Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 13.03.2003

LSG Nsb: arbeitsunfall, unfallfolgen, verwaltungsverfahren, unfallversicherung, erwerbsfähigkeit, distorsion, krankenkasse, heilbehandlung, befund, arbeitsfähigkeit

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 13.03.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 11 U 120/00
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 3/9 U 482/01
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der Folgen eines Arbeitsunfalls und um die Gewährung entsprechender
Entschädigungsleistungen.
Der Kläger erlitt am 29. Mai 1998 bei seiner Tätigkeit als Küchenhilfe in einem Schnellrestaurant einen Unfall, bei dem
er aus etwa 1,5 m Höhe von einer Leiter fiel. Er begab sich am folgenden Tag zum Durchgangsarzt Prof Dr E. ,
Krankenhaus Am Bürgerpark in Bremerhaven, der zunächst den Verdacht auf eine Impressionsfraktur des 5. und 6.
Halswirbelkörpers äußerte und eine Prellung beider Handgelenke diagnostizierte (Durchgangsarztbericht vom 03. Juni
1998). Im Verlauf der stationären Behandlung bis zum 03. Juni 1998 wurde die endgültige Diagnose einer Stauchung
der Halswirbelsäule mit erheblicher Steilstellung sowie einer Stauchung beider Handgelenke gestellt (Zwischenbericht
von Prof Dr E. vom 23. Juni 1998). Die ambulante berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung beendete Prof Dr E.
zunächst am 25. Juni 1998. Am 04. Juli 1998 stellte sich der Kläger dort erneut wegen Ganzkörperschmerzen vor.
Am 08. Juli nahm Prof Dr F. , Zentralkrankenhaus Reinkenheide in Bremerhaven, die ambulante
berufgenossenschaftliche Heilbehandlung auf, die er am 15. Juni 1998 beendete, nachdem er einen Zusammenhang
der Beschwerden mit dem Unfall nicht mehr erkennen konnte.
Mit Schreiben vom 09. September 1999 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Unfallrente,
wobei er auf Schmerzen im Halswirbelbereich, in der rechten Hand und im rechten Bein hinwies, die sich
verschlimmert hätten. Die Beklagte holte eine Stellungnahme ihres beratenden Facharztes für Chirurgie ein, der der
Auffassung von Prof Dr F. beipflichtete. Mit Bescheid vom 16. November 1999 lehnte sie unter Hinweis auf die
Berichte des Zentralkrankenhauses Reinkenheide die Gewährung einer Verletztenrente ab, weil der Arbeitsunfall eine
Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Grade über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus
nicht hinterlassen habe.
Gegen diese Entscheidung legte der Kläger am 09. Dezember 1999 Widerspruch ein, zu dessen Begründung er
hervorhob, dass er bis zum Unfall ein zuverlässiger und fleißiger Mitarbeiter gewesen sei, der alle Arbeiten ohne
fremde Hilfe habe verrichten können. Erst seit dem Arbeitsunfall seien seine Leistungen stark beeinträchtigt. Warum
Prof Dr F. zum Ergebnis komme, ein Zusammenhang seiner Schmerzen mit dem Unfall sei nicht vorhanden, bleibe
unerfindlich. Außerdem legte er ein Attest seiner Fachärztin für Allgemeinmedizin G. vor, wonach man seine
Schmerzen eindeutig als Unfallfolgen betrachten müsse, weil sie in dieser Form vor dem Unfall nicht vorhanden
gewesen seien.
Die Beklagte holte im Zuge weiterer Ermittlungen Auskünfte der Krankenkasse des Klägers über Vorerkrankungen ein.
Außerdem beauftragte sie Prof Dr F. mit der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens. Dieser kam in seinem
Gutachten vom 09. März 2000 zum Ergebnis, beim Kläger sei es mittlerweile zu einem verselbständigten schweren,
schmerzhaften HWS-Syndrom gekommen, ohne dass ein objektivierbarer pathologischer Befund im Bereich des
Rückenmarks, der Nervenwurzeln oder der peripheren Nerven erhoben werden könnte. Aus diesem Grund könne das
Unfallereignis allenfalls als Gelegenheitsursache eingestuft werden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 2000 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach dem Gutachten von
Prof Dr F. habe zum Zeitpunkt des Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in
rentenberechtigendem Grade über die 26. Woche hinaus durch Unfallfolgen nicht vorgelegen. Eine Rente könne nur
beansprucht werden, wenn die unfallbedingte MdE wenigstens 20 vH betrage; dies sei nach der vorliegenden
ärztlichen Beurteilung jedoch nicht der Fall.
Hiergegen hat der Kläger mit Schriftsatz vom 23. Juni 2000 vor dem Sozialgericht (SG) Stade Klage erhoben, die
spätestens am 26. Juni 2000 bei Gericht eingegangen ist. Bei dem Unfall vom 29. Mai 1998 handele es sich nicht nur
um eine Gelegenheitsursache, sondern um die einzige Ursache für seinen derzeitigen Gesundheitszustand, so dass
ihm eine Unfallrente zuzubilligen sei. Nach dem Schutzzweck des Gesetzes müsse jeder Gesundheitsschaden, den
der Betroffene durch die versicherte oder sonstige geschützte Tätigkeit erleide, auch tatsächlich entschädigt werden.
Dabei komme es nicht auf eine generalisierende Betrachtung oder auf die Frage an, was nach allgemeiner
Lebenserfahrung geeignet und zu erwarten gewesen wäre; vielmehr seien allein die konkreten Umstände des
individuellen Einzelfalls entscheidend. In seinem Fall sei aber zu beachten, dass er in der Zeit vor dem Unfall – mit
der Ausnahme eines 1994 erlittenen Verkehrsunfalls – ein völlig gesunder leistungsfähiger Mensch gewesen sei.
Das SG hat auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ein Gutachten das Facharztes für Orthopädie Dr H. , Dresden,
vom 27. März 2001 eingeholt. Dieser hat angegeben, die zeitliche Beendigung der unfallbedingten Erkrankungsfolgen
mit dem 14. Juli 1998 erscheine denkbar. Aus gutachterlicher Sicht sei aber auch eine unfallbedingte Behandlungszeit
bis zum August 1998 nachvollziehbar; spätestens ab September 1998 handele es sich jedoch um ein eigenständiges
Krankheitsbild.
Mit Gerichtsbescheid vom 26. Juli 2001 hat das SG die Klage abgewiesen, wobei es sich zur Begründung auf die
Gründe der angefochtenen Bescheide bezogen hat. Sowohl die im Verwaltungsverfahren gehörten Gutachter als auch
der gerichtliche Sachverständige Dr H. hätten übereinstimmend das Vorliegen wesentlicher Unfallfolgen bei dem
Kläger verneint.
Gegen den ihm am 12. November 2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 12. Dezember 2001
Berufung eingelegt. Zur Begründung weist er erneut darauf hin, dass er vor dem Arbeitsunfall unter keinerlei
schmerzhaften Bewegungseinschränkungen und Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule gelitten habe. Auch
heute noch bestünden bei ihm jedoch nahezu ständig Schmerzen im Bereich des Nackens, die bis in das Hinterhaupt,
zum Teil auch bis in den rechten Arm reichten. Hinzugetreten seien rezidivierende Schmerzen im linken Bein, die von
der Lendenwirbelsäule ausstrahlten. Außerdem bestünden Beschwerden in beiden Hüft-, Knie- und Sprunggelenken.
Das Gutachtenergebnis von Dr H. sei nicht nachzuvollziehen; insbesondere sei fraglich, wie sich der Kläger eine
eigenständige Erkrankung im Bereich der Halswirbelsäule zugezogen haben könnte.
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 26. Juli 2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16.
November 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Mai 2000 aufzuheben,
2. festzustellen, dass bei ihm als Folgen des Arbeitsunfalls vom 29. Mai 1998 folgende Gesundheitsstörungen
vorliegen:
schmerzhafte Bewegungseinschränkungen im Bereich der HWS mit Ausstrahlung in den rechten Arm und in das
rechte Bein,
3. die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, ihm über den 15. Juli 1998 hinaus Entschädigung aus der
gesetzlichen Unfallversicherung – insbesondere Verletztenrente – zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter
einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten durch seinen Berichterstatter (§ 155 Abs 3 und
4 SGG) und ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) entscheiden konnte, ist zulässig, aber unbegründet. Der
Bescheid vom 16. November 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Mai 2000 ist nicht zu
beanstanden; die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, weiterbestehende Unfallfolgen anzuerkennen und dem Kläger
eine Verletztenrente zu gewähren. Dies hat das SG Stade in seinem Gerichtsbescheid vom 26. Juli 2001 zutreffend
erkannt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die vom Kläger vorgebrachten Gesundheitsstörungen im Rechtssinne Folgen
des Arbeitsunfalls (vgl § 8 Abs 1 SGB VII) vom 26. Mai 1998 sind. Dies wäre jedoch Voraussetzung für die
Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung; insbesondere setzt § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII
für die in erster Linie begehrte Rentengewährung voraus, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers in Folge des
Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist.
Für die Anerkennung als Unfallfolge muss zunächst feststehen, dass die geklagten Gesundheitsstörungen im Sinne
naturwissenschaftlicher Kausalität durch den Arbeitsunfall verursacht worden sind. Dies muss zumindest
wahrscheinlich sein, dh nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung muss mehr für als gegen einen
Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und den Gesundheitsstörungen sprechen (BSG Breithaupt 1963, 60, 61).
Sind neben dem Arbeitsunfall weitere Bedingungen für das Schadensbild ursächlich geworden, muss der Unfall die
rechtlich "wesentliche” Ursache sein, dh bei Abwägung des verschiedenen Wertes der Mitursachen zum Schaden in
einer besonders engen Beziehung stehen. Dabei ist der Zweck der Gesetzlichen Unfallersicherung zugrunde zu legen,
der darin besteht, eine Absicherung für besondere Risiken der Arbeitswelt bereitzustellen, nicht jedoch für
Erkrankungen, die auch unabhängig hiervon auftreten können, etwa in Folge einer Krankheitsanlage oder von privaten
Einwirkungen (zu alledem: Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzl Unfallversicherung, § 8 SGB VII Rdnr 8.1 ff mwN
a.d.Rspr).
Vorliegend kann ein derartiger wesentlicher Ursachenzusammenhang jedoch nicht bejaht werden. Dies ergibt sich
bereits aus dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Prof Dr F. vom 09. März 2000. Dieser hat auf
der Grundlage einer eingehenden Diagnostik mit radiologischer, computertomographischer, szintigraphischer und
neurologischer Untersuchung festgestellt, dass eine objektivierbare Unfallfolge im Bereich der Halswirbelsäule nicht
mehr vorgefunden werden konnte. Es leuchtet ein, wenn er aus dem Fehlen erkennbarer Verletzungszeichen schließt,
dass die vorliegend geklagten langanhaltenden Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule mit Ausstrahlung in den
rechten Arm und in das rechte Bein ihre Ursache nicht in dem Vorfall vom 29. Mai 1998 haben können. Schlüssig ist
auch, wenn Prof Dr F. aus dem Fehlen derartiger Verletzungsspuren schließt, dass es als Folge des Sturzes allenfalls
zu einer Distorsion (Verstauchung) der Halswirbelsäule gekommen sein konnte. Wenn er die nach einer Distorsion
Grad I übliche Zeit der Ausheilung bis zum Juli 1998 bestimmt, steht dies in Übereinstimmung mit den
entsprechenden Erfahrungswerten im unfallversicherungsrechtlichen Schrifttum. Danach kann für eine Stauchung in
diesem Schweregrad regelmäßig eine unfallbedingte MdE von höchstens 4 Wochen nach dem Wiedereintritt der
Arbeitsfähigkeit angenommen werden (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl,
Seite 524).
Dieses Ergebnis wird durch das auf Antrag des Klägers eingeholte Sachverständigengutachten von Dr H. vom 27.
März 2001 bekräftigt. Dieser hat hervorgehoben, dass sich "weder klinisch noch röntgenologisch eindeutig dem Unfall
zuzuschuldende Folgen ableiten” lassen. Nach seinen Erfahrungen handelt es sich höchstens bis September 1998 um
ein unfallbedingtes, danach aber um ein eigenständiges Krankheitsbild.
Wenn der Kläger seine anderslautende Auffassung darauf stützt, er habe vor dem Arbeitsunfall vom 29. Mai 1998
unter keinerlei schmerzhaften Bewegungseinschränkungen und Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule gelitten,
kann dieser Behauptung bereits im Ansatz nicht gefolgt werden. Aus der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren
eingeholten Auskunft der Krankenkasse des Klägers ergibt sich vielmehr, dass dieser im Juni 1992 für 4 Tage mit der
Diagnose "Lumbago/HWS-Syndrom” arbeitsunfähig gewesen ist. Auch in der Zeit davor sind wiederholte
Erkrankungszeiten wegen Beschwerden des Stützorgans (BWS-Syndrom, Lumbago) dokumentiert. Der Einwand des
Klägers, er sei vor dem streitbefangenen Unfall völlig gesund gewesen, so dass seine jetzigen Beschwerden nur
unfallbedingt sein könnten, lässt sich demnach nicht halten. In Übereinstimmung hiermit hat Prof Dr F. im Rahmen
der Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule degenerative Veränderungen des Halswirbelsäulen-Segments C4/5
vorgefunden.
Auf der Grundlage vorbestehender Gesundheitsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule mag zwar denkbar sein,
dass es diesbezüglich durch den Unfall zu einer Verschlechterung des Krankheitszustands gekommen ist. Dies führt
jedoch nicht zur Annahme, dass die jetzigen Beschwerden wesentlich durch den Arbeitsunfall verursacht worden sind.
Einer bloßen Distorsion, die keine röntgenologisch feststellbaren Folgen im Bereich der Halswirbelsäule hinterlassen
hat, kann gegenüber erkennbaren degenerativen Veränderungen der Wirbelkörper kein derart hohes Gewicht
zukommen, dass sie als wesentliche Mitbedingung angesehen werden könnte. Auch hierin ist dem Gutachten von
Prof Dr F. , der das Unfallereignis vom 29. Mai 1998 allenfalls als Gelegenheitsursache eingestuft hat, zu folgen.
Soweit sich der Kläger im Erörterungstermin vom 28. Januar 2003 darauf berufen hat, der Sachverständige Dr H. habe
ihm ursprünglich gesagt, ein Zusammenhang seiner Beschwerden mit dem Arbeitsunfall sei nachweisbar, und hierfür
Beweis durch die Zeugenvernehmung des Arztes angeboten hat, musste dem nicht nachgegangen werden. Denn
diese Behauptung kann als wahr unterstellt werden. Hierdurch ändert sich an der Beurteilung der Rechtslage nichts,
weil für die Beurteilung der hier umstrittenen Zusammenhangsfrage nur die Auffassung des Sachverständigen
maßgeblich sein kann, zu der er nach der Untersuchung des Klägers und der vollständigen Auswertung der Befund-
und sonstigen ärztlichen Unterlagen gekommen ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), liegen nicht vor.