beklagte und das SG haben sich an die nach den vorstehenden Vorgaben verbindlichen Maßstäbe der AHP
gehalten. Die Beeinträchtigung durch den Herzinfarkt mit der Herzerkrankung ist mit einem Wert von 20 zutreffend
einge-schätzt (vgl. AHP S. 86): Krankheiten des Herzens mit Leistungsbeeinträchtigung bei mittelschwerer Belastung,
Beschwerden und Auftreten pathologischer Mess-daten bei Ergometerbelastung mit 75 Watt sind mit einem Wert von
20 bis 40 zu bedenken. Nach den Mitteilungen im Arztbrief des Internisten J. vom 5. August 2002 war eine Belastung
bis 150 Watt möglich, bei diesem Wert trat eine Enge in der Brust mit Luftnot ein, ohne dass sich eine Ischämie oder
Rhythmusstörungen zeigten. Der Arztbrief des Kardiologen Prof. Dr. K. vom 14. August 2002 belegte ein gutes
Langzeitergebnis. Angesichts dieser Befunde kommt eine höhere Be-wertung nicht in Betracht.
Zutreffend bewertet ist die Einschränkung der Wirbelsäule (AHP S. 140) mit ei-nem Wert von 20. Die mitgeteilten
klinischen Befunde belegen in der Summe mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten,
nämlich im Bereich der Halswirbelsäule unter Einschluss des Schulter-Arm-Syndroms so-wie der Lendenwirbelsäule.
Der Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 5. Oktober 2002 stellt unveränderte Befunde fest.
Diese waren zuletzt in dem Arztbrief des Orthopäden Dr. F. vom 19. April 2001 und durch den Arzt-brief des
Radiologen Dr. L. vom 16. September 2002, der die rechte Schulter mit einem bildgebenden Verfahren abgebildet hat,
erhoben worden. Eine selbständi-ge Bewegungseinschränkung des Schultergelenks einschließlich Schultergürtel, der
nach den AHP (S. 143, 144) mit einem Wert von 10 oder 20 einzustufen wä-re, ist nicht befundet, so dass das
Schulter-Arm-Syndrom und die Beeinträchti-gung der Halswirbelsäule mit dem GdB von 20 in Zusammenfassung mit
der Be-einträchtigung in der Lendenwirbelsäule zutreffend eingestuft ist.
Der in dem Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr. M. vom 13. November 2002 mitgeteilte Zustand eines
mehrdimensionalen depressiven Syndroms/Anpassungsstörung nach Herzinfarkt und Verdacht auf Encephalo-pathie
mit zunehmenden kognitiven Störungen ist als leichtere psychovegetative oder psychische Störung mit einem Wert
von 10 einzustufen (AHP S. 60). Die radiologische Untersuchung einer Ursache der genannten Encephalopathie hat
ein negatives Ergebnis nicht erbracht. Die durch den Befundbericht des HNO-Arztes Dr. G. im Verwaltungsverfahren
für den Gehörverlust mit 21,7 am rechten Ohr und 26,7 am linken Ohr durch das Tonaudiogramm vom 6. Februar 2001
er-mittelten Werte ergeben einen GdB von 10 (AHP S. 69/72). Die beiden mit einem Teilwert von 10 einzuschätzenden
Beeinträchtigungen des Gehörs und im psy-chischen Bereich erhöhen den aus der Einschränkung der Herzfunktion
und der Wirbelsäulenfunktion zu bemessenden GdB von 30 nicht. Denn zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die
nur einen GdB von 10 bedingen, führen nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei
der Ge-samtbeurteilung berücksichtigt werden könnte. Dies gilt auch dann, wenn mehre-re derartig leichte
Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von
20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung, die sich im
GdB ausdrückt, zu schließen (AHP S. 35).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.