Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 12.01.2001

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 12.01.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 3 SB 76/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 9 SB 139/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten in dem schwerbehindertenrechtlichen Rechtsstreit um die Zuerkennung der Merkzeichen "aG",
"RF" und "H".
Bei dem 1949 geborenen Kläger waren mit Bescheid vom 31. März 1998 ein Grad der Behinderung ("GdB") von 100
sowie das Vorliegen der Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "erhebliche Beeinträchtigung der
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (Merkzeichen "G") festgestellt worden. Dem lagen folgende
Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
1. Hüftgelenksarthrose beidseits, 2. degeneratives Wirbelsäulenleiden, Osteoporose, 3. allergische Erkrankung, 4.
Krampfaderleiden, 5. Schulter-Arm-Syndrom beidseits, 6. Psychische Behinderung.
Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein, soweit ihm das Merk-zeichen "H" nicht zuerkannt worden
war.
Im Mai 1998 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag, mit dem er erstrebte, ihm die Merkzeichen "RF" und
"aG" zuzuerkennen. Das Versorgungsamt (VA) H. holte Befundberichte von Prof. Dr. I. (vom 4. Juni 1998) und von
der Ärztin Dr. J. (vom 19. November 1998) ein. Sodann lehnte das VA mit Bescheid vom 5. Januar 1999 die
Zuerkennung der Merkzeichen "aG", "RF" und "H" ab. Auf den Wider-spruch des Klägers erging der abschlägige
Widerspruchsbescheid des Nieder-sächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben (NLZSA) vom 19. März
1999.
Hiergegen hat der Kläger am 13. April 1999 Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) K. hat Befundberichte der
Allgemeinmediziner Dr. L. (vom 26. April 1999) und Dr. M. (vom 27. April 1999) beigezogen und den Kläger von dem
Chirurgen und Sozialmediziner Dr. N. (Gutachten vom 23. Mai 2000) begutachten lassen. Dieser kam im wesentlichen
zu dem Ergebnis, dem Kläger stünden die begehrten Merkzeichen nicht zu, da er selbst angegeben habe, noch
eigenständig mit dem Pkw unterwegs zu sein und zur Bewegung außerhalb des Pkw’s nur einen Geh-stock zu
benötigen. Auch der Bedarf des Klägers an Hilfe bei den täglichen Ver-richtungen sei nicht so groß, daß die
Zuerkennung des Merkzeichens "H" zu rechtfertigen sei.
Daraufhin hat das SG – nach Anhörung der Beteiligten – die Klage mit Gerichts-bescheid vom 3. Juli 2000, der dem
Kläger am 10. Juli 2000 zugestellt worden ist, unter Bezugnahme auf das Gutachten von Dr. N. abgewiesen.
Der Kläger hat am 10. August 2000 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung weist er insbesondere darauf hin, das
Gutachten von Dr. N. sei nicht objektiv. Er, der Kläger, sei genauso schwer behindert wie jemand, der in einem
Rollstuhl sitze. Im übrigen müsse schon seine psychische Behinderung zur Zuerkennung des Merkzeichens "RF"
führen. Die Ablehnung des Merkzeichens "H" sei nicht begrün-det worden.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts K. vom 3. Juli 2000 sowie den Bescheid des Versorgungsamtes H. vom
5. Januar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale
Aufgaben vom 19. März 1999 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen der Voraussetzun-gen für die Zuerkennung der Merkzeichen
"aG", "RF" und "H" festzustel-len.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich auf seine angefochtenen Bescheide sowie den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes einen Befundbericht des Facharztes für Psychiatrie und
Psychotherapie O. vom 11. Oktober 2000 beigezo-gen. Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt des Ver-waltungsvorgangs des
Beklagten – Az. P. – Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündli-che Verhandlung einverstanden
erklärt.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet in Anwendung von § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat zutreffend erkannt, daß der Kläger keinen Anspruch auf
Zuerkennung der von ihm begehrten Merkzeichen "aG", "RF" und "H" hat. Mit dem angefochtenen Bescheid des VA
H. vom 5. Janu-ar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Lan-desamtes für
Zentrale Soziale Aufgaben vom 19. März 1999 ist zu Recht die Zu-erkennung der Merkzeichen "aG", "RF" und "H"
abgelehnt worden.
Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" hat derjenige, der die Vor-aussetzungen der
Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrs-ordnung (StVO), (Bundesanzeiger 1976 Nr. 142 vom 31.
Juli 1976, S. 3 ff) erfüllt. Diese Vorschrift, die in Ausführung von § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG)
ergangen ist, legt fest, daß außergewöhnlich gehbehindert iSd StVG ist, wer sich wegen der Schwere seines Leidens
dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann.
Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelun-terschenkelamputierte,
Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder
nur eine Becken-korbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere
Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund einer Erkrankung, dem vorstehend
angeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Diese Beurteilungskriterien hat das Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung in Abschnitt 31 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gut-achtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehinder-tengesetz", Ausgabe 1996 (AP 96) übernommen. Sie
entsprechen auch der stän-digen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), (vgl. etwa Urteil vom 11. März
1998 – B 9 SB 1/97 R – mwN). Sie sind ihrem Zweck entsprechend eng auszulegen (vgl. Urteil des BSG vom 17.
Dezember 1997 – 9 RVs 16/96 -). Eine außergewöhnliche Gehbehinderung liegt danach nur vor, wenn die Möglichkeit
der Fortbewegung in einem hohen Maße eingeschränkt ist, wobei auf die Behinderung beim Gehen abzustellen ist.
Das Gehen darf deshalb nur unter ebenso großer An-strengung möglich sein wie bei den beispielhaft aufgeführten
Personen der Ver-gleichsgruppen. Bei diesen liegen vornehmlich Schädigungen der unteren Extre-mitäten in einem
erheblichen Ausmaß vor, die bewirken, daß Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der Fortbwegung nicht
oder nur unter besonderen Erschwernissen erfüllen (vgl. erneut BSG Urteile vom 17. Dezember 1997 aaO, BSG Urt.
v. 8. Mai 1981 – SozR 3870 § 3 Nr. 11 und vom 3. Februar 1988 SozR 3870 § 3 Nr. 28). Der Senat folgt dieser
Rechtsprechung in ständiger Praxis (vgl. zuletzt etwa Senatsurteil vom 14. Januar 2000 – L 9 SB 51/99).
Daß diese – hohen – Anforderungen in der Person des Klägers nicht erfüllt sind, ergibt sich ohne weiteres aus dem
Gutachten von Dr. N ... Dort hat der Kläger an-läßlich seiner Untersuchung selbst angegeben, außerhalb seines
Wagens und seines Hauses benutze er beim Gehen lediglich einen Gehstock. Er könne auch noch 15 Minuten gehen.
Dr. N. hat dann festgestellt, der barfüßige Gang des Klä-gers in der Ebene erfolge mit etwas watscheligen, verkürzten
Schritten, sei aber sicher und raumgreifend. Der Einbeinstand sei unsicher. Zehen- und Hackengang seien aber intakt.
Angesichts dieser Feststellungen zur Gehfähigkeit des Klägers liegt es auf der Hand, daß dieser nicht so stark in
seiner Gehfähigkeit einge-schränkt ist, wie dies bei den oben genannten Vergleichsgruppen der Fall ist. Dr. N. hat
daher zu Recht gefolgert, eine Zuerkennung des Merkzeichens "aG" sei aus medizinischen Gründen nicht möglich.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung
über die Befreiung von der Rundfunkgebüh-renpflicht (vom 3. September 1992, NdsGVBl 1992 S. 239 ff) haben
Anspruch auf Zuerkennung dieses Merkzeichens Behinderte mit nicht nur vorübergehend einem Grad der Behinderung
von wenigstens 80, die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Die
ständige Verhinderung an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ist dahin zu verstehen, daß nur solche
Behinderte gemeint sind, die auf Dauer und jederzeit von der Teilnahme an nahezu allen Veranstaltungen
ausgeschlossen sind (vgl. BSG, Urteile vom 16. März 1994, 9 RVs 3/93; 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91 in SozR 3-
3870 § 48 Nr. 2). Zur Begründung dieser – ebenfalls engen – Auslegung hat das BSG darauf hingewiesen, das
Schwerbehindertengesetz verfolge die Zielsetzung, Behinderte in die Gesellschaft einzugliedern. Daher könne nur eine
enge Auslegung der An-spruchsvoraussetzungen richtig sein, da nur so gesichert werden könne, daß die Behinderten
nicht allzu leicht vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Auch dieser Rechtsprechung des BSG hat sich der
erkennende Senat in ständiger Praxis angeschlossen (vgl. zuletzt etwa Senatsurteil vom 20. Oktober 2000, L 9 SB
79/99). Eine solche Einschränkung des Behinderten kann sich auch aus psy-chischen Funktionseinschränkungen
ergeben (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 28. Juni 2000, B 9 SB 2/00 R). Dies setzt allerdings voraus, daß die
Teilnahme an öf-fentlichen Veranstaltungen dem Behinderten oder den anderen Teilnehmern we-gen des Leidens des
Behinderten oder seiner Auswirkungen nicht zuzumuten wä-re.Dem Behinderten wäre die Teilnahme an öffentlichen
Veranstaltungen insbe-sondere dann nicht zuzumuten, wenn und soweit er aufgrund seiner Funktionsbe-
einträchtigungen Menschen meidet und sich sozial zurückzieht, ohne daß er in der Lage wäre, sein Verhalten aus
eigener Willensanstrengung zu überwinden. Dies ist aber in der Person des Klägers nicht zu erkennen. Insoweit hat
der den Kläger behandelnde Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie O. in seinem Befundbe-richt vom 11.
Oktober 2000 darauf hingewiesen, der Kläger sei im wesentlichen durch eine reduzierte intellektuelle Ausstattung
gekennzeichnet und leide intermit-tierend unter Verfolgungswahn und anderen psychotischen Ängsten. Auch der Arzt
für Allgemeinmedizin Dr. L. weist in seinem Befundbericht vom 12. Novem-ber 1996 zu dem Aktenzeichen S 2 U
26/96, den er im April 1999 dem SG erneut zu dem Aktenzeichen S 13 RJ 77/99 übersandt hat, auf psychischem
Gebiet im wesentlichen auf die einfache intellektuelle Struktur des Klägers hin. Diese Struk-tur hat in der
Vergangenheit auch vorübergehend zur Anordnung der Betreuung für den Kläger geführt. Aus diesen Befunden läßt
sich jedoch nicht entnehmen, daß der Kläger im oben gekennzeichneten Maß ständig daran gehindert ist, an
öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Daher folgt der Senat auch insoweit der Einschätzung von Dr. N. in
dessen Gutachten, daß der Kläger keinen An-spruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" hat.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "H". Als hilflos iSd
Schwerbehindertenrechts ist derjenige anzusehen, der infolge von Ge-sundheitsstörungen nicht nur vorübergehend für
eine Reihe von häufig und regel-mäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Exis-tenz im
Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Häufig und regel-mäßig wiederkehrende Verrichtungen zur
Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages sind insbesondere An- und Auskleiden,
Nahrungsauf-nahme, Körperpflege, Verrichtung der Notdurft. Außerdem sind notwendige kör-perliche Bewegung,
geistige Anregung und Möglichkeiten zur Kommunikation zu berücksichtigen. Hilflosigkeit liegt auch dann vor, wenn
ein psychisch oder geistig Behinderter zwar bei zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens keiner
Handreichungen bedarf, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwä-che ohne ständige Überwachung
nicht vornimmt (vgl. AP 96 Rdnr 21 Abs. 2 und 3).
Diese Voraussetzungen sind in der Person des Klägers nicht erfüllt. Dieser hat bei seiner Untersuchung durch Dr. N.
angegeben, er sei beim An- und Ausziehen von Hosen und Strümpfen sowie beim Wannenbad auf eine Hilfe
angewiesen. Hierbei handelt es sich zwar durchaus um regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen zur Sicherung der
persönlichen Existenz. Der Kläger ist indes nicht, wie dies von den AP 96 vorausgesetzt wird, bei einer "Reihe von"
solchen Verrichtungen auf Hilfe angewiesen, wie Dr. N. in seinem Gutachten zu Recht und für den Senat über-
zeugend dargelegt hat. Ihm steht mithin auch die Zuerkennung des Merkzeichens "H" nicht zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §§ 183, 193 SGG.
Anlaß für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.