Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 27.06.2002

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 27.06.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hildesheim S 4 RI 10/96
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 10 RI 413/99
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 29. November 1999 wird
zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger über den 28. Februar 1995 hinaus ein Anspruch auf Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit (EU) zusteht.
Der 1946 geborene Kläger reiste 1970 aus Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er hat keinen Beruf
erlernt und verrichtete in Deutschland verschiedene Arbeiten. Zuletzt war er als Gießereiarbeiter beschäftigt.
Auf einen im Juli 1993 gestellten Rentenantrag gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 10. Mai 1994 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. August 1994 und abgeändert durch rechtskräftiges Urteil des
Sozialgerichts (SG) Hildesheim vom 31. Juli 1996 (Az.: S 5 I 193/94) Rente wegen EU für die Zeit vom 1. Oktober
1993 bis 28. Februar 1995. Grundlage der Rentengewährung war ein am 17. September 1993 erstattetes Gutachten
der Chirurgin Dr. I., die den Kläger wegen eines psychisch überlagerten, chronifizierten lumbalen Schmerzsyndroms
für vorübergehend nur noch unter zweistündig arbeitsfähig erachtete.
Im Januar 1995 beantragte der Kläger, ihm über Februar 1995 hinaus Rente wegen EU zu gewähren. Hierbei stützte er
sich auf den ihn behandelnden Internisten Dr. J., der ihn wegen eines lumbalen Wurzelreizsyndroms für nicht mehr
erwerbsfähig erachtete. Die Beklagte zog weitere medizinische Unterlagen bei und holte ein Gutachten des Internisten
K. vom 31. März 1995 mit chirurgischem Zusatzgutachten des Dr. L. vom 12. April 1995 ein und lehnte den
Rentenantrag sodann mit Bescheid vom 6. Juni 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember
1995 ab, weil der Kläger trotz eines chronifizierten lumbalen Schmerzsyndroms in der Lage sei, auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt, auf den er als ungelernter Arbeiter verwiesen werden könne, vollschichtig körperlich leichte Arbeiten im
Haltungswechsel ohne Stress- und Akkordbelastung zu verrichten.
Im nachfolgenden Klageverfahren hat das SG Hildesheim einen Befundbericht des Internisten Dr. J. vom 15. Juli 1998
beigezogen sowie ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters M. vom 20. Januar 1997 und ein orthopädisches
Gutachten des Dr. N. vom 8. Juni 1999 eingeholt. Dr. N. hat auf seinem Fachgebiet ein chronisches LWS- und HWS-
Syndrom diagnostiziert und den Kläger weiterhin für fähig erachtet, körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten
vollschichtig zu verrichten. Der Nervenarzt M. hat eine Neurasthenie ohne wesentlichen Krankheitswert gefunden. Der
Kläger sei bei Anspannung seines Willens durchaus in der Lage, die einer Arbeitsaufnahme entgegenstehenden
Hemmungen zu überwinden. Das SG hat sich den gehörten Sachverständigen angeschlossen und hat die Klage mit
Gerichtsbescheid vom 29. November 1999 abgewiesen, weil der Kläger mit seinem vollschichtigen
Leistungsvermögen nicht erwerbsunfähig sei.
Der Kläger hat gegen den ihm am 6. Dezember 1999 zugestellten Gerichtsbescheid am 28. Dezember 1999 Berufung
eingelegt. Er meint weiterhin, über Februar 1995 hinaus erwerbsunfähig zu sein. Hierbei beruft er sich wesentlich auf
den ihn behandelnden Internisten Dr. J ...
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 29. November 1999 und den Bescheid der Beklagten vom 6. Juni
1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1995 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 28. Februar 1995 hinaus Rente wegen EU zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 29. November 1999
zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und bezieht sich dabei auf die zu den Akten gereichten
Stellungnahmen der sie beratenden Ärzte Dr. O., Dr. P. und Dr. Q ...
Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren einen Befundbericht des Internisten Dr. J. vom 10. April 2000 beigezogen
und Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. vom 17. April 2001 und des Dipl.-Psychologen und
Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. vom 5. April 2002 eingeholt. Wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf den Befundbericht und die genannten Gutachten Bezug genommen.
Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakten des SG
Hildesheim zum Az.: S 5 I 193/94 vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen
der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist nicht rechtswidrig. Dem
Kläger steht auch nach Auffassung des erkennenden Senats kein Anspruch auf Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit über den 28. Februar 1995 hinaus zu.
Das SG ist auf der Grundlage der im Verwaltungsverfahren und im ersten Rechtszug durchgeführten Beweisaufnahme
zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger seit März 1995 zur vollschichtigen Verrichtung jedenfalls
körperlich leichter Arbeiten in der Lage ist. Dabei ist es zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger in erster Linie
durch Aufbraucherscheinungen an der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie ein Schmerzsyndrom im Sinne einer
Neurasthenie in seiner Erwerbsfähigkeit herabgesetzt ist. Ein untervollschichtiges Leistungsvermögen oder eine
rentenrechtlich bedeutsame Herabsetzung der Wegefähigkeit lassen sich in diesem Zusammenhang jedoch nicht
feststellen. Um Wiederholungen zu vermeiden, nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
hinsichtlich der Beweiswürdigung auf die in allen Punkten zutreffenden Ausführungen auf S. 4 bis 7 der Gründe des
angefochtenen Gerichtsbescheides Bezug.
Mit seinem vollschichtigen Leistungsvermögen ist der Kläger nicht erwerbsunfähig im Sinne von § 44 Abs. 2
Sozialgesetzbuch Sechstes Buch in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (SGB VI a. F.), die hier
gemäß § 300 Abs. 2 SGB VI weiter anwendbar ist, und – da er sich als ungelernter Arbeiter auf den allgemeinen
Arbeitsmarkt verweisen lassen muss – auch nicht berufsunfähig im Sinne von § 43 Abs. 2 SGB VI a. F. Sogenannte
atypische Leistungseinschränkungen oder eine Summierung erheblicher Leistungsbeeinträchtigungen, die trotz
vollschichtigen Leistungsvermögens eine rentenrelevante Erwerbsminderung begründen könnten, liegen ersichtlich
nicht vor. Das vollschichtige Leistungsvermögen des Klägers steht zugleich einem Anspruch auf Rente wegen
Erwerbsminderung im Sinne von § 43 SGB VI in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung (n. F.) entgegen,
denn hiernach wäre sogar ein Herabsinken der täglichen Leistungsfähigkeit auf weniger als sechs Stunden erforderlich
(Abs. 3 der genannten Vorschrift).
Die weitere Beweisaufnahme im Berufungsverfahren hat die Richtigkeit der Einschätzung des Leistungsvermögens
des Klägers durch die Beklagte und das SG bestätigt. Beide vom Senat gehörte Sachverständige haben die
wesentliche Leistungsbeeinträchtigung des Klägers in einer somatoformen Schmerzstörung bei Neurasthenie
gesehen. Die Sachverständigen ziehen hieraus jedoch unterschiedliche Schlüsse hinsichtlich des quantitativen
Leistungsvermögens. Während die Neurologin und Psychiaterin Dr. R. den Kläger lediglich noch für in der Lage hält,
unterhalbschichtig körperlich leichte Arbeiten zu verrichten, vertritt der Nervenarzt Dr. S. die Auffassung, dass noch
ein vollschichtiges Leistungsvermögen vorliege. Der Senat ist bei der Auseinandersetzung mit den beiden Gutachten
zu dem Ergebnis gelangt, dass der Auffassung von Dr. S. zu folgen ist. Während die Sachverständige Dr. R. das von
ihr angenommene unterhalbschichtige Leistungsvermögen lediglich damit begründet hat, dass eine längere Arbeitszeit
bei dem Kläger zu einem nicht erträglichen Schmerzerlebens führen würde, hat der Neurologe und Psychiater Dr. S.
im Einzelnen dargelegt, dass der Kläger bei zumutbarer Willensanspannung unter Einhaltung der qualitativen
Leistungsbeschränkungen durchaus in der Lage ist, vollschichtig zu arbeiten. Er hat dabei insbesondere auf
bewusstseinsnahe Aggravationstendenzen des Klägers hingewiesen und dies u. a. mit einem je nach Beobachtung
unterschiedlich demonstrierten Zittern des rechten Beins und fehlender Minderbemuskelung der rechten unteren
Extremität trotz angegebener Entlastung belegt. Er hat ferner ausgeführt, dass nach dem vom Kläger geschilderten
typischen Tagesablauf nicht davon ausgegangen werden könne, dass sein Schmerzerleben zum zentralen
Lebensinhalt geworden wäre. Angesichts der vorhandenen bewusstseinsnahen Anteile könne nicht davon
ausgegangen werden, dass sich die Schmerzstörung in einer Weise verselbständig habe, dass der Kläger nicht mehr
vollschichtig arbeiten könne. Der Senat schließt sich dieser ihm nachvollziehbar und überzeugend erscheinenden
Argumentation an und sieht die Einschätzung der Sachverständigen Dr. R., dass der Kläger nur noch
unterhalbschichtig arbeiten könne, als widerlegt an.
Mit den zuletzt von Dr. S. bestätigten qualitativen Leistungseinschränkungen ist den weiteren Gesundheitsstörungen
des Klägers hinreichend Rechnung getragen. Der Kläger darf wegen seiner Wirbelsäulenbeschwerden und des
Schmerzsyndroms nur noch körperlich leichte Arbeiten im Haltungswechsel und unter Witterungsschutz verrichten
und muss im Hinblick auf seine Herz-Kreislauf- und Magenbeschwerden Tätigkeiten unter Zeitdruck und in
Nachtschichten meiden. Diese Einschränkungen der beruflichen Einsetzbarkeit hindern nicht die Verweisbarkeit des
Klägers auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Nach den auch insoweit überzeugenden Ausführungen des
Sachverständigen Dr. S. ist auch eine rentenrechtlich bedeutsame Minderung der Wegefähigkeit nicht festzustellen.
Der Senat hat sich im Hinblick das vom Kläger angegebene wiederkehrende Herzrasen nicht zu weiterer
medizinischer Sachaufklärung veranlasst gesehen. Der Sachverständige Dr. S. hat in diesem Zusammenhang darauf
hingewiesen, dass ein im Sommer 2000 angefertigtes Elektrokardiogramm einen unauffälligen Befund ergeben habe.
Die seit Februar 1998 diagnostizierte intermittierende absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern sei verhältnismäßig
selten aufgetreten und spreche offenbar auf die Behandlung mit "Sotalex” an. Hieraus lasse sich auf eine nur geringe
Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Klägers schließen. Der Senat folgt dieser Bewertung und sieht die
diesbezüglich möglicherweise vorliegende Leistungsbeeinträchtigung durch einen Ausschluss von körperlich schweren
Arbeiten und Tätigkeiten unter Zeitdruck sowie in Nachtschicht genügend berücksichtigt. Dass insoweit in letzter Zeit
eine Befundverschlimmerung eingetreten ist, wird weder vom Kläger vorgetragen, noch ist solches dem Akteninhalt im
Übrigen zu entnehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.