Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.01.2015

LSG Niedersachsen: niedersachsen, erlass, übergangsregelung, pflege, dienstleistung, kritik, versorgung, aufwand, geldleistung, existenzminimum

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Kein pauschaler Mehrbedarfsanspruch für alleinerziehende
Hilfebedürftige nach dem AsylbLG
1. Bei den Leistungen nach §§ 3 ff. AsylbLG, insbesondere nach § 6 Abs. 1 Satz 1
AsylbLG, sind pauschale Mehrbedarfe für Alleinerziehende nicht vorgesehen.
Insoweit ist der konkrete, ggf. durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen zu deckende
Bedarf maßgeblich.
2. Die Entscheidung des Gesetzgebers, wegen des Bedarfs bei Alleinerziehung
einerseits im SGB II und dem SGB XII pauschale Geldleistungen zu erbringen und
andererseits im AsylbLG eine konkret individuelle Bedarfsdeckung vorzusehen,
verstößt nicht gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 20 Abs. 1 GG und auch nicht
gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 8. Senat, Beschluss vom 27.11.2014, L 8 AY
57/14 B ER
§ 6 Abs 1 AsylbLG, Art 1 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG, Art 3 Abs 1 GG
Tenor
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom
22. Mai 2014 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat ein Drittel der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu
erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des
Beschwerdeverfahrens wird abgelehnt.
Gründe
Die Beteiligten streiten im Rahmen des gerichtlichen Eilrechtsschutzes um die
Gewährung eines pauschalen Mehrbedarfs für Alleinerziehende nach § 6 Abs. 1
AsylbLG bzw. § 30 Abs. 3 Nr. 1 SGB XII (analog).
Die 1989 geborene Antragstellerin ist türkische Staatsangehörige und unbekannten
Datums nach Deutschland eingereist. Ab Juni 2013 wohnte sie bei ihrem Cousin in E.,
zunächst ohne einwohnermelde- und ausländerrechtlich erfasst zu sein. Drei Tage vor
der Geburt ihres Kindes, dem Antragsteller, beantragte sie am 9. Januar 2014 bei der
Antragsgegnerin Leistungen nach dem AsylbLG, die ihr und ihrem Sohn zunächst
durch Bescheid vom 14. Februar 2014 für die Zeit ab 9. Januar 2014 in monatlicher
Höhe von 505,00 € und sodann durch Bescheid vom 3. März 2014 ebenfalls für die
Zeit ab 9. Januar 2014 in gleicher Höhe bewilligt wurden. Den Widerspruch der
Antragsteller gegen den Bescheid vom 9. Januar 2014, der sich im Wesentlichen auf die
Bewilligung höherer Leistungen für die Antragstellerin unter Berücksichtigung der
Regelbedarfsstufe 1 sowie eines Mehrbedarfs für Alleinerziehende bezog, wies die
Antragsgegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 4. April 2014 als unbegründet
zurück. Diese Entscheidung ist Gegenstand der am 7. Mai 2014 beim Sozialgericht (SG)
Bremen erhobenen Klage (- S 33 AY 57/14 -).
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Bremen erhobenen Klage (- S 33 AY 57/14 -).
Die Antragsteller haben beim SG mit der Klageerhebung zugleich um einstweiligen
Rechtsschutz nachgesucht. Das SG hat den Eilantrag durch Beschluss vom 22. Mai
2014 mit der Begründung abgelehnt, dass der Antragstellerin nur Grundleistungen
gemäß § 3 AsylbLG nach der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) vom 18. Juli 2012 (-1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -) entsprechend der
Regelbedarfsstufe 3 zustünden, weil sie keinen eigenen Haushalt führe. Zudem sei ein
pauschaler Mehrbedarf für Alleinerziehende nach § 6 AsylbLG gesetzlich nicht
vorgesehen.
Gegen diese, den Antragstellern am 28. Mai 2014 zugestellte Entscheidung richtet sich
deren Beschwerde vom 30. Juni 2014 (einem Montag). Nachdem die Antragsteller in
eine eigene Wohnung in E. gezogen waren, hat die Antragsgegnerin den geltend
gemachten Anspruch auf Grundleistungen entsprechend der Regelbedarfsstufe 1 mit
Schriftsatz vom 1. August 2014 anerkannt und die den Antragstellern zustehenden
Leistungen durch Bescheid vom 15. August 2014 für den Zeitraum von Januar bis
August 2014 auf dieser Grundlage und unter Berücksichtigung der ab Juni 2014
angefallenen Kosten der Unterkunft und Heizung neu berechnet. Mit der Beschwerde
wird seither - soweit aus dem Vorbringen der Antragsteller ersichtlich - allein ein
pauschaler Mehrbedarf für Alleinerziehende nach § 6 AsylbLG i.V.m. § 30 Abs. 3 SGB
XII geltend gemacht. Die Antragsteller machen geltend, dass diese Leistung für
Alleinerziehende Bestandteil des menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1
Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG sei und nach deren Sinn und Zweck nur durch die
Gewährung eines pauschalen Mehrbedarfs, nicht dagegen durch konkrete (Sach-)
Leistungen erbracht werden könne. Dies gelte insbesondere für Leistungsberechtigte, die
- wie die Antragstellerin - außerhalb einer Einrichtung in eigenem Wohnraum
untergebracht seien, weil in Bremen und Niedersachsen bei einer dezentralen
Unterbringung keine Sachleistungen mehr erbracht würden. Zudem erschließe sich
nicht, warum nach § 6 Abs. 1 AsylbLG ein pauschaler Mehrbedarf für Schwangere und
die Leistungen des „Bildungspakets“ geleistet würden, der Mehrbedarf für
Alleinerziehende hingegen nicht.
Die Antragsgegnerin hält die erstinstanzliche Entscheidung in dieser Hinsicht für
zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Prozessakte der Hauptsache (- S 33 AY 57/14 -)
sowie der dort vorliegenden Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin verwiesen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen statthafte Beschwerde (§§
172, 173 SGG) der Antragsteller ist unbegründet.
Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung
für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht
gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller
ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde
(Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache
gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4
SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Nach diesen Maßgaben ist der Erlass einer gerichtlichen Regelungsanordnung mangels
Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs nicht (mehr) gerechtfertigt. Dies gilt
von vornherein für den Antragsteller, weil ihm Leistungen nach § 3 AsylbLG in
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von vornherein für den Antragsteller, weil ihm Leistungen nach § 3 AsylbLG in
gesetzlicher Höhe, also entsprechend der Übergangsregelung des BVerfG vom 18. Juli
2012 nach der Regelbedarfsstufe 6, gewährt werden und ihm keine höheren Leistungen
zustehen.
Seitdem der Antragstellerin aufgrund des Anerkenntnisses der Antragsgegnerin vom 1.
August 2014 diese sog. Grundleistungen entsprechend der Regelbedarfsstufe 1 gewährt
werden, kann sie im vorliegenden Verfahren ebenfalls keine höheren Leistungen (mehr)
erstreiten. Im Hinblick auf den allein noch streitigen Mehrbedarf für Alleinerziehende in
entsprechender Anwendung des § 30 Abs. 3 SGB XII (ggf. i.V.m. §§ 3 und 6
AsylbLG) hat sie einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht, weil nach den
zutreffenden Gründen der Entscheidung des SG bei den Leistungen nach §§ 3 ff.
AsylbLG, insbesondere nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, ein entsprechender
(pauschaler) Mehrbedarf nicht vorgesehen, vielmehr der konkrete, ggf. durch Geld-,
Sach- oder Dienstleistungen zu deckende Bedarf maßgeblich ist. Dies entspricht der im
Leistungsrecht nach dem AsylbLG verankerten konkret-individuellen Bedarfsdeckung
durch Sachleistungen (s. § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG bzw. § 6 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG;
vgl. auch BSG, Urteil vom 6. Oktober 2011 - B 14 AS 171/10 R - juris Rn. 23), die
abweichend vom allgemeinen Grundsicherungsrecht nach dem SGB II und dem SGB
XII gerade im Bereich der sonstigen Leistungen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ganz
unterschiedliche Hilfen ermöglicht (vgl. etwa die Fallgruppen bei Hohm, AsylbLG,
Loseblattkommentar, Stand: April 2014, § 6 Rn. 22 ff.). Da die Antragstellerin keinen
konkreten, auf den Umstand der Alleinerziehung zurückzuführenden Bedarf geltend
gemacht bzw. dargelegt hat, besteht keine Veranlassung für eine von Amts wegen zu
erfolgende Überprüfung des Leistungsfalls, ob der Antragstellerin insoweit eine Hilfe
nach §§ 3, 6 AsylbLG zu erbringen ist.
Das Leistungserbringungsrecht nach dem AsylbLG, nach dem ein Mehrbedarf für
Alleinerziehende nicht durch eine pauschale Leistung gedeckt wird, verstößt nicht gegen
die Verfassung, insbesondere nicht gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG.
Bei der Bemessung des Bedarfs von alleinerziehenden Personen ist von Verfassungs
wegen allein entscheidend, dass für jede individuelle hilfebedürftige Person das
Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ausreichend erfasst
wird. Im allgemeinen Grundsicherungsrecht (§ 21 Abs. 3 SGB II; § 30 Abs. 3 SGB
XII) berücksichtigt der pauschale Mehrbedarf für Alleinerziehende typisierend den
höheren Aufwand der alleinerziehenden Person für die Versorgung und Pflege bzw.
Erziehung der Kinder etwa wegen geringerer Beweglichkeit und zusätzlicher
Aufwendungen für Kontaktpflege oder Inanspruchnahme von Dienstleistungen Dritter
(vgl. zur Vorgängervorschrift § 23 Abs. 2 BSHG BT-Drs. 10/3079, S. 5; vgl. auch
BSG, Urteil vom 23. August 2012 - B 4 AS 167/11 R - juris Rn. 14 ff.). Entgegen der
Kritik, diese Leistung sei wegen des gesellschaftlichen Wandels überholt, ist die
sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, für alleinerziehende Personen im SGB
II und im SGB XII einen pauschalen Mehrbedarf vorzusehen, verfassungsrechtlich
anzuerkennen (BSG, Urteil vom 28. März 2013 - B 4 AS 12/12 R - juris Rn. 32
m.w.N.). Es bleibt aber grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen, ob er diesen Bedarf
durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012
- 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 67), also entweder durch pauschale oder - wie im
AsylbLG - durch konkret-individuelle Leistungen deckt.
Der Senat sieht in der Entscheidung des Gesetzgebers, wegen des Bedarfs bei
Alleinerziehung einerseits pauschale Geldleistungen zu erbringen und andererseits im
AsylbLG eine konkret-individuelle Bedarfsdeckung vorzusehen, auch keinen Verstoß
gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Was die Bemessung des
existentiellen Bedarfs betrifft, spielen andere Grundrechte als Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m.
Art. 20 Abs. 1 GG keine Rolle (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09,
1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris Rn. 145, 133). Soweit bei der Art und Weise der
Bedarfsdeckung (Gewährung von pauschalen Leistungen oder von Geld-, Sach- oder
Dienstleistung nach dem konkret-individuellen Bedarf) hinreichende Sachgründe für
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Dienstleistung nach dem konkret-individuellen Bedarf) hinreichende Sachgründe für
eine Ungleichbehandlung von Personen des gleichen oder verschiedener
Sicherungssysteme vorliegen müssen (so Frerichs in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, §
3 AsylbLG Rn. 49), ist die konkret-individuelle Bedarfsdeckung bei
Grundleistungsbeziehern nach § 3 AsylbLG wegen des voraussichtlich nur
vorübergehenden Aufenthalts in Deutschland und der noch nicht eingetretenen
Leistungsprivilegierung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in aller Regel - wie auch hier -
gerechtfertigt. Die Leistungsgewährung ist im Leistungsrecht nach dem AsylbLG in
einem weitaus größerem Maß abhängig vom konkreten Bedarf des
Leistungsberechtigten (BSG, Urteil vom 28. März 2013 - B 4 AS 12/12 R - juris Rn. 32
zu den Unterschieden der Leistungssysteme des SGB II und des AsylbLG).
Aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin andere Leistungen - wie von der
Antragstellerin vorgetragen den Mehrbedarf für Schwangere entsprechend § 30 Abs. 2
SGB XII - gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht nach dem konkret-individuellen
Bedarf der hilfesuchenden Person sondern als pauschale Geldleistung erbringt, folgt
ebenfalls kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, insbesondere nicht unter dem Aspekt,
dass eine tatsächliche Verwaltungspraxis sowohl aufgrund des Gleichheitssatzes (Art. 3
Abs. 1 GG) als auch des im Rechtsstaatsprinzip verankerten Gebots des
Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) zu einer Selbstbindung der Verwaltung führen
kann (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006 - 1 BvR 1160/03 - juris Rn.
65; BVerwG, Urteil vom 25. September 2013 - 6 C 13/12 21 - juris Rn. 55 m.w.N).
Ein Anspruch (auf Gleichbehandlung) kann sich insoweit nur auf die von einer solchen
Verwaltungspraxis betroffene Leistung beziehen, also nicht auf den hier
streitgegenständlichen Mehrbedarf für Alleinerziehende, der von der Antragsgegnerin in
aller Regel nicht als pauschale Leistung erbracht wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Teilobsiegen der
Antragstellerin wegen der Leistungsgewährung nach § 3 AsylbLG unter
Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 6. August
2014 - L 8 SO 58/14 B -).
Der Antrag der Antragsteller auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) war
abzulehnen. Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO erhält ein
Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten
der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag
PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Nach diesen Maßgaben haben
die Bewilligungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der PKH-Antragstellung am 11.
August 2014 nicht (mehr) vorgelegen. Dies gilt ohnehin für das Begehren des
Antragstellers (s.o.). Aber auch der Beschwerde der Antragstellerin waren seit Abgabe
des (Teil-) Anerkenntnisses durch die Antragsgegnerin (Schriftsatz vom 1. August
2014) betreffend die Leistungsbewilligung nach § 3 AsylbLG entsprechend der
Regelbedarfsstufe 1 nach den obigen Ausführungen keine hinreichenden
Erfolgsaussichten mehr zuzusprechen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.