Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 24.01.2001

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 24.01.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 12 P 38/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 3 P 31/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen nach Pflegestufe II anstelle der bereits gewährten Leistungen nach
Pflegestufe I für die Zeit ab 14. April 1997.
Die am 26. Oktober 1987 geborene Klägerin, die an einem Diabetes mellitus und einem Zustand nach Operation eines
bösartigen Kleinhirntumors im Jahre 1989 mit verbliebener leichter cerebraler Bewegungsstörungen nebst Ent-
wicklungs- und Wachstumsretardierung leidet, bezog aufgrund eines Gutach-tens vom 25. Juli 1995 Leistungen der
Pflegestufe I. Am 14. April 1997 bean-tragte sie bei der Beklagten eine Höherstufung der ihr gewährten Leistungen
nach Maßgabe der Pflegestufe II. Die Beklagte veranlasste daraufhin die Er-stattung eines Gutachtens durch den
MDKN vom 06. August 1997 und lehnte sodann den Antrag auf Höherstufung mit Bescheid vom 25. August 1997 ab.
Zur Begründung führte sie aus, die von ihr veranlasste Begutachtung habe er-geben, dass bei der Klägerin für eine
höhere Pflegestufe die gesetzlichen Vor-aussetzungen nicht gegeben seien. Mit ihrem dagegen am 09. Oktober 1997
erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass das von der Be-klagten veranlasste Gutachten des MDKN
vom 06. August 1997 ihren Hilfebe-darf nicht zutreffend erfasse. Nach Veranlassung eines weiteren Gutachtens des
MDKN vom 18. Mai 1998 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 27. Mai
1999 zurück.
Gegen den am 31. Mai 1999 abgesandten Widerspruchsbescheid hat die Klä-gerin am 30. Juni 1999 Klage erhoben,
mit der sie ihr bisheriges Begehren weiterverfolgt und darauf hingewiesen hat, der von den Gutachtern der Be-klagten
ermittelte Hilfebedarf, insbesondere im Bereich der Nahrungsaufnahme, entspreche nicht dem tatsächlichen
Hilfebedarf der Klägerin, der wesentlich höher sei.
Das Sozialgericht (SG) Stade hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 21. Juni 2000 abgewiesen. Zur Begründung
hat es ausgeführt, der Hilfebedarf der Klägerin betrage nicht, wie nach § 15 Abs 3 Nr 2 SGB XI für die Annahme der
Pflegestufe II vorausgesetzt, mindestens 3 Stunden, davon mindestens 2 Stunden im Bereich der Grundpflege. Die
Gutachter des MDKN hätten sich bei ihren Zeitansätzen im Rahmen der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflege-
kasse zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit vom Juni 1997 gehalten. Für den Bereich der Körperpflege seien die
Zeitansätze des MDKN zum Teil sogar über die Aufstellung in den von der Klägerin vorgelegten Pflegetagebüchern
hinausgegangen. Für die Verrichtung der mundgerechten Zubereitung der Nah-rung sowie der Aufnahme der Nahrung
seien die erheblichen Diskrepanzen zwischen den MDKN-Ermittlungen und den Aufstellungen der Klägerseite damit
erklärbar, dass der MDKN zutreffend die teilweise Selbständigkeit der Klägerin dadurch in Rechnung gestellt habe,
dass er lediglich Zeiten für die Aufforderung und Kontrolle der Nahrungsaufnahme, nicht jedoch die Zeit einer
kontinuierli-chen Anwesenheit während der gesamten Mahlzeiten in Ansatz gebracht habe. Der MDKN habe auch zu
Recht berücksichtigt, dass die Klägerin infolge ihrer Diabetes-Erkrankung über den Tag verteilt zwar 7 bis 8 kleine
Mahlzeiten zu sich nehmen müsse, das Gesamtbild der Behinderungen es jedoch als möglich erscheinen lasse, dass
die Pflegeperson während eines Teils der langdauern-den Essenszeiten der Klägerin anderen Beschäftigung
nachgehen könne und nicht dauernd zeitlich und örtlich gebunden sei. Im Bereich der Mobilität seien die von den
Gutachtern des MDKN gewählten Zeitansätze noch geringfügig zu kürzen, weil die Unterstützung beim Verlassen bzw
Wiederaufsuchen der Woh-nung durch die Klägerin wegen notwendiger Arztbesuche lediglich zweimal pro Monat bzw
einmal im Quartal erfolge und nicht, wie nach den §§ 14, 15 SGB XI gefordert wenigstens einmal wöchentlich. Zeiten
für die Injektionen des Insulins und die Messungen des Blut- und Urinzuckers könnten nicht berücksichtigt werden,
weil es sich dabei um eine Behandlungspflege handele, die aus dem berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf
ausgeklammert sei.
Gegen den – am 22. Juni 2000 abgesandten – Gerichtsbescheid hat die Kläge-rin am 17. Juli 2000 Berufung
eingelegt. Zur Begründung macht sie geltend, die Feststellungen des MDKN wichen zum Teil nicht unerheblich
voneinander ab, darüber hinaus seien auch die Aussagen der Pflegepersonen mit den Schät-zungen des MDKN nicht
vereinbar. Aus diesem Grunde hätten weitere Ermitt-lungen angestellt werden müssen. Diese habe das SG versäumt.
Bezüglich der Ermittlung des Hilfsbedarfs im Bereich der Ernährung habe sich das SG zum Teil auf Spekulationen
gestützt, wenn es ausgeführt habe, es erscheine mög-lich, dass Pflegepersonen während eines Teils der
langandauernden Essens-zeiten andere Beschäftigungen verrichten könnten und deshalb nicht dauernd zeitlich und
örtlich gebunden seien. Das SG habe übersehen, dass die Klägerin ständig motiviert werden müsse, damit sie die
speziell für sie zubereitete Nah-rung auch insgesamt zu sich nehme. Dies sei wegen des Krankheitsbildes des
Diabetes unerlässlich. Nicht berücksichtigt hätten die Gutachter des MDKN auch, dass die Klägerin bei der
Nahrungsaufnahme sehr langsam sei. Entge-gen der Auffassung des SG müssten schließlich die Gabe von Insulin
sowie die regelmäßig erforderlichen Messungen des Blutzuckerspiegels zur Ernährung hinzu gerechnet werden. Bei
beiden Hilfestellungen handele es sich um solche, die in einem ausschließlichen und direkten Zusammenhang mit der
Grundver-richtung der Nahrungsaufnahme ständen.
Die Klägerin beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 21. Juni 2000 und den Widerspruchsbescheid der Beklagten
vom 27. Mai 1999 aufzuheben;
2. die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 25. August 1997 zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit ab 14.
April 1997 Leistungen nach Pflegestufe II anstelle der bereits gewährten Leistungen nach Pflegestufe I zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und nimmt im Übrigen auf ein von ihr während des Berufungsverfahrens
veranlasstes Gutachten des Dr Rotemund, MDKN, vom 07. November 2000 Bezug.
Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegens-tand des Verfahrens gewesen. Wegen
der weiteren Einzelheiten des Sachver-halts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozess- und Beiakten
ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin gegen die Beklagte seit dem
14. April 1997 lediglich Leistungen nach Pflegestufe I zustehen. Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen wird auf
die Begründung des angefochtenen Gerichtsbescheides Bezug genommen (§ 153 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG-
).
Im Berufungsverfahren sind neue Gesichtspunkte, die eine der Klägerin günsti-gere Entscheidung rechtfertigen
könnten, nicht hervorgetreten. Vielmehr hat auch das von der Beklagten während des Berufungsverfahrens eingeholte
Gut-achten des Dr H., MDKN, vom 07. November 2000 die bisherigen Ermittlungen der Beklagten in vollem Umfang
bestätigt. Danach hat die Klägerin im Bereich der Grundpflege nicht einen Hilfebedarf von wenigstens 120 Minuten,
wie dies § 15 Abs 3 Nr 2 SGB XI für die Annahme von Pflegestufe II voraussetzt, son-dern lediglich einen solchen
von 88 Minuten. Dies hat der Gutachter Dr H. in seinem Gutachten unter Würdigung der krankheitsbedingten
Funktionsdefizite der Klägerin und der daraus folgenden Auswirkungen auf die Wahrnehmung der einzelnen – in § 14
Abs 4 SGB XI abschließend aufgezählten – Verrichtun-gen des täglichen Lebens sorgfältig begründet. Dabei hat er
insbesondere auch dem geistig-seelischen Status und dem damit verbundenen Anleitungs- und Aufsichtsbedarf der
Klägerin, zB beim Duschen, der Zahnpflege und dem Kämmen sowie beim An- und Auskleiden, in besonderer Weise
Rechnung ge-tragen. Dies gilt insbesondere auch für den – von der Berufung besonders an-gesprochenen – Bereich
der Ernährung, zu dem der Gutachter anmerkt, dass sie die Klägerin zwar ihre Brote selbständig streiche, jedoch
darauf geachtet werden müsse, dass nicht zu dick Margarine auftrage. Da die Klägerin im Zeit-punkt dieser
Begutachtung bereits selbständig zu essen und zu trinken ver-mochte, erscheint es einleuchtend, wenn der Gutachter
hier nur noch einen zweimaligen täglichen Hilfebedarf von lediglich 2 Minuten angesetzt hat. Dabei ist zu beachten,
dass ein besonderer Hilfebedarf bei den Mahlzeiten, die die Klägerin gemeinsam mit ihrer Mutter bzw ihren Eltern
einnimmt, überhaupt nicht anfällt. Es leuchtet im Übrigen auch ein, dass der Hilfebedarf der Klägerin be-züglich der
Ernährung in den Gutachten vom 25. März 1998 und 26. Oktober 1997 noch deutlich höher war (42 bzw 59 Minuten),
weil die Klägerin zu diesen Zeitpunkten unbeschadet ihrer Defizite gegenüber gleichaltrigen gesunden Kin-dern noch
weniger entwickelt war, als im Zeitpunkt der Untersuchung am 31. Oktober 2000. Auch die Vorgutachter haben in
ihren Zeitansätzen entgegen der Annahme der Berufung für den Bereich der Ernährung einen besonderen Zeitaufwand
für die Beaufsichtigung und Anleitung ausdrücklich anerkannt. So-weit zum Bereich der Ernährung weiterhin
beanstandet wird, dass hierzu je-denfalls auch Hilfe bei der Messung des Blutzuckerspiegels sowie bei der Gabe von
Insulin gehöre, ist darauf hinzuweisen, dass Blutzuckertests, Urinkontrollen und das Spritzen von Insulin nach
ständiger Rechtsprechung des Bundessozi-algerichts (BSG) nicht zur Grundpflege gehört, sondern dass es sich dabei
um – nicht berücksichtigungsfähige – krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen handelt (BSG, Urteil vom 16.12.1999
– Az.: B 3 P 5/98 R – mwN).
Nach allem hat die Berufung keinen Erfolg haben können.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Es hat kein Anlass bestanden, die Revision zuzulassen.