Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 22.04.2003

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 22.04.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 18 AL 370/02 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 7 AL 71/03 ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. Januar 2003 wird aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird im Wege
der einstweiligen Anordnung verpflichtet, nach Vorlage einer Abtretungserklärung über einen Betrag von 30.000,00
EUR aus seiner Forderung gegen die F. Lebensversicherungs AG aus der Lebensversicherung Nr. 8.692.691 dem
Antragsteller mit Wirkung vom 26. September 2002 Arbeitslosenhilfe dem Grunde nach zu bewilligen. Die
Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller beansprucht die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit ab 26. September 2002 im Wege
der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.
Der am 28. September 1940 geborene Antragsteller war vom 11. Mai 1955 bis 31. August 1965 versicherungspflichtig
beschäftigt und entrichtete Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung. Ab 1. September 1965 war er als
selbständiger Speditionskaufmann tätig und entrichtete bis Dezember 1973 freiwillige Beiträge zur Seekasse. Vom 1.
September 1996 bis 31. September 1999 war der Antragsteller als Geschäftsführer der G. Speditions GmbH H. gegen
ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt von 4.550,00 DM beschäftigt. Vom 1. März 1999 bis 6. August 2000 bezog er
Krankengeld und mit Bescheid vom 15. September 2000 gewährte die Beklagte ab 7. August 2000 für 780 Tage
Arbeitslosengeld (Alg), zuletzt in Höhe von 212,59 EUR wöchentlich nach einem Bemessungsentgelt von 605,00
EUR, Leistungsgruppe A, kein Kindermerkmal (Änderungsbescheid vom 7. Januar 2002). Der Anspruch war am 25.
September 2002 erschöpft.
Am 24. September 2002 beantragte der Antragsteller Alhi. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er über Wertpapiere in Höhe
von 4.037,50 EUR. Ein Girokonto bei der I. Sparkasse wies ein Saldo von 113,41 EUR aus, ein Girokonto bei der J.
war um 2.441,10 EUR überzogen. Der Antragsteller hatte am 1. März 1985 eine Todes- und Lebensfallversicherung
abgeschlossen, die zum 1. März 2005 abläuft. Am 1. Juni 2002 betrug der Wert des Vertrages 92.919,00 EUR; die
voraussichtliche Leistung bei Erleben des Ablauf des Vertrages beträgt 116.977,00 EUR. Der Antragsteller hat seine
Lebensversicherung seit dem 1. August 2001 beitragsfrei gestellt.
Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag auf Alhi durch Bescheid vom 25. September 2002 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2003 mit der Begründung ab, dass der Antragsteller über zumutbar
verwertbares Vermögen in Höhe von 4.037,50 EUR (Wertpapiere) und 92.919,00 EUR (kapitalbildende
Lebensversicherung) verfüge. Unter Berücksichtigung eines Freibetrages von 520,00 EUR je vollendetem Lebensjahr
des Arbeitslosen am letzten Tage des künftigen Bewilligungsabschnittes, hier also 32.240,00 EUR, verbliebe ein
Vermögen von 64.716,50 EUR, sodass der Antragsteller nicht bedürftig sei.
Hiergegen hat der Antragsteller am 24. Januar 2003 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg (Az.: S 18 AL 30/03)
erhoben. Bereits am 9. Dezember 2002 hatte er den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt mit dem Ziel, die
Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm Alhi zu gewähren. Er hat ausgeführt, dass er die Entscheidung in der
Hauptsache nicht abwarten könne, da er über keinerlei Einkünfte mehr verfüge. Die Anrechnung des Vermögens aus
dem Rückkaufswert der Lebensversicherung, die zur Alterssicherung für die Zeit, in der keine Rentenversicherung
bestanden habe, bestimmt ist, sei unzulässig. Er hat unter Vorlage der Rentenauskunft vom 12. Januar 2001
vorgetragen, dass zurzeit eine Anwartschaft auf Altersrente in Höhe von 366,12 EUR bestehe. Das SG Lüneburg hat
den Antrag durch Beschluss vom 23. Januar 2003 abgelehnt, weil ein Anspruch auf Alhi auf Grund der
Vermögenslage wahrscheinlich nicht bestehe.
Gegen den am 23. Januar 2003 abgesandten Beschluss hat der Antragsteller am 31. Januar 2003 Beschwerde
eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat. Er ist der Auffassung, dass sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein
Anordnungsgrund bestehe.
Der Antragsteller beantragt schriftlich,
die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes unter Aufhebung des Beschlusses des
Sozialgerichts Lüneburg vom 23. Januar 2003 zu verpflichten, an den Antragsteller Arbeitslosenhilfe nach den
gesetzlichen Bestimmungen ab 26. September 2002 zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält den Beschluss für zutreffend.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Prozessakte Bezug genommen. Neben der
Prozessakte haben die den Antragsteller betreffende Leistungsakte (StammNr. 72603) und die Prozessakte S 18 AL
30/03 vorgelegen.
II.
Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Beschwerde ist begründet.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG als Regelungsanordnung
zulässig und begründet.
Nach der genannten Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes im
Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint. Der Anordnungsanspruch – die Rechtsposition deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren
beabsichtigt ist – sowie der Anordnungsgrund – die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung – sind
glaubhaft zu machen (§§ 86 Abs. 2 SGG, 920 Abs. 3 Zivilprozessordnung – ZPO -). Steht dem Antragsteller ein von
ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Verfahrens
abzuwarten, ist die einstweilige Anordnung zu erlassen. Ist sie offensichtlich unbegründet, wird die Anordnung
abgelehnt. Ist jedoch die Hauptsachelage offen, ist eine Interessenabwägung erforderlich. So ist die Sachlage hier.
Nach Aktenlage ist nicht auszuschließen, dass der Antragsteller doch bedürftig im Sinne des §§ 190 Abs. 1 Nr. 5, 193
Abs. 2 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III) ist. Zwar verfügt der Antragsteller über Vermögen in
Gestalt der kapitalbildenden Lebensversicherung in Höhe von 92.919,00 EUR. Es ist jedoch möglich, dass das
Vermögen – auch soweit es das den Freibetrag gemäß § 1 Abs. 2 der Arbeitslosenhilfe-Verordnung (Alhi-VO) 2002
von 520,00 EUR je vollendetem Lebensjahr, vorliegend also 32.240,00 EUR, übersteigt - nicht zu berücksichtigen ist.
Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 3 Nr. 4 Alhi-VO 2002 sind als Vermögen nachweislich für die Alterssicherung
bestimmte Sachen und Rechte der Arbeitslosen nicht zu berücksichtigen, wenn diese nach § 231 des Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) als Selbständige von der Rentenversicherungspflicht befreit waren. Durch die
Abstufung des Freibetrages nach Lebensalter und die Herausnahme nachweislich für die Alterssicherung bestimmter
Sachen und Rechte unter besonderen Umständen bringt der Verordnungsgeber zum Ausdruck, dass weiterhin die
Alterssicherung ein wesentlicher Grund bei der Privilegierung des Vermögens ist. Der Antragsteller, der über 30 Jahre
als selbständiger Speditionskaufmann tätig war, musste seine Alterssicherung nicht über die gesetzliche
Rentenversicherung aufbauen und benötigt damit im Gegensatz zu einem "typischen Altersrentner” eine höhere
private Alterssicherung, damit er im Alter nicht sozialhilfebedürftig wird (Zum besonderen Sicherungsbedürfnisses bei
atypischen Fällen - wie längere Selbstständigkeit - BSG Urteil vom 22.10.1998 B 7 AL 118/97R - SozR 3-4220 § 6 Nr
6 -). Die Möglichkeit, sich anderweitig abzusichern, besteht bei dem nunmehr 62-jährigen Antragsteller nicht mehr. Bei
dieser Sachlage wäre eine analoge Anwendung des § 1 Abs. 3 Nr. 4 Alhi-Verordnung 2002 zu erwägen. Es ist nicht
auszuschließen, dass das Schutzbedürfnis derjenigen Arbeitslosen, die gemäß § 231 SGB III als Selbständige von
der Versicherungspflicht befreit waren von denjenigen, die als Selbständige nicht der Rentenversicherungspflicht
unterlagen, sich nicht derart unterscheidet, dass hierdurch die ungleiche Behandlung gerechtfertigt werden könnte.
Darüber hinaus ist es möglich, dass die Verwertung der Kapitallebensversicherung offensichtlich unwirtschaftlich ist,
sodass eine Berücksichtigung nach § 1 Abs. 4 Alhi-VO 2002 nicht in Betracht kommt. Der Antragsteller zahlt bereits
keine Prämie auf seine Kapitallebensversicherung mehr ein, erhöht also das angesparte Kapital zurzeit nicht mehr.
Bei einer vorzeitigen Auflösung des Vertrages verliert er nach den Angaben in seiner eidesstattlichen Versicherung
15.000,00 EUR. Nach den Dienstanweisungen der Bundesanstalt (DA 3.2 § 193 Abs. 8, Stand 9/2002) ist die
Verwertung von Sachen und Rechten nicht offensichtlich unwirtschaftlich, wenn ihr Ergebnis unter Berücksichtigung
der Verwertungskosten nur geringfügig (bis 10 %) unter dem Substanzwert (Verkehrswert bzw. Summe der
Einzahlungen zuzüglich bisheriges Erträge/Renditen) liegt. Der Versicherungsschutz beträgt zurzeit 107.053,00 EUR,
bei Ablauf des Vertrages 116.977,00 EUR und der Rückkaufswert 92.919,00 EUR. Der geltend gemachte Verlust bei
vorzeitiger Verwertung beträgt über 10 % und könnte damit unwirtschaftlich sein.
Ist damit ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht hinreichend sicher, aber durchaus möglich, hat eine Abwägung der
Interessen zu erfolgen.
Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass eine sofortige Regelung wegen einer zu diesem Zeitpunkt bestehenden
Dringlichkeit für eine derartige Entscheidung gerechtfertigt ist. Hierbei ist darauf abzustellen, ob eine
Zwischenregelung in Bezug auf das streitige Rechtsverhältnis notwendig ist, um die Möglichkeit einer Entscheidung
über den Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens offen zu halten. Zu prüfen ist somit, ob der Antragsteller einem
wesentlichen Nachteil ausgesetzt wäre, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge.
Der Antragsteller hat in seiner eidesstattlichen Versicherung erklärt, dass er über keinerlei Einkünfte und Vermögen
verfügt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht bei der Höhe des Vermögens
nicht. Der Antragsteller muss daher seine Kapitallebensversicherung zur Sicherung seines Lebensunterhaltes
beleihen, die damit ihren Zweck zur Alterssicherung verliert. Der Antragsteller würde hierdurch erhebliche finanzielle
Nachteile erleiden, wenn sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass die Antragsgegnerin ihm Alhi zu Unrecht
vorenthalten hat.
Dagegen sind die Folgen für die Antragsgegnerin, wenn eine einstweilige Anordnung ergeht, der Antragsteller aber in
der Hauptsache keinen Erfolg haben würde, nicht so erheblich, weil ihr dann bestehender Rückzahlungsanspruch
durch die Abtretung eines Teils der Versicherungssumme aus der Kapitallebensversicherung gedeckt ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer analogen Anwendung des § 193 SGG.
Die Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).