Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 11.10.2007

LSG Nsb: zusicherung, umzug, unterkunftskosten, niedersachsen, betriebskosten, hausaufgaben, eltern, dringlichkeit, zivilprozessordnung, wohnraum

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 11.10.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 17 AS 1784/07 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 7 AS 623/07 ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 06. September 2007 wird aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, den Antragstellern Leistungen in Höhe der
tatsächlichen Aufwendungen von 639,07 EUR monatlich für die Unterkunft G. in H. Erdgeschoß links zuzusichern.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.
Den Antragstellern wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer
Prozessbevollmächtigten Rechtsanwältin Jennifer Beins aus Hannover bewilligt.
Ratenzahlung wird nicht angeordnet.
Gründe:
I.
Die Antragsteller verlangen von der Antragsgegnerin die Zusicherung der Übernahme der tatsächlichen Aufwendungen
für die Unterkunft G. in I., Erdgeschoß links, die sie mit Wirkung ab 01. Dezember 2007 anmieten wollen.
Die im Jahr 1981 geborene Antragstellerin zu 1) und der im Jahr 1978 geborene Antragsteller zu 2) sind die Eltern des
am 06. Juni 1999 geborenen Antragstellers zu 3) und des am 23. Mai 2001 geborenen Antragstellers zu 4). Durch
Bescheid vom 02. Juni 2007 bewilligte die Antragsgegnerin den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) mit Wirkung ab 01. Juli bis 31. Oktober 2007 in
Höhe von insgesamt 1.271,33 EUR. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus den Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts in Höhe von 721,08 EUR und den Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 550,25 EUR.
Die Antragsteller bewohnen seit 26. Mai 2005 eine 74,42 qm große Wohnung in J ... Neben dem Schlafzimmer und
Wohnzimmer existiert ein Kinderzimmer mit einer Größe von circa 11 qm, das von den Antragstellern zu 3) und 4)
genutzt wird. Die Mietkosten belaufen sich einschließlich der Nebenkosten-Vorauszahlung auf 565,44 EUR monatlich.
Dies entspricht einem Quadratmeterpreis von 7,59 EUR. Die Antragsteller wandten sich unter Vorlage eines Angebots
einer Wohnungsbaugesellschaft an die Antragsgegnerin mit dem Wunsch, umzuziehen. Es handelt sich hierbei um die
Erdgeschoßwohnung links, G. in I ... Diese Wohnung ist 81,45 qm groß und verfügt neben der Küche und dem Bad
über vier Wohnräume. Die Wohnungsmiete beträgt monatlich insgesamt 639,07 EUR, davon entfallen auf die
Grundmiete 419,60 EUR, die Betriebskosten und Heizkosten belaufen sich auf 219,48 EUR. Daraus errechnet sich ein
Quadratmeterpreis von 7,65 EUR. Zur Begründung ihres Antrags erklärten die Antragsteller, dass der Antragsteller zu
3) ein eigenes Zimmer benötige, weil er seine Hausaufgaben nicht ohne Störung durch seinen jüngeren Bruder, den
Antragsteller zu 4), anfertigen könne. Diese Wohnung wird den Antragstellern von der Wohnungsbaugesellschaft bis
zum 15. Oktober 2007 reserviert.
Den Antrag lehnte die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 08. August 2007 ab. Es sei für die Antragstellern zu 3)
und 4) zumutbar, ein gemeinsames Zimmer zu nutzen. Es unterliege der Aufsichtspflicht der Antragsteller zu 1) und
2), dem Antragsteller zu 3) eine Möglichkeit zu bieten, seine Hausaufgaben in Ruhe zu erledigen. Die Kosten der
derzeitigen Unterkunft der Antragsteller seien angemessen.
Zur Begründung ihres Widerspruchs vom 21. August 2007 hiergegen führten die Antragsteller aus, der Umzug in die
größere Wohnung sei erforderlich, um die Entwicklung der Antragsteller zu 3) und 4) nicht zu behindern. Der nur circa
11 qm große Raum sei für die beiden Kinder zu klein. In der neuen Unterkunft könne jedes der Kinder einen eigenen
Raum beziehen. Dies sei für ihre Entwicklung erforderlich. Über den Widerspruch hat die Antragsgegnerin bisher noch
nicht entschieden.
Die Antragsteller haben am 22. August 2007 um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gebeten, mit dem sie ihr
Antragsziel weiterverfolgen. Zur Begründung haben sie betont, dass die neue Wohnung hinsichtlich ihrer Größe und
der Mietkosten angemessen sei. Die Übernahme der Mietkaution oder der Umzugskosten werde von ihnen nicht
verlangt. Es gehe ausschließlich um die zukünftige Zahlung von Miete, Betriebskosten und Heizkosten.
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat den Antrag durch Beschluss vom 06. September 2007 abgelehnt und zur
Begründung ausgeführt, ein Anordnungsgrund, das heißt die besondere Dringlichkeit einer Entscheidung sei von den
Antragstellern nicht glaubhaft gemacht worden. Den Antragstellern sei es zumindest für die Zeit bis zum Abschluss
des Widerspruchsverfahrens zuzumuten, in der circa 74 qm großen Drei-Zimmer-Wohnung zu leben. Eine
Notwendigkeit, dass die Antragsteller zu 3) und 4) eigene Räume erhielten, bestehe nicht. Falls es tatsächlich
gegenseitige Beeinträchtigungen gebe, die durch ein Einschreiten der Eltern nicht zu unterbinden seien, könne einer
der beiden Antragsteller in ein anderes Zimmer ausweichen, um dem zu entgehen. Das Gleiche gelte für die von den
Antragstellern geltend gemachten Schlafstörungen des Antragstellers zu 3). Es liege an den Antragstellern zu 1) und
2), durch erzieherische Maßnahmen oder eine anderweitige Organisation der Schlafgelegenheiten Abhilfe zu schaffen.
Soweit die Antragsteller vorgetragen hätten, dass sie ihre Wohnung zum 30. November 2007 bereits gekündigt hätten,
führe das zu keinem anderen Ergebnis, weil die Kündigung ihrer Wohnung nicht glaubhaft gemacht worden sei und sie
sich im Übrigen nicht auf eine Zusicherung der Übernahme der Unterkunftskosten hätten verlassen können.
Gegen den Beschluss des SG Hannover vom 06. September 2007 führen die Antragsteller am 09. September 2007
Beschwerde und wiederholen zur Begründung ihr bisheriges Vorbringen. Ergänzend führen sie aus, dass die
Dringlichkeit einer Entscheidung auch aus einer Gesundheitsgefährdung des Antragstellers zu 3) folge. Der
Antragsteller zu 4) leide unter einer chronischen Bronchitis und habe deshalb auch nachts Atembeschwerden. Weil
der Antragsteller zu 3) nachts durch die Atemgeräusche des Antragstellers zu 4) gestört werde, bekomme der
Antragsteller zu 3) nachts nicht ausreichend Schlaf und sei unter anderem während des Schulbesuchs
unausgeschlafen.
Die Antragsteller beantragen,
1. den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 06. September 2007 aufzuheben,
2. die Antragsgegnerin im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu verpflichten, die Übernahme der
Unterkunftskosten der Antragsteller für die Wohnung G. in H., Erdgeschoß links unter dem Vorbehalt der
Rückforderung zuzusichern,
3. ihnen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten Rechtsanwältin K. aus I. für das
Beschwerdeverfahren zu bewilligen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie erwidert, es fehle bereits am Anordnungsgrund, weil eine vorläufige Regelung für die Antragsteller zur Vermeidung
wesentlicher Nachteile nicht nötig sei. Es sei für die Antragsteller nicht unzumutbar, bis zum Abschluss des
gerichtlichen Verfahrens weiterhin ihre bisherige Wohnung zu nutzen. Eine Existenzgefährdung liege darin nicht.
Selbst wenn die in Aussicht genommene Wohnung bis zum Abschluss des Verfahrens anderweitig vermietet sein
sollte, bedeute dies aufgrund der derzeit entspannten Wohnungssituation in I. keinen durchgreifenden Nachteil. Es
bestehe im Übrigen kein Anordnungsanspruch, weil ein Umzug nicht erforderlich sei. Insbesondere sei die
Erforderlichkeit des Umzugs nicht mit der Notwendigkeit eigener Räumlichkeiten für die Antragsteller zu 3) und 4) zu
begründen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Prozessakte Bezug genommen. Die die
Antragsteller betreffenden Leistungsakten (Nr. der Bedarfsgemeinschaft L.) liegen vor und sind Gegenstand der
Entscheidung gewesen.
II.
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist begründet. Die Antragsteller können
von der Antragsgegnerin eine Zusicherung zur Übernahme der Unterkunftskosten für die von ihnen in Aussicht
genommene Wohnung G. in I. verlangen, weil der Umzug erforderlich ist, die Aufwendungen für die neue Wohnung
angemessen sind und anderenfalls schwere und unzumutbare, durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu
beseitigende Nachteile entstünden, würden die Antragsteller auf dieses verwiesen.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG als Regelungsanordnung
zulässig. Er ist auch begründet.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in
Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint. Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs – die Rechtsposition, deren
Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist – sowie des Anordnungsgrunds – die Eilbedürftigkeit der
begehrten vorläufigen Regelung – sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs. 3
Zivilprozessordnung –ZPO -). Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu
und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Verfahrens abzuwarten, hat der Antragsteller Anspruch auf die
beantragte Leistung im Wege vorläufigen Rechtsschutzes. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und
Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind die
grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (BVerfG, 1. Senat, 3. Kammer,
Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – NVWZ 2005, 927 ff).
Die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung liegen vor; insbesondere haben die Antragsteller die
Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds glaubhaft gemacht. Das Vorliegen eines
Anordnungsgrunds ist allerdings nicht bereits deshalb anzunehmen, weil, wie die Antragsteller meinen, anderenfalls
effektiver Rechtsschutz im Sinn des Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) bei einem Abwarten der Entscheidung in der
Hauptsache überhaupt nicht erreicht werden könne, denn die in Aussicht genommene Wohnung sei aufgrund der
langen Dauer des Widerspruchs- und gerichtlichen Verfahrens üblicherweise nicht mehr frei. Die Einholung der
Zusicherung ist nicht gesetzliche Voraussetzung für die Erbringung von Leistungen in Höhe der angemessenen
Unterkunftskosten (Beschluss des Senats vom 20. 01. 2006 – L 7 AS 472/05; Berlit in LPK SGB II, § 22 Rdnr.
52,53). In einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren wäre die – bis dahin nicht eingeholte – Zusicherung
gegebenenfalls im Wege einer Fiktion zu ersetzen. Die Eilbedürftigkeit der beantragten Regelung ist aber bereits
deshalb anzunehmen, weil die in Aussicht genommene Wohnung den Antragstellern von dem Wohnungsunternehmen
nur noch bis zum 15. Oktober 2007 reserviert wird. Diesen Umstand haben die Antragsteller durch Vorlage einer
entsprechenden Erklärung des Wohnungsbauunternehmens vom 19. September 2007 glaubhaft gemacht. Darüber
hinaus besteht ein Anordnungsgrund auch deshalb, weil ein Umzug der Antragsteller bereits zum gegenwärtigen
Zeitpunkt erforderlich ist, um wesentliche Nachteile, d. h. die unten näher beschriebenen Behinderung der
Persönlichkeitsentwicklung der Antragsteller zu 3) und zu 4), abzuwenden.
Die Antragsteller haben einen Anspruch auf die Erteilung der beantragten Zusicherung gemäß § 22 Abs. 2 SGB II,
weil ein Umzug der Antragsteller erforderlich ist und die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind (§ 22
Abs. 2 Satz 2 SGB II). Die Erforderlichkeit des Umzugs folgt aus der derzeitigen Wohnsituation der Antragsteller.
Diese haben glaubhaft gemacht, dass es durch die gemeinsame Nutzung des nur 11 qm großen Kinderzimmers durch
die Antragsteller zu 3) und 4) zu erheblichen gegenseitigen Beeinträchtigungen der Kinder kommt. Diese befinden sich
gegenwärtig in einer für ihre motorische Entwicklung sowie ihrer Wahrnehmungsfähigkeit wichtigen Lebensphase. Für
beide Kinder ist es von großer Bedeutung, die gegenwärtigen Erfahrungen und Eindrücke ohne durchgreifende
Beeinträchtigungen von außen verarbeiten zu können. Dazu gehören Rückzugsmöglichkeiten, die für die Antragsteller
zu 3) und 4) unter den derzeit vorhandenen beengten Wohnverhältnissen nicht gegeben sind. Dies gilt insbesondere
für den Antragsteller zu 4), der den Beginn des Schulbesuchs mit einer neuen Umgebung und neuen Eindrücken zu
verarbeiten hat. Dies ist aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr gewährleistet beim gemeinsamen Aufenthalt der
Kinder in einem nur 11 qm großen Raum. Es ist nachvollziehbar, dass unter derartig beengten Verhältnissen
Aggressionen entstehen, die unter Umständen nachhaltig auch noch in späteren Jahren wirken können. Die
Möglichkeit des Rückzugs in einen eigenen Raum fördert jedenfalls unter den gegebenen Verhältnissen die
Entwicklung der Antragsteller zu 3) und 4); die Möglichkeit einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung unterliegt dem
Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG. Hinzu tritt als weiterer – indes nicht allein entscheidender - Umstand die chronische
Erkrankung des Antragstellers zu 4), die zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des Antragstellers zu 3) führt und
daher die Erforderlichkeit des Umzugs der Antragsteller mit begründet.
Die Aufwendungen für die Unterkunft im G. sind angemessen im Sinn der genannten Regelung. Legt man mit der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 18/06 R – SGb 2007, 543 ff)
hinsichtlich der Wohnungsgröße die Wohnraumförderungsbestimmungen des Landes Niedersachsen zugrunde (Nds.
MBl. 2002, 511 ff, 512), sind für vier Haushaltsmitglieder bis 85 qm Wohnraum angemessen. Die neue Wohnung hat
eine Größe von 83,45 qm und bewegt sich daher innerhalb der genannten Grenze. Das Gleiche gilt hinsichtlich der
Kosten, die pro Quadratmeter lediglich um 6 Cent über den bisher von der Antragsgegnerin als angemessen
bezeichneten Wohnraumkosten liegen.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten, weil sie unterlegen ist (§ 193
SGG entsprechend).
Die Antragsteller haben Anspruch auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihrer
Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren, weil ihre Rechtsverfolgung aus den o. g. Gründen
hinreichende Erfolgsaussichten im Sinn des § 73a SGG in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) hat und
sie nicht in der Lage sind, die Kosten der Prozessführung aufzubringen.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).