Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 08.05.2002
LSG Nsb: berufliche tätigkeit, psychiatrisches gutachten, gutachter, wahrscheinlichkeit, niedersachsen, sachverständiger, erkenntnis, schwerarbeit, pauschal, unfallversicherung
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 08.05.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 13 U 145/96
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 U 8/00
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 3. März 1997 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Der Kläger begehrt die Zahlung von Verletztenrente. Streitig ist, ob er an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der
Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in
extremer Rumpfbeugehaltung (Berufskrankheit – BK – Nr. 2108 der Anlage – Anl. – zur Berufskrankheiten-Verordnung
– BKV) und an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Halswirbelsäule (HWS) durch langjähriges Tragen
schwerer Lasten auf der Schulter (BK Nr. 2109 der Anl. zur BKV) leidet.
Der 1940 geborene Kläger war, nachdem er den erlernten Beruf als Maler aus gesundheitlichen Gründen aufgeben
musste, zunächst als gewerblicher Mitarbeiter bei der D., und danach von 1970 bis 1989 als Möbelauslieferungsfahrer
tätig. In beiden Beschäftigungen musste er schwere Lasten heben und tragen (Schreiben der Beigeladenen vom 23.
August 1994, Stellungnahme des Technischen Aufsichtsbeamten Dr. E. vom 23. Februar 1995). Anschließend
arbeitete er bis 1994 als Gruppenleiter in einer Behindertenwerkstatt. Im Jahr 1992 teilte der Kläger der Beigeladenen
mit, er habe die Tätigkeit als Möbelauslieferungsfahrer wegen eines schweren Wirbelsäulenschadens aufgeben
müssen, und beantrage "auf Anraten meiner Krankenkasse” die Anerkennung als BK (Schreiben vom 8. November
1992). Die Beigeladene veranlasste zunächst die Untersuchung des Klägers im Krankenhaus F. und holte das
Gutachten des Oberarztes Dr. G. vom 21. Oktober 1993 ein. Dr. G. diagnostizierte Bandscheibenvorfälle im oberen
Bereich der Brustwirbelsäule, ein Halswirbelsäulensyndrom und ein lokales Lumbalsyndrom bei schwerster
Diskusdegeneration L5/S1, die er auf die Tätigkeit des Klägers als Möbelauslieferungsfahrer zurückführte, und
schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 50 vom Hundert (vH). Die Beigeladene gab den Vorgang an die
Beklagte ab, da nach ihrer Meinung auch die berufliche Tätigkeit des Klägers in der Behindertenwerkstatt
gesundheitlich gefährdend sei. Dieses bestätigten die Technischen Aufsichtsbeamten der Beklagten Dr. H. und Dipl.-
Ing. I. in ihrer Stellungnahme vom 7. Februar 1994. Daraufhin erfolgte die Untersuchung des Klägers im
Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus – Forschungsprojekt berufsbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule –
J ... Die elektromyographische und elektroneurographische Untersuchung des Klägers ergab regelrechte Befunde
(elektrophysiologisches Gutachten des Dr. K. vom 4. August 1995). Neurologische Ausfallerscheinungen bestanden
nicht (neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. L. vom 27. September 1995). Prof. Dr. M. vermochte im
unfallchirurgischen Gutachten vom 27. November 1995 eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS nicht
festzustellen. Radiologische Zeichen einer Bandscheibendegeneration seien die Verschmälerung des
Bandscheibenraumes mit sekundären Veränderungen. Zwar habe die röntgenologische Untersuchung eine
Osteochondrose des Bewegungssegments L5/S1 ergeben; es bestehe jedoch klinisch kein Korrelat als Hinweis auf
eine bandscheibenbedingte Erkrankung. Daraufhin lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab (Bescheid vom
3. Januar 1996) und wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 11. April 1996).
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die noch im selben Monat erhobene Klage durch Urteil vom 3. März 1997
abgewiesen.
Gegen das ihm am 6. Mai 1997 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Juni 1997 Berufung eingelegt. Er hebt hervor,
beruflich wirbelsäulenbelastend tätig gewesen zu sein. Da andere für den Schaden der Wirbelsäule ursächliche
Faktoren jedenfalls nicht deutlich vorliegen würden, sei sein Begehren begründet.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des SG Hannover vom 3. März 1997 und den Bescheid der Beklagten vom 3. Januar 1996 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 11. April 1996 aufzuheben,
2. bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS und HWS als BKen Nrn. 2108 und 2109 der Anl. zur BKV
festzustellen,
3. die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 vH der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 3. März 1997 zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat die Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel zum Verfahren beigeladen (Beschluss vom 27.
September 2000). Sie hält die beruflichen Voraussetzungen der BK Nr. 2109 nicht für gegeben und hat die
Stellungnahme ihres Technischen Aufsichtsbeamten Dr. N. vom 24. Oktober 2000 vorgelegt.
Auf Antrag des Klägers ist der Chirurg/Unfallchirurg Dr. O. gutachtlich gehört worden. Wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 29. Januar 2002 verwiesen.
Der Senat hat die Beteiligten durch Verfügung des Berichterstatters vom 13. März 2002 darauf hingewiesen, dass
gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden werden solle. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme
gegeben worden.
Dem Senat haben neben den Prozessakten und den Verwaltungsakten der Beklagten die Rentenakten des Klägers
bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und die Schwerbehinderten-Akten des Klägers beim
Versorgungsamt P. vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen der Einzelheiten
des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen
Erfolg. Der Senat hält das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für
erforderlich. Die Entscheidung konnte deshalb durch Beschluss ergehen (§ 153 Abs. 4 SGG).
Das SG hat die – hinsichtlich des Feststellungsantrags gemäß § 55 Abs. 1 Ziffer 2 SGG – zulässige Klage zu Recht
abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Denn das Vorliegen der BKen Nrn. 2108 und
2109 der Anl. zur BKV kann nicht mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen
Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Deshalb hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente
(§§ 580 f., 551 der auf den vorliegenden Sachverhalt noch anzuwendenden – vgl. Artikel 36 Unfallversicherungs-
Einordnungsgesetz, § 212 Sozialgesetzbuch VII – Reichsversicherungsordnung).
Aufgrund des Ergebnisses der sorgfältigen Untersuchung im Berufsgenossenschaftlichen Krankenhaus J., das durch
den auf Antrag des Klägers gehörten Sachverständigen Dr. O. bestätigt worden ist, ist schon die medizinische
Voraussetzung der BKen Nrn. 2108 und 2109, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS und HWS, nicht
bewiesen. Diese Erkrankung muss aber voll, dh. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein,
weil nur die bandscheibenbedingte Erkrankung als BK bezeichnet ist und das in der Allgemeinbevölkerung am
Weitesten verbreitete und untersuchte Krankheitsbild "Kreuzschmerz” vielfach nicht bandscheibenbedingt ist, sondern
auf anderen Faktoren beruht. In Übereinstimmung mit dem medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand (vgl. zB.
Schröter, Der Orthopäde 2001, 100, 109 f.) haben Gutachter und Sachverständiger hervorgehoben, dass radiologische
Zeichen einer Bandscheibendegeneration nicht genügen, um eine bandscheibenbedingte Erkrankung diagnostizieren
zu können. Dr. O. hat auf die aus epidemiologischen Untersuchungen gewonnene Erkenntnis (vgl. zB. Meyer, Studie
zur Kernspintomographie: Prolaps auch bei Gesunden, Deutsches Ärzteblatt 91 – 1994 -, Heft 34/35, C – 1444)
hingewiesen, dass in der Bevölkerung asymptomatische Bandscheibenvorfälle weit verbreitet sind. Daraus folgt
gleichzeitig, dass selbst dann, wenn über Rückenschmerzen geklagt wird, nicht automatisch die Krankheitsrelevanz
eines Bandscheibenbildbefundes belegt ist. So wird auch in aktuellen Publikationen vor einer Überinterpretation von
Befunden bildgebender Untersuchungsverfahren gewarnt (Heger, Z.Orthop. 2000, 0A3 ff.; Sandweg/Riedel/Finkbeiner,
Nervenheilkunde 2000, 91, 77 ff.). Vielmehr muss die Schmerzsymptomatik dem Bildbefund entsprechen. Deshalb
müssen, um eine bandscheibenbedingte Erkrankung annehmen zu können, zusätzlich zum Bildbefund passende
klinische Befunde hinzutreten. Dass ist jedoch weder nach den Befunderhebungen durch Prof. Dr. M. noch nach den
durch Dr. O. gewonnenen Untersuchungsergebnissen der Fall. Im Bereich der LWS waren ein klinisch
segmentprovozierbarer Schmerz, eine vermehrte Muskelbetonung iS. der Verspannung und ein durch Bewegung
ausgelöstes Schmerzphänomen nicht vorhanden. Auch bei der klinischen Untersuchung der HWS bestand kein
reproduzierbares neurologisches Defizit in Sensibilität und Motorik.
Des Weiteren ist zweifelhaft, ob der Kläger die beruflichen Voraussetzungen der BK Nr. 2109 erfüllt. Diese BK erfasst
langjähriges Tragen schwerer Lasten von 50 kg und mehr auf der Schulter. Dr. N. hat in seiner – vom Senat (als von
besonderer Sachkunde getragenen, qualifizierten Beteiligtenvortrag) zu würdigenden (BSG SozR Nr. 68 zu § 128
SGG) – Stellungnahme hervorgehoben, dass Möbelauslieferungsfahrer solche Lasten nur gelegentlich tragen. Dieses
stimmt mit der Kenntnis des Senats aus anderen Verfahren überein (Urteil vom 24. Juli 2001 – L 6 U 216/00 – unter
Hinweis auf den Bericht von Weber/Dankwardt, August 1997, über die Belastungen der Mitarbeiter in
Möbeltransportbetrieben beim Heben und Tragen von Lasten).
Doch selbst wenn zu Gunsten des Klägers davon ausgegangen wird, dass er sowohl die medizinischen
Voraussetzungen als auch die beruflichen Voraussetzungen der BKen Nrn. 2108 und 2109 erfüllt, ist kein für ihn
günstiges Ergebnis die Folge. Entgegen der von der Berufung im Schriftsatz vom 30. April 2002 geäußerten
Auffassung kann allein aus der Tatsache, dass der Kläger beruflich körperlich schwer gearbeitet hat, nicht auf einen
wahrscheinlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang einer bandscheibenbedingten Erkrankung mit dieser
Tätigkeit geschlossen werden (BSG, Urteil vom 18. November 1997 – 2 RU 48/96 = SGb 1999, 39 mit Anm. von
Ricke). Denn es gibt keinen gesicherten Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen der beruflichen Voraussetzungen die
bandscheibenbedingte Erkrankung beruflich verursacht ist. Der Grund dafür liegt darin, dass bandscheibenbedingte
Erkrankungen auf einem Bündel von Ursachen ("multifaktorielles Geschehen”) beruhen. Ganz wesentlich ist der
natürliche Alterungs- und Degenerationsprozess. Grundlage für die Bezeichnung bandscheibenbedingter Erkrankungen
als BKen ist die medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnis gewesen, dass "Schwerarbeit” zu einer deutlichen
Vorverlagerung von Bandscheibendegeneration um ungefähr 10 Jahre in die jüngeren Altersgruppen führt (BR-Drs.
773/92, S. 8 f.). Entscheidend ist danach, dass zwingend ein altersvorauseilender Verschleiß der LWS und HWS
vorliegen muss, um einen Zusammenhang mit beruflicher "Schwerarbeit” wahrscheinlich machen zu können, dh. die
HWS und die LWS der "schwerarbeitenden” Versicherten müssen altersvorauseilend verändert sein. Das ist jedoch
bei dem Kläger weder nach den Ausführungen des Gutachters noch nach der Wertung des Sachverständigen der Fall.
Vielmehr zeigen sich sowohl an LWS als auch an HWS vollkommen alters- und zeitgerechte Veränderungen.
Folgerichtig haben Gutachter und Sachverständiger das Vorliegen der BKen verneint. Bei diesem Sachverhalt fehlt
somit dem erkennenden Senat eine Grundlage, um sich mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit die Überzeugung zu
bilden, dass die berufliche Tätigkeit des Klägers wesentlich für das Beschwerdebild gewesen ist.
Die Ausführungen des von der Beigeladenen beauftragten Gutachters Dr. G. führen zu keinem anderen Ergebnis. Zum
einen hat der Gutachter allein aufgrund des Röntgenbefundes bandscheibenbedingte Erkrankungen angenommen,
obwohl auch er wesentliche klinische Befunde nicht zu erheben vermochte. Zum anderen – das ist entscheidend – hat
er seine Wertung nicht begründet, sondern pauschal, ohne auf den medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand
einzugehen, die Veränderungen der gesamten Wirbelsäule des Klägers auf die berufliche Tätigkeit zurückgeführt. Im
Ergebnis hat er sich damit des – wie oben ausgeführt – nicht zulässigen Anscheinsbeweises bedient.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.