Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.10.2012

LSG Niedersachsen: arbeitsunfall, anerkennung, versicherungsschutz, niedersachsen, eigenschaft, rücknahme, feststellungsklage, unfallversicherung, datenschutz, genehmigung

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--- kein Dokumenttitel vorhanden ---
SG Lüneburg 2. Kammer, Urteil vom 29.10.2012, S 2 U 90/10
Tenor
1. Der Bescheid vom 02.03.2010 und der Widerspruchsbescheid vom
05.07.2010 werden aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 17.10.2009 um einen
Arbeitsunfall gehandelt hat.
3. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen
Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.
Die im Jahr 1946 geborene Klägerin ist gelernte Weberin. Im Jahr 1989
absolvierte sie die Meisterprüfung. Seit 1994 betreibt sie eine Handweberei.
Nach dem Mitgliedsschein vom 22.11.1994 ist sie seit dem 01.07.1994 als
Unternehmerin mit dem Gewerbezweig "Handweberei" Mitglied der Beklagten
und satzungsmäßig pflichtversichert (vgl. § 543 Abs. 1
Reichsversicherungsordnung <= RVO>/§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch <=
SGB> VII i. V. m. § 52 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 17 der Satzung der Beklagten
i. d. F. vom 01.04.2009).
Außerdem war die Klägerin von 1970 bis 1990 als Lehrerin in der
Orientierungsstufe in H. und später für den I. in J. (hier: Werkhof) als Dozentin
tätig. Nach ihren Angaben im Schreiben vom 08.02.2010 handelt es sich hierbei
um eine der wenigen Institutionen in Deutschland, in denen es überbetrieblich
möglich sei, sich auf die Gesellenprüfung im Weberhandwerk vorzubereiten. Sie
würde dort als Webermeisterin Praxis und Theorie sowie in ihrer Eigenschaft als
Unternehmerin Wirtschafts- und Sozialkunde unterrichten. Im Fach
Materialkunde sei es ihr außerdem möglich, Materialien aus ihrem Betrieb zu
benutzen und zu verkaufen. Nach den übereinstimmenden Angaben der
Klägerin und des Werkhofs übt sie ihre Tätigkeit als Dozentin als freie
Mitarbeiterin aus und stellt dem Werkhof ihre Leistungen jeweils einzeln in
Rechnung. Innerhalb ihres Fachgebietes arbeitet sie jeweils weisungsfrei (Bl. 36,
50 UA).
Am 07.10.2009 erlitt die Klägerin auf dem Weg zum Unterricht in dem Werkhof
einen Unfall, als sie beim Tragen einer Bücherkiste auf dem Kopfsteinpflaster
der Hofeinfahrt stolperte, stürzte und mit dem rechten Knie auf einen spitzen
Stein aufschlug. Im Durchgangsarztbericht der Dres. K. und L. vom 19.10.2009
wurden als Diagnosen eine "Patellafraktur rechts und der Verdacht auf eine
hereditäre Thrombophilie“ angegeben (Bl. 1 UA).
Am 19.10.2009 erstattete die Klägerin die Unfallanzeige (Bl. 5 UA). Am
05.11.2009 gab die Beklagte gegenüber dem Sanitätshaus M. im Hinblick auf
eine Knielagerungsschiene ein Kostenanerkenntnis ab (Bl. 17 UA). Mit den
Schreiben vom 11.11.2009 und vom 08.12. 2009 recherchierte die Beklagte bei
der Klägerin und dem Werkhof die genaueren Umstände der Dozententätigkeit.
Nach Eingang der Antworten erfolgte am 17.12.2009 bei der Beklagten eine
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interne Vorlage dahingehend, dass ein Wegeunfall nicht anerkannt werden
könne, da sich das Ereignis nicht im Zusammenhang mit der satzungsmäßig
versicherten Tätigkeit ereignet habe (Bl. 44 UA). Der Vorlage wurde jedoch
zunächst nicht zugestimmt, sondern bei der Grundsatzabteilung angefragt, ob
der Nebenerwerb der Klägerin von der Versicherungskraftsatzung erfasst sei.
Gleichwohl gewährte die Beklagte der Klägerin mit dem Bescheid vom
05.01.2010 wegen des Unfalls vom 17.10.2009 Verletztengeld für die Zeit vom
21.10.2009 bis zum 11.12. 2009 in Höhe von insgesamt 2496.- €. Es wurde
ausgeführt, dass die Klägerin gemäß § 45 SGB VII Anspruch auf Verletztengeld
habe, solange sie wegen der Folgen des Versicherungsfalls arbeitsunfähig
gewesen sei und Arbeitsentgelt nicht bezogen habe. Ein Vorbehalt der
Rückforderung war darin nicht aufgeführt. Der Bescheid enthielt außerdem eine
Rechtsbehelfsbelehrung (Bl. 60 UA).
Mit dem Schreiben vom 01.02.2010 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie
beabsichtigen würde, das Ereignis vom 17.10.2009 als Arbeitsunfall
abzulehnen, da die Dozententätigkeit nicht von dem satzungsmäßigen
Versicherungsschutz umfasst sei. Demgegenüber vertrat die Klägerin im
Schreiben vom 08.02.2010 die Ansicht, dass sie die Dozententätigkeit in ihrer
Eigenschaft als Webermeisterin und Unternehmerin ausüben würde.
Mit dem Bescheid vom 02.03.2010 lehnte die Beklagte die Anerkennung des
Ereignisses vom 17.10.09 als Arbeitsunfall ab. Der hiergegen erhobene
Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 05.07.2010
zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten am 04.08.2010
beim Sozialgericht Lüneburg Klage erhoben. Zur Begründung wurde im
Wesentlichen ausgeführt, dass es zur Tätigkeit eines Handwerksmeisters
gehören würde, sich an der Förderung des Nachwuchses zu beteiligen. Die von
der Beklagten zur Begründung ihrer Entscheidung herangezogene Trennung
zwischen der unternehmerischen Tätigkeit der Klägerin einerseits und der
Dozententätigkeit andererseits würde in der Praxis nicht existieren.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
1.) den Bescheid der Beklagten vom 02.03.2010 und den
Widerspruchsbescheid vom 05.07.2010 aufzuheben,
2.) festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis vom 17.10.2009 um einen
Arbeitsunfall gehandelt hat.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten
zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gem. § 54
Abs. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz <= SGG> zulässig (vgl.
Bundessozialgericht <= BSG>, Urt. v. 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R). Die Klägerin
hat an der beantragten Feststellung auch ein besonderes Interesse, da die
Beklagte auch noch in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten
hat, dass weder in formell-rechtlicher noch in materiell-rechtlicher Hinsicht das
angeschuldigte Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt werden könne.
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Die Klage ist auch begründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind
rechtswidrig und waren aufzuheben, da die Beklagte hiermit nicht mehr die
Anerkennung des Ereignisses vom 17.10.2009 als Arbeitsunfall ablehnen
konnte. Vielmehr hatte die Beklagte bereits mit dem Bescheid über die
Gewährung von Verletztengeld vom 05.01.2010 inzident und rechtsverbindlich
darüber entschieden, dass es sich bei dem Ereignis vom 17.10.2009 um einen
Arbeitsunfall gehandelt hat. Dies ergibt sich aus der Auslegung des genannten
Verwaltungsakts (siehe hierzu: LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 28.11.2008
- L 9 U 95/06). Bei der Auslegung behördlichen Handelns ist in Anwendung der
für die Auslegung von Willenserklärungen maßgeblichen Grundsätze (§§ 133,
157 Bürgerliches Gesetzbuch) der objektive Sinngehalt der Erklärung zu
ermitteln, d. h. es ist zu klären, wie der Empfänger die Erklärung bei verständiger
Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste.
Dabei ist auf den Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten abzustellen,
der in Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge den wirklichen Willen der
Behörde erkennen kann. Dabei sind auch der Antrag und der Gang des
Verwaltungsverfahrens bei der Auslegung des ergangenen Verwaltungsakts
einzubeziehen (BSG, Urt. v. 11.11.2003 - B 2 U 32/02 R).
Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin durch die nur 2
Tage nach dem Unfall gestellte Unfallanzeige dokumentiert hat, dass sie eine
Anerkennung des Ereignisses vom 17.10.2009 als Arbeitsunfall anstrebt. Durch
die gegenüber dem Sanitätshaus M. erteilte Kostenzusage vom 05.11.2009
bezüglich einer Knielagerungsschiene konnte die Klägerin auch annehmen,
dass die Beklagte vom Vorliegen eines Arbeitsunfalls ausgeht. Zwar wurde die
Klägerin im Schreiben vom 11.11.2009 sowie der Werkhof im Schreiben vom
08.12.2008 noch nach den genaueren Umständen und den rechtlichen Rahmen
der Dozententätigkeit befragt. Der Bescheid vom 05.01.2010 ist jedoch in
Kenntnis der gegebenen Antworten ergangen. Bei dessen Auslegung ist
wiederum zu beachten, dass die Zahlung von Verletztengeld das Vorliegen
eines Arbeitsunfalls zwingend voraussetzt. Auch aus den Formulierungen im
Bescheid „…Ihr Unfall vom 17.10.2009" und "…haben Sie Anspruch auf
Verletztengeld, solange sie wegen der Folgen des Versicherungsfalls
arbeitsunfähig waren…“ kann unter Zugrundelegung des Empfängerhorizonts
eines verständigen Beteiligten nur geschlossen werden, dass die Beklagte das
Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt hat. Darüber hinaus enthielt der Bescheid
auch keinerlei Vorbehalte, aus denen man hätte schließen können, dass eine
endgültige Entscheidung über die Feststellung des Arbeitsunfalls noch nicht
getroffen war. In der gängigen Praxis der Unfallversicherungsträger ist es
nämlich nicht unüblich, entsprechende Vorbehalte in Bescheide über die
Gewährung von Verletztengeld aufzunehmen (etwa: Sollte sich herausstellen,
dass ein Arbeitsunfall nicht vorgelegen hat oder unfallbedingte
Arbeitsunfähigkeit nicht oder nur in geringerem Umfang vorgelegen hat, sind sie
verpflichtet, die überzahlten Beträge zurückzuerstatten“). Der förmliche
Charakter der Entscheidung kommt schließlich auch aufgrund der darin
enthaltenen Rechtsbehelfsbelehrung zum Ausdruck. Dem Umstand, dass sich
die Beklagte intern noch nicht sicher war, ob zum Unfallzeitpunkt
Versicherungsschutz bestand, kommt hier entsprechend dem Grundsatz des §
116 BGB keine Bedeutung zu. Danach ist eine Willenserklärung nicht deshalb
unwirksam, weil sich der Erklärende insgeheim vorbehält, das Erklärte nicht zu
wollen.
Da eine Entscheidung der Beklagten über die Rücknahme des Bescheid vom
05.01.2010 nicht ergangen ist (§ 45 SGB X), konnte sie mit dem Bescheid vom
02.03.2010 (i. d. F. des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2010) die
Anerkennung des Ereignisses vom 17.10. 2009 als Arbeitsunfall nicht mehr
ablehnen.
Da hier bereits aus formell-rechtlichen Gründen vom Vorliegen eines
Arbeitsunfalls auszugehen ist, kann dahinstehen, ob die Dozententätigkeit
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tatsächlich von dem satzungsmäßigen Versicherungsschutz, der in der Tat nur
die Handweberei betrifft, erfasst war. Zur Vermeidung von Rechtsnachteilen in
der Zukunft wird der Klägerin jedoch anheimgestellt, sich mit der Beklagten
beziehungsweise mit dem für den Werkhof zuständigen Träger der gesetzlichen
Unfallversicherung hinsichtlich der Möglichkeiten zur Erlangung des
Versicherungsschutzes für die Dozententätigkeit in Verbindung zu setzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.