Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 04.06.2002

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 04.06.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 36 SB 41/00
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 SB 96/01
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 14. Juni 2001 wird abgewiesen. Kosten des
Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anstelle eines GdB von 40
nach den Maßstäben des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) und des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX)
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen zusteht.
Bei dem am 4. Januar 1943 geborenen Kläger, einem griechischen Staatsbürger, stellte das Versorgungsamt (VA)
zuletzt mit Bescheid vom 18. August 1994 einen GdB von 30 fest aufgrund folgender Funktionseinschränkungen:
a) Umformende Veränderungen der Wirbelsäule und mehrerer Gelenke, Entkalkung (verwaltungsinterne Bewertung:
30). b) Neigung zu Entzündung der Magenschleimhaut, Hämorrhoidalleiden (verwaltungsinterne Bewertung: 10). c)
Herzdurchblutungsstörungen (verwaltungsinterne Bewertung: 10). d) Leistenbruch rechts (verwaltungsinterne
Bewertung: 10). e) Hörminderung, Ohrgeräusche (verwaltungsinterne Bewertung: 10).
Am 28. Dezember 1998 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag. Der Be-klagte holte Befundberichte des
Orthopäden Dr. H. vom 26. Januar 1999 (mit Arztbrief des Internisten und Kardiologen Dr. I.) ein, des Arztes für Hals-,
Nasen-, Ohrenkrankheiten Dr. J. vom 14. April 1999 sowie des Inter-nisten und Rheumatologen Dr. K. vom 5. Mai
1999 (mit weiteren ärztlichen Unterlagen) und lehnte nach versorgungsärztlicher Stellungnahme durch Frau Dr. L. mit
Bescheid vom 6. August 1999 die Neufeststellung ab. Denn die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes
Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialda-tenschutz (SGB X) seien nicht erfüllt. Der Widerspruch blieb erfolglos
(Wider-spruchsbescheid vom 10. Januar 2000).
Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 24. Januar 2000 Klage erhoben und einen GdB von mindestens
50 begehrt. Er hat die Auffassung vertreten, seine Behinderung sei nicht umfassend gewürdigt, insbesondere fehle es
an der Bewertung der gegenseitigen negativen Beeinflussung der Funktionseinschränkungen.
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat Befundberichte des Neurologen und Psychiaters Dr. M. vom 22. Juli 2000, des
Internisten Dr. K. vom 4. August 2000 und des Orthopäden Dr.H. vom 9. August 2000 eingeholt. Im Termin zur
mündlichen Verhandlung hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis abgegeben und mit Wirkung vom 2. November 1995
einen GdB von 40 sowie die dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit anerkannt. Die über das
Teilanerkenntnis hinausgehende Klage hat das SG abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten
Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, nach den Bewertungsmaßstäben des SchwbG iVm den Vorgaben der
"Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG” (AHP)
sei die Wirbelsäulenerkrankung des Klägers mit einem Wert von 30 angemessen bewertet. Zusätzlich mit einem Wert
von 20 einzustufen sei bei Gesamtbetrachtung die Veränderung im Bereich des linken Schultergelenks, des linken
Ellenbogengelenks und der linken Hand. Die weiteren Beeinträchtigungen seien mit in den GdB nicht einfließenden
Werten von jeweils 10 zutreffend eingestuft.
Das Teilanerkenntnis hat der Beklagte in den Ausführungsbescheid vom 14. Juni 2001 umgesetzt und nunmehr
folgende Funktionseinschränkungen festgestellt:
1. Umformende Veränderungen der Wirbelsäule und mehrerer Gelenke, Entkalkung (verwaltungsinterne Bewertung:
30). 2. Nervenreizung im linken Arm und der linken Hand (verwaltungsinterne Bewertung: 20).
Ohne Bedeutung für den Gesamt-GdB sind danach:
1. Neigung zu Entzündung der Magenschleimhaut, Hämorrhoidalleiden (verwaltungsinterne Bewertung: 10). 2.
Herzdurchblutungsstörungen (verwaltungsinterne Bewertung: 10). 3. Zustand nach Leistenbruch rechts
(verwaltungsinterne Bewertung: 10). 4. Hörminderung, Ohrgeräusche (verwaltungsinterne Bewertung: 10). 5.
Bewegungsfunktionsstörung der Schultergelenke (verwaltungsinterne Bewertung: 10).
Gegen das am 25. Mai 2001 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 18. Juni 2001 eingegangenen
Berufung, mit der er sein bisheriges Vorbringen vertieft und darauf hinweist, das SG hätte im orthopädischen Bereich
den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Er hat einen Bericht des Hals-, Nasen-, Ohrenarztes N. vom 27. Februar
2002 vorgelegt.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 4. April 2001 sowie den Bescheid vom 14. Juni 2001 zu ändern und
den Bescheid vom 6. August 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2000 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verpflichten, einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen und die Klage abzuweisen.
Der Senat hat auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch
Untersuchungsgutachten des Orthopäden Dr. O. vom 16. November 2001.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehinderten-Akten des
Versorgungsamtes P. (Az: Q.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Mit Zustimmung der Beteiligten hat der Senat gemäß § 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil
entschieden.
Die nach § 143 SGG zulässige Berufung sowie die Klage gegen den Ausführungsbescheid vom 14. Juni 2001, der
gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, sind nicht begründet. Dem Kläger steht ein GdB von 50
nicht zu.
Nicht ergänzungsbedürftig hat das SG die Voraussetzungen des § 48 SGB X sowie die maßgeblichen
Bewertungsrichtlinien nach dem bis 30.06.2001 anwendbaren SchwbG iVm mit den AHP dargestellt. Zur Vermeidung
überflüssiger Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug. Zugrunde zu legen ist mit Wirkung vom 1. Juli 2001 die
im SGB IX enthaltene Regelung (vgl. Art. 68 Abs. 1 des Gesetzes vom 19. Juni 2001 – BGBl I, 1046, 1139). Die
Feststellung der Behinderung erfolgt nach § 69 SGB IX. Behindert sind Menschen, wenn ihre körperliche Funktion,
geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das
Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist, § 2
Abs 1 Satz 1 SGB IX. Schwerbehindert sind Menschen, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie
ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz iS des § 73 SGB IX
rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs haben, § 2 Abs 2 SGB IX. Die Auswirkungen auf die Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er-Graden abgestuft festgestellt, § 69 Abs 1 Satz 3 SGB IX.
Die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend. Liegen mehrere Beeinträchtigungen
der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in
ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt, § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX.
Zur Bewertung können die Maßstäbe der AHP nach wie vor mangels anderweitiger Regelungen herangezogen werden.
Deren Anwendung führt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Annahme der Schwerbehinderteneigenschaft
des Klägers. Vielmehr ist der GdB von 40 zutreffend.
Nach dem überzeugenden Untersuchungsgutachten des Sachverständigen Dr. O. liegt das Zentrum der
Beschwerdeausbildungen am Haltungs- und Bewegungsapparat nach wie vor in der Hals- und Lendenwirbelsäule mit
von dort ausgehenden Beschwerden im linken Arm, im Kopf und im linken Bein. Dabei haben sich die objektiven
radiologischen und klinischen Befunde mit den vom Kläger geäußerten Einschränkungen nicht immer in
Übereinstimmung bringen lassen. Bei der orientierenden Bewegungsprüfung setzte der Kläger der Untersuchung
wegen der Schmerzen muskuläre Gegenspannungen entgegen. Bei der segmentalen Untersuchung fielen besondere
Bewegungsherabsetzungen beginnend von den Kopfgelenken bis zum Lenden/Kreuzbandübergang nicht auf.
Neurologische Auffälligkeiten ergaben sich bei den oberen Extremitäten weder im Sinn eines auffälligen
Reflexverhaltens noch im Sinne einer motorischen Abschwächung oder im Sinne einer besonderen
Sensibilitätsirritation. Für die geklagten Beschwerden im linken Arm ergab sich weder ein peripheres Ulnaris – noch
ein zentrales C 6- oder C 7-Syndrom. Die Ulnarisfunktionen waren völlig intakt. Im Bereich der unteren Extremitäten
erkannte der Sachverständige die Abwehr bei Überprüfung des Lasègue’schen Zeichens beim Anheben der Beine
bereits um 30°, während bei ausgestreckten Beinen der Langsitz ohne Schwierigkeiten möglich war. Dabei kamen die
Fingerspitzen bis nahezu an die Fußspitzen heran, obgleich beim aufrechten Stehen ein Fingerspitzen-Fußboden-
Abstand bei der Inklination des Rumpfes von 31 cm gemessen wurde. Motorische oder sensible Ausfälle im Bereich
vor allen Dingen des linken Beines ergaben sich nicht. An den Schultergelenken fehlte es an aktiven
Bewegungseinschränkungen. Die muskuläre Schulterkulisse war unauffällig. Der linke Ellenbogen wies zwar eine
endgradige Beugebehinderung um 15° auf, ohne dass damit jedoch die Funktion des linken Armes wesentlich
eingeschränkt ist. Erhebliche muskuläre Gegenspannungen zeigte der Kläger bei der Überprüfung der
Hüftgelenksbeweglichkeit, wobei die Hüften selbst nicht schmerzhaft waren, sondern stets eine Schmerzprojektion in
den Rücken geäußert wurde. Die Kniegelenke wurden zwar als schmerzhaft bezeichnet, es ergab sich aber eine
stabile Bandführung mit freien Bewegungsumfängen. Von daher ist die Bewertung der Beeinträchtigungen im Bereich
der Wirbelsäule sowie der gelegentlich wiederkehrenden Wurzelreizungen iS eines Schulter-Armsyndroms bzw
Cervicocephalgie mit einem Teilwert von 30 nachvollziehbar ebenso wie ein Wert von 20 für eine beginnende
retropatellare Arthrose beider Knie sowie endgradige und Beugebehinderung am linken Ellenbogen in der
Zusammenschau. Dies ergibt in der Gesamtschau nach den vom SG zutreffend dargestellten Bewertungsgrundsätzen
einen GdB von 40.
Für die weiter bestehende Neigung zu Zwölffingerdarmgeschwüren, das Hämorrhoidalleiden sowie pectanginöse
Beschwerden haben sich zweitinstanzlich gegenüber den vom SG zutreffend bewerteten, seinerzeit bestehenden
Befunden neue Bewertungsgrundlagen nicht ergeben. Dies gilt auch für den Befund der Perzeptionsschwerhörigkeit
links, die der Facharzt für HNO-Heilkunde N. im Bericht vom 27. Februar 2002 mitgeteilt hat, ohne dass sich
audiometrisch bei fortgeschrittener Schallempfindungsschwerhörigkeit links zwischen 70 und 100 dB, rechts lediglich
als geringgradig einzuschätzender Schwerhörigkeit von 10 bis 20 dB ein Wert von mehr als 10 ergeben könnte (vgl
AHP Seite 69). Maßgebend für die Bewertung des GdB bei Hörstörung ist die Herabsetzung des Sprachgehörs, die
weder von Herrn N. noch von dem Sachverständigen Dr. O. erwähnt wird. Aus dem Befundbericht des Dr. J. vom 14.
April 1999, den der Beklagte im Verwaltungsverfahren eingeholt hat, ergibt sich ein schwerer wiegender Befund
ebenfalls nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht.