Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 19.07.2001

LSG Nsb: innere medizin, rente, diabetes mellitus, orthopädie, niedersachsen, untätigkeitsklage, erlass, facharzt, erwerbsunfähigkeit, psychiatrie

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 19.07.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 4 RA 6/95
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 RA 215/99
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt statt der ihm gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
(EU).
Der im Jahre 1939 geborene Kläger hatte zunächst den Beruf des Schiffsmaklers erlernt (1955-58) und als solcher
gearbeitet. Nachdem er sodann Soldat der Bundeswehr gewesen war, absolvierte er eine Ausbildung zum Revierjäger
(Prüfung 1983) bzw. - nach eigenen Angaben - zum Revierjagdmeister. In diesem Beruf hat er - ebenfalls nach
eigenen Angaben - bis 1994 "teils selbstständig" gearbeitet. Demgegenüber weist der Versicherungsverlauf seit 1983
bis 1996 ausschließlich Zeiten der Arbeitslosigkeit auf.
In gesundheitlicher Hinsicht ist bei dem Kläger neben den Folgen eines abgelaufenen Morbus Scheuermann u.a. ein
seit 1980 bestehender Diabetes mellitus bekannt.
Nachdem ein erster Rentenantrag des Klägers aus dem Jahre 1985 von der Beklagten mangels beim Kläger
feststellbarer gesundheitlicher Einschränkungen abgelehnt worden war, stellte der Kläger den zweiten und zu diesem
Verfahren führenden Rentenantrag im August 1993. Die Beklagte holte ein internistisches sowie ein orthopädisches
Gutachten ein, in dem jeweils eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für leichte bis mittelschwere Arbeiten festgestellt
wurde (Fachärztin für Innere Medizin Dr. H. vom 14. Dezember 1993; Ärzte für Orthopädie Dres. I. vom 2. Januar
1994), und lehnte den Antrag zunächst mit Bescheid vom 11. Februar 1994 ab.
Der Kläger erhob unter dem 1. März 1994 Widerspruch und stellte unter dem 8. März 1994 einen dritten Rentenantrag.
Nach weiteren Ermittlungen, insbesondere zum Beruf des Revierjägers, bewilligte die Beklagte dem Kläger mit
Bescheid vom 11. Juli 1994 Rente wegen BU, lehnte Rente wegen EU erneut ab und führte aus, der Bescheid werde
gem. § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens. Ein
Widerspruchsbescheid erging daher nicht.
Am 21. November 1994 hat der Kläger Untätigkeitsklage vor dem SG J. erhoben. Das SG, bei dem bereits weitere 5
Verfahren des Klägers zu Einzelfragen der begehrten Rente wegen EU/BU anhängig waren, hat diese 6 Verfahren
sowie 2 weitere Verfahren des Klägers aus den Jahren 1996 und 1997 durch Beschluss verbunden (führendes
Aktenzeichen S 4 An 6/95). Im Verlauf des nachfolgenden Verfahrens ist es sodann zwischen dem Kläger und dem
SG zu mehreren Auseinandersetzungen über prozessuale Fragen gekommen: so hat der Kläger nach erfolgter
Akteneinsicht die kostenlose Übersendung von Fotokopien bestimmter Aktenbestandteile verlangt, die das SG unter
Hinweis auf § 120 Abs. 2 Satz 1 SGG nur gegen Kostenvorschuss zu übersenden bereit war. Daraufhin hat der Kläger
zunächst von seinem Antrag auf Übersendung Abstand genommen. Daneben hat er gerügt, dass ihm ein Schriftsatz
der Beklagten nicht zur Kenntnis gegeben worden sei. Des weiteren hat der Kläger die Untersuchung durch eine vom
SG gem. § 106 SGG beauftragte Sachverständige des neurologisch-psychiatrischen Fachgebietes (Frau Dr. K.) mit
der Begründung abgelehnt, dass die Sachverständige ihre Adresse in einem "Kerngebiet der Bremer Drogenszene,
Prostitution und Gewaltkriminalität" habe, weshalb ihm das Betreten dieses Wohngebietes unzumutbar sei. Darüber
hinaus hat der Kläger zunächst zwei und sodann einen dritten Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden der
erkennenden Kammer des SG gestellt. Hierneben hat er einen 4. Rentenantrag (gerichtet allein auf Rente wegen EU)
unmittelbar bei der Beklagten gestellt. Die ersten beiden Befangenheitsanträge hat das Landessozialgerichts (LSG)
Niedersachsen mit Beschluss vom 30. Juli 1997 als unbegründet zurückgewiesen. Zum dritten Befangenheitsantrag
vom 27. August 1997 ist ein Beschluss des LSG zunächst nicht ergangen. Nach einem stattdessen vom SG
gefassten weiteren Beweisbeschluss nach § 106 SGG (Gutachten nach ambulanter Untersuchung durch den Facharzt
für Neurologie und Psychiatrie Dr. L.) hat der Kläger erklärt, dass er erst dann wieder zum Prozess Stellung nehmen
werde, wenn über den dritten Befangenheitsantrag entschieden worden sei. Nach alledem hat das SG die Klage mit
Urteil vom 12. August 1999 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: der dritte Befangenheitsantrag des Klägers
stehe einer Sachentscheidung nicht entgegen, da die dem Antrag beigefügte Begründung der unterlassenen
Übersendung von Fotokopien von Aktenbestandteilen bereits Gegenstand des Beschlusses des LSG gewesen sei. In
der Sache selbst sei ein Anspruch auf Rente wegen EU bereits deshalb abzulehnen, weil die vorliegenden früheren
Gutachten ein jeweils vollschichtiges Leistungsvermögen des Klägers bestätigt hätten und weitere Ermittlungen durch
die fehlende Mitwirkung des Klägers nicht möglich gewesen seien.
Gegen dieses am 3. September 1999 durch Niederlegung zugestellte Urteil richtet sich die am 1. Oktober 1999
eingegangene Berufung des Klägers, zu deren Begründung der Kläger zunächst prozessuale Mängel des
erstinstanzlichen Verfahrens geltend gemacht hat: Zum einen sei über seinen dritten Befangenheitsantrag nicht
entschieden worden. Zum zweiten sei ein von ihm mit Schriftsatz vom 27. März 1997 reklamierter Schriftsatz der
Beklagten ihm bislang ebensowenig übersandt worden wie die mit Schriftsatz vom 12. März 1997 beantragten Kopien
bestimmter Aktenbestandteile. Und zum dritten sei der von ihm mit Schriftsatz vom 27. März 1997 gestellte weitere
Rentenantrag bislang nicht ins Verfahren eingeführt worden. Nachdem der Senat dem Kläger die von ihm in Bezug
genommenen Unterlagen übersandt und über den dritten Befangenheitsantrag (abschlägig) entschieden hatte, hat der
Kläger die Einholung eines Fachgutachtens auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet angeregt.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 12. August 1999 und der Bescheid der Beklagten vom 11. Februar 1994
aufzuheben und den Bescheid vom 11. Juli 1994 zu ändern,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit seit dem 1. September 1993 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide als zutreffend und bezieht sich zur Begründung ergänzend auf das Urteil
des SG.
Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren zunächst die vom Kläger in seiner Berufungsbegründung in Bezug
genommenen Schriftsätze an den Kläger übersandt und über seinen dritten Befangenheitsantrag entschieden und
diesen abgewiesen (L 1 B 98/00 RA). Sodann hat der Senat auf Anregung des Klägers den Facharzt für Neurologie
und Psychiatrie Dr. M. mit Beweisanordnung vom 13. Oktober 2000 mit der Erstellung eines Gutachtens nach
ambulanter Untersuchung des Klägers beauftragt. Der Gutachtenauftrag konnte nicht erledigt werden, weil der Kläger
zum Untersuchungstermin – nach seinen Angaben "wetterbedingt" - nicht erschienen ist.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die
Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand von mündlicher
Verhandlung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die gem. §§ 143 f. Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.
Weder das Urteil des SG noch die Bescheide der Beklagten sind zu beanstanden. Das SG hat im angefochtenen
Urteil prozessual und materiell zutreffend entschieden.
In prozessualer Hinsicht ist nicht zu beanstanden, dass das SG die zulässig erhobene Untätigkeitsklage mit den
insgesamt weiteren 7 Verfahren des Klägers gem. § 113 SGG verbunden und die Beklagte nicht zum Erlass eines
Widerspruchsbescheides verurteilt hat. Eine Verbindung von Verfahren derselben Beteiligten steht im Ermessen des
Gerichts und ist nur dann unzulässig, wenn sie willkürlich und ohne sachlichen Grund erfolgt (Meyer-Ladewig,
Kommentar zum SGG, 6. Aufl. 1998, § 113, Rn. 3 m.w.N.z.Rspg.). Willkür der Verbindungsentscheidung ist im
vorliegenden Fall nicht gegeben, vielmehr erfolgte die Verbindung aus sachlichem Grund. Denn auch die 6 weiteren
Verfahren betrafen das Begehren des Klägers auf Rente wegen EU/BU, und zwar in Form von vom Kläger als
jeweilige Klage anhängig gemachter Einzelfragen wie Fahrtkostenerstattung, Akteneinsichtsrecht oder
Fotokopiekosten. Im Übrigen hat der Kläger die Verbindung der Verfahren auch nicht gerügt. Auch musste das SG
nicht die Beklagte zum Erlass eines Widerspruchsbescheides verurteilen, sondern durfte selbst in der Sache
entscheiden. Denn auch im Rahmen einer Untätigkeitsklage kann das Gericht in der Sache entscheiden, d.h. die
Klage ohne vorherigen Widerspruchsbescheid zusprechen oder abweisen, wenn die jeweilige Sach- und Rechtslage
eindeutig ist (vgl. statt vieler nur: Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, a.a.O., § 88, Rn. 9a; Peters-Sautter-Wolf,
Kommentar zum SGG, § 88 Anm. 2; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 2 Aufl., Rn. 58; jeweils m.w.N.). Die Sach-
und Rechtslage war und ist eindeutig (dazu: siehe sogleich). Im Übrigen hat der Kläger auch das Fehlen eines
Widerspruchsbescheides nicht gerügt.
In der Sache hat der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, und zwar weder nach
dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden alten (§ 44 SGB VI a.F.), noch nach dem seit dem 1. Janaur 2001
geltenden neuen Recht (§ 43 SGB VI n.F.). Nach den übereinstimmenden Gutachten der Fachärztin für Innere
Medizin Dr. H. vom 14. Dezember 1993 und der Ärzte für Orthopädie Dres. I. vom 2. Januar 1994 bestand beim
Kläger zum jeweiligen Untersuchungszeitpunkt ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere
Arbeiten ohne schweres Heben und Tragen, ohne seelische Belastungen und ohne anhaltendes Stehen oder Hocken.
Damit übereinstimmend waren nach dem vorliegenden Befundbericht des Arztes für Orthopädie Dr. N. vom 5. Mai
1994 insbesondere keine neurologischen Ausfälle feststellbar. Später angeordnete Untersuchungen kamen nicht
zustande, ohne dass der Kläger hierfür berechtigte Gründe geltend machen könnte. Der erste vom SG erteilte
Gutachtenauftrag konnte nicht erledigt werden, weil sich der Kläger mit der Begründung nicht zur Untersuchungspraxis
begeben hatte, dass ihm das soziale Milieu der betreffenden Wohngegend unzumutbar sei. Das zweite vom SG in
Auftrag gegebene Gutachten kam nicht zustande, weil der Kläger sich der Mitwirkung mit der Begründung verweigerte,
zunächst müsse über seinen dritten Befangenheitsantrag entschieden werden. Unabhängig von der Frage, ob dieser
angegebene Grund rechtlich erheblich gewesen wäre, erweist er sich jedoch bereits im Tatsächlichen als unglaubhaft,
weil der Senat die Entscheidung über den Befangenheitsantrag des Klägers nachgeholt, allen weiteren vom Kläger
erhobene Rügen nachgegangen ist, insbesondere entgegen § 120 SGG Fotokopien von Aktenbestandteilen
unentgeltlich an ihn übersandt und dann selbst einen Sachverständigen beauftragt hat, zu dem sich der Kläger dann
aber gleichwohl nicht begeben hat, dieses Mal mit der Begründung: "wetterbedingt". Damit hat der Senat die ermittelte
medizinische Sachlage aus den Jahren 1993 und 1994 auch weiterhin als zutreffend zugrunde zu legen, die jedoch -
so das SG zu Recht - einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit über die bereits zuerkannte BU-
Rente hinaus nicht begründen kann.
Dass der vierte Rentenantrag des Klägers weder von der Beklagten noch vom SG in einer eigenen Entscheidung
beschieden wurde, steht der Entscheidung des Senats nicht entgegen, denn der Antrag war (allein) auf Rente wegen
EU gerichtet, betraf also exakt denjenigen Anspruch, über den die Beklagte, das SG und auch der erkennende Senat
in diesem Verfahren gerade entschieden haben.
Die Berufung war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Es hat kein gesetzlicher Grund gemäß § 160 Abs. 2 SGG vorgelegen, die Revision zuzulassen.