Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 12.05.2003

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 12.05.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Osnabrück S 7 V 7/96
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 10/5 V 23/02
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialge-richts Osnabrück vom 11. Dezember 1998 wird
zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger im Wege eines Verschlimme-rungsantrages eine weitere
Schädigungsfolge anzuerkennen und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) gemäß § 30 Abs. 1 des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG) auf mehr als 70 vH festzusetzen ist.
Bei dem 1923 geborenen kriegsverletzten Kläger hatte das Versorgungsamt Os-nabrück zuletzt mit Bescheid vom 14.
Dezember 1960 aufgrund des versor-gungsärztlichen Gutachtens des Neurologen Dr. D. vom 10. November 1960 als
Schädigungsfolgen
"Schussverletzung des linken Scheitelbeins mit geringem Knochendefekt und praktischer Lähmung des rechten
Beines sowie neurologischen Ausfäl-len des rechten Armes und linken Beines, leichte Hirnleistungsschwäche"
sowie eine dadurch bedingte MdE gemäß § 30 Abs. 1 BVG um 70 vH festgestellt. Den Grad der MdE hat das
Versorgungsamt später gemäß § 30 Abs. 2 BVG we-gen besonderen beruflichen Betroffenseins auf 80 vH erhöht.
Mit dem im Januar 1995 gestellten Neufeststellungsantrag begehrte der Kläger die Gewährung höherer
Versorgungsbezüge. Zur Begründung machte er eine Verschlimmerung der Folgen der Hirnverletzung sowie
Rückenschmerzen als Folge einer auf die Schädigungsfolgen zurückzuführenden Spinalstenose geltend. Der Beklagte
veranlasste eine Begutachtung des Klägers durch den Chirurgen Dr. E., der in seinem Gutachten insbesondere zu der
Auffassung gelangte, die Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule seien alters- und konstitutionell bedingt,
weil weder eine Beckenverkippung, noch eine nennenswerte Fehlbelas-tung der unteren Wirbelsäule, noch eine fixierte
Skoliose, noch eine Instabilität vorlägen.
Mit Bescheid vom 18. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 1996 lehnte der Beklagte
daraufhin die Neufeststellung des Versor-gungsanspruches ab. Eine wesentliche Änderung sei nicht eingetreten.
Dagegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben und die Feststellung einer MdE von
mehr als 70 vH begehrt. Zur Begründung hat er vorgetragen, die anerkannte Hirnschädigung habe sich erheblich
verschlech-tert. Die Lähmung des rechten Beines habe zu einer Fehlbelastung der Wirbel-säule und in ihrer Folge zur
Entwicklung von Verschleißveränderungen im Be-reich der Lendenwirbelsäule geführt.
Das SG hat den Kläger von dem Neurologen und Psychiater Dr. Dr. F. und dem Orthopäden Dr. G. begutachten
lassen, die übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt sind, dass in den anerkannten Schädigungsfolgen eine
wesentliche Än-derung nicht eingetreten sei. Soweit nunmehr gegenüber dem Zeitpunkt der Fest-stellung von 1960
neue Gesundheitsstörungen eingetreten seien, seien diese nicht mit den Schädigungsfolgen in Zusammenhang zu
bringen.
Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat das SG ihn darüber hinaus von dem
Neurologen und Psychiater Dr. H. und dem Or-thopäden Dr. I. begutachten lassen. Während Dr. H. in seinem
Gutachten ab-schließend ausgeführt hat, auf seinem Fachgebiet sei eine wesentliche Änderung des
Schädigungsfolgen nicht eingetreten, hat Dr. I. die Auffassung vertreten, durch eine erhebliche Fehlstatik sei es zu
einer Zunahme der degenerativen Ver-änderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule des Klägers mit der Folge einer
spinalen Stenose gekommen. Hierfür sei eine MdE in Höhe von 30 vH in Ansatz zu bringen, so dass der Gesamtgrad
der MdE ab Januar 1995 mit 80 vH einzu-schätzen sei.
Der Beklagte ist dem durch Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr. J.
entgegengetreten.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 11. Dezember 1998 als unbegründet abge-wiesen. Eine wesentliche
Verschlimmerung der Schädigungsfolgen im geistig-seelischen Bereich sei nicht eingetreten. Die bei dem Kläger
inzwischen vorlie-gende Spinalstenose sei auch nicht mittelbare Schädigungsfolge. Eine Wirbel-säulenfehlstatik führe
nur bei nicht ausgleichbarer Seitverbiegung zu degenerati-ven Wirbelsäulenveränderungen. Eine derartige
Seitverbiegung liege bei dem Kläger jedoch nicht vor.
Gegen das ihm am 29. Januar 1999 zugestellte Urteil wendet sich die am 12. Februar 1999 bei dem
Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klä-gers. Er hält daran fest, dass die Spinalstenose durch das mehr
als 50 Jahre an-dauernde schädigungsbedingte Hinken und Humpeln entstanden sei und dass ihm eine MdE gemäß §
30 Abs. 1 BVG von mehr als 70 vH zustehe.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 11. Dezember 1998 und den Bescheid des Versorgungsamtes
Osnabrück vom 18. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Lan-desversorgungsamtes
Niedersachsen vom 2. Januar 1996 aufzuhe-ben,
2. den Beklagten zu verurteilen, bei ihm eine "spinale Stenose” als weitere Schädigungsfolge i.S. des
Bundesversorgungsgesetzes festzustellen und ihm deswegen ab dem 1. Januar 1995 Beschä-digtenrente nach einer
Minderung der Erwerbsfähigkeit um 90 vH gemäß § 30 Abs. 1 und 2 BVG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 11. Dezember 1998 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zu-treffend. Die Beteiligten haben
übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung und durch den
Berichterstatter erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der
Verwaltungsakte des Versorgungsamtes Osnabrück sowie der über den Kläger geführten Schwerbehindertenakte
Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat
zu recht festgestellt, dass dem Kläger weder ein Anspruch auf Anerkennung der spinalen Stenose als weitere
Schädigungsfol-ge im Sinn des § 1 BVG noch auf Versorgung nach einer höheren MdE als um 70 gemäß § 30 Abs. 1
BVG zustehen.
Das SG hat in dem angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt, dass dem Begeh-ren nur nach Maßgabe der Vorschrift
des § 48 des Zehnten Buches Sozialge-setzbuch (SGB X) entsprochen werden könnte, wenn sich nämlich gegenüber
den verbindlichen Feststellungen von 1960 eine wesentliche tatsächliche Ände-rung ergeben hätte. Das SG hat aber
auch zutreffend festgestellt, dass diese Voraussetzung nicht gegeben ist. Denn weder haben sich die anerkannten
Schä-digungfolgen wesentlich verschlimmert noch ist eine neue Gesundheitsstörung aufgetreten, die als
Schädigungsfolge anzuerkennen ist. Zwar ist ist die Spi-nalstenose in diesem Sinn eine neue Gesundheitsstörung,
weil sie anlässlich der Begutachtung durch Dr. D. am 10. November 1960 noch nicht bestanden hat. Sie ist jedoch
nicht Schädigungsfolge.
Gemäß § 1 Abs. 1 und 3 BVG sind solche Gesundheitsstörungen Schädigungs-folgen, die mindestens mit
Wahrscheinlichkeit durch die Schädigung verursacht worden sind. Ursache im Rechtssinn sind dabei nur solche
Bedingungen im na-turwissenschaftlich-philosophischen Sinn, die von wesentlicher Bedeutung sind, also im Vergleich
zu allen anderen Bedingungen für den Eintritt der streitigen Ge-sundheitsstörung in etwa gleiche Bedeutung haben
(Theorie der rechtlich we-sentlichen Bedingung, vgl. dazu Rohr/Strässer, Kommentar zum BVG, § 1 Anm. 9.).
Auch von dem Kläger wird nicht behauptet, die Spinalstenose sei unmittelbar auf das schädigende Ereignis - den
Streifschuss am Scheitelbein - zurückzuführen.
Aber auch die bereits anerkannten Schädigungsfolgen, insbesondere auch die Teillähmung des rechten Beines, sind
in diesem Sinn nicht Ursache der Spi-nalstenose des Klägers. Denn diese ist nach den Bewertungsmaßstäben der
rechtsnormähnlichen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozia-len Entschädigungsrecht und nach
dem Schwerbehindertengesetz; Fassung von 1996 (AHP 1996) (vgl. etwa Bundessozialgericht, Urteil vom 23. Juni
1993, Az: 9/9a RVs 1/91, SozR 3-3870 § 4 Nr 6; Urteil vom 11. Oktober 1994, Az: 9 RVs 1/93, SozR 3-3870 § 3 Nr 5;
Bundesverfassunggericht, Beschluss vom 6. März 1995, Az: 1 BvR 60/95, SozR 3-3870 § 3 Nr 6) mit den
anerkannten Schädigungsfolgen nicht in Zusammenhang zu bringen. Bei Gliedmaßenschäden können die gleichen
Folgen am Bewegungsapparat auftreten wie nach einer Amputation mit vergleichbarer Funktionsstörung (AHP 1996,
Rdnr. 129 Abs. 4, S. 302). Selbst für Gliedmaßen-verluste ist indes nach den verbindlichen Maßstäben der AHP 1996
ein Zusam-menhang mit Funktionsstörungen, wie sie der Kläger beklagt, nicht herzustellen.
Zunächst ist bereits zweifelhaft, ob die Teillähmung des rechten Beines zu einer statischen Fehlbelastung der
Lendenwirbelsäule geführt haben kann. Denn die Teillähmung hat keine Längendifferenz der Beine verursacht, so
dass ein Be-ckenschiefstand und in seiner Folge eine Seitverbiegung der Lendenwirbelsäule nicht durch die
Schädigungsfolgen verursacht worden ist. Dass eine anderweitige statische Fehlbelastung durch eine durch die
Schädigungsfolgen bedingte Fehl-stellung des Beckens verursacht sein könnte, ist nicht ersichtlich.
Dahingestellt bleiben kann, ob etwa ein Beckenschiefstand als Folge einer nicht seitengleichen Versorgung mit
orthopädischen Schuhen entstanden ist, wofür sich allerdings in der Akte kein Hinweis ergibt. Dahingestellt bleiben
kann auch, ob es etwa ohne Beckenschiefstand durch die möglicherweise auch die Rücken-muskulatur betreffende
seitendivergente Teillähmung zu der Seitverbiegung der Lendenwirbelsäule gekommen sein könnte, wofür sich aus der
Akte allerdings ebenfalls kein tragfähiger Hinweis ergibt. Denn selbst unter der Annahme einer letztlich
schädigungsbedingten Skoliose der Lendenwirbelsäule würde die von dem Kläger geltend gemachte Spinalstenose
nicht darauf zurückzuführen sein.
Allerdings kann eine Seitverbiegung der Lendenwirbelsäule zu degenerative Ver-änderungen führen. Dies gilt jedoch
nur, wenn und soweit sie allein oder bevor-zugt den konkavseitigen Bereich der Seitverbiegung betreffen (AHP 1996,
Rdnr. 129 Abs. 1, Unterabsatz 7, S. 301). Die degenerativen Veränderungen der nach links ausgebogenen
Lendenwirbelsäule des Klägers sind nach dem Ergeb-nis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme aber
nicht eindeutig auf den Innenbereich der Verbiegung beschränkt oder dort wenigstens besonders stark ausgeprägt.
Vielmehr finden sich in etwa gleichstarke Veränderungen auch linksseitig und an Vorder- und Rückseite der
Lendenwirbelsäule. Soweit Dr. I. die Röntgenaufnahmen vom 25. Februar 1998 und 27. März 1995 in der Zusam-
menfassung seines Gutachtens anders interpretiert, steht er damit bereits in Ge-gensatz zu dem Text seiner eigenen
Auswertung der Röntgenaufnahmen. Hierbei beschreibt er auch sehr ausgeprägte Veränderungen an den Vorder- und
Hinter-kanten der Wirbelkörper sowie neben den rechtsseitigen auch linksseitige Verän-derungen. Dr. I. steht mit
seiner Abschlussbewertung aber auch im Gegensatz zu den Feststellungen von Dr. G ...
Selbst soweit der Senat mit den Wertungen von Dr. I. von verstärkten rechtsseiti-gen degenerativen Veränderungen
im Bereich der Lendenwirbelkörper 4 und 5 ausgeht, lässt sich damit ein ursächlicher Zusammenhang zu der
Spinalstenose nicht herstellen. Denn die Stenose befindet sich nicht etwa in diesem möglicher-weise noch von
Schädigungsfolgen betroffenen Abschnitt sondern im Bereich der Lendenwirbelkörper 1 bis 3. Dr. G. und Dr. I. sind
sich bei der Auswertung der MRT-Untersuchung vom 9. August 1996 darüber einig, dass die Spinalstenose sich in
dem genannten Wirbelsäulenabschnitt befindet und dass die Bandschei-ben zwischen den Lendenwirbelkörpern 1 und
2 sowie 2 und 3 vorgewölbt sind. Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch Dr. I. jedenfalls für diesen Wir-
belsäulenabschnitt nicht von seitendivergenten Veränderungen ausgeht.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Höherbemessung des Grades der MdE. Nachdem er inzwischen zu
Recht nicht mehr geltend macht, die bereits mit dem Bescheid vom 14. Dezember 1960 anerkannten
Schädigungsfolgen hätten sich wesentlich verschlimmert, kann ein höherer Grad der MdE im Verschlimme-
rungsverfahren nur in Betracht kommen, wenn und soweit weitere Schädigungs-folgen anzuerkennen sind. Nach den
vorstehenden Ausführungen ist aber dies nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.