Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 05.06.2003

LSG Nsb: wiederaufnahme der behandlung, psychische störung, psychotherapeutische behandlung, ärztliche behandlung, distorsion, gutachter, kausalzusammenhang, arbeitsunfall, wahrscheinlichkeit, befund

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 05.06.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hildesheim S 11 U 93/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 U 230/00
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialge-richts Hildesheim vom 4. Mai 2000 aufgehoben. Die
Klage wird abgewiesen. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu
erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob bei der Klägerin als Folgen eines Arbeitsunfalls vom 20. Dezember 1984 ein chronisches
Schmerzsyndrom sowie eine Magen- und Lebererkrankung nach Medikamenteneinnahme besteht und sie deshalb
Anspruch auf Verletzten-rente hat.
Die im Mai 1943 geborene Klägerin ist seit September 1976 als Verwaltungsan-gestellte im Technischen Hilfswerk
beschäftigt. Am 20. Dezember 1984 knickte sie auf dem Weg zu ihrer Dienststelle in C. gegen 7.10 Uhr mit dem
rechten Fuß um. Der gegen 18.20 Uhr aufgesuchte Durchgangsarzt PD Dr. D. fand eine leichte Schwellung und einen
deutlichen Druckschmerz unterhalb des rechten Außenknöchels und lateral an der Fußwurzel sowie einen
Bänderdehnungs-schmerz bei Supination. Eine Bandinstabilität und knöcherne Verletzungen be-standen nicht. Er
diagnostizierte eine Distorsion des rechten oberen Sprungge-lenkes (Bericht vom 21. Dezember 1984). Am 25.
Februar 1985 stellte sich die Klägerin erneut bei PD Dr. D. vor. Es bestand eine geringfügige Schwellung, aber
weiterhin kein Anzeichen für eine Bandinstabilität oder eine knöcherne Verlet-zung. PD Dr. D. äußerte den Verdacht
auf eine Kapselläsion. Wegen fortbeste-hender Schmerzen suchte die Klägerin am 9. April 1985 erneut PD Dr. D. auf.
Das Sprunggelenk wies eine isolierte Schwellung, aber eine freie Beweglichkeit auf. Die Knochenszintigrafie vom 11.
April 1985 ergab keinen pathologischen Befund. Nach Einschätzung des PD Dr. D. waren die Angaben der Klägerin
zwar glaubhaft, die Genese der Beschwerden aber unklar. Er verordnete die Ruhig-stellung mit Unterschenkelgehgips.
PD. Dr. D. entließ die Klägerin am 12. Juni 1985 aus der ambulanten Behandlung, schätzte die Minderung der
Erwerbsfä-higkeit (MdE ) für 6 Monate mit 10 v.H. ein und hielt eine dauerhafte MdE für un-wahrscheinlich. Die
Klägerin war ab 18. Juni 1985 arbeitsfähig (Berichte vom 25. Februar 1985, 9. April 1985 und 5. Juni 1985,
Stellungnahme vom 18. Juni 1985).
Am 3. März 1994 suchte die Klägerin Dr. E. wegen anhaltender Schmerzbe-schwerden im Sprunggelenksbereich auf.
PD Dr. D. fand am 16. März 1994 keine Schwellung, kein Ödem und eine freie Beweglichkeit im oberen und unteren
Sprunggelenk. Die erneute Röntgenuntersuchung ergab keine nennenswerte In-stabilität, auch eine MRT-
Untersuchung zeigte regelrechte Verhältnisse. Ein pa-thologisches Substrat für die Beschwerden fand sich nicht
(Bericht des PD Dr. D. vom 28. März 1994). Während der ambulanten Untersuchung am 7. Oktober 1994 durch Prof.
Dr. F. (Gutachten vom 25. Dezember 1994) wies die Klägerin einen freien und flüssigen Barfußgang auf. Es fand sich
kein Ödem, die Beweg-lichkeit des oberen und unteren Sprunggelenkes war frei, die Fußsohlen seiten-gleich
beschwielt. Die Gutachter wiesen darauf hin, dass die wiederholten Unter-suchungen keine Hinweise auf knöcherne
oder ligamentäre Verletzungen erge-ben hätten. Nach ihrer Einschätzung seien bei der Distorsion die in Gelenkkapsel
und Bändern lokalisierten afferenten Nervenfasern, die eine geringere Reißfestig-keit als kollagene Fasern hätten,
rupturiert. Dadurch sei der Muskeleigenreflex des Musculii peronaeii unterbrochen worden und es sei zu einer
funktionellen In-stabilität des rechten oberen Sprunggelenkes gekommen. Auch ohne eine me-chanische Instabilität
läge ein sog. Giving-way-Phänomen vor. Die MdE schätzten sie mit 10 v.H. ein. Daraufhin erkannte die Beklagte mit
Bescheid vom 6. Februar 1995 als Unfallfolge eine funktionelle antero-laterale Bandinstabilität als Zustand nach
Distorsion des rechten Sprunggelenkes an. Die Gewährung von Verletzten-rente lehnte sie ab.
Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, dass die Vielzahl der Behandlungsmaßnahmen zu keiner
Besserung ihrer Schmerzen geführt habe. Die wegen der anhaltenden Beschwerden am 6. Februar 1995 durchgeführte
Arthroskopie ergab unauffällige Knorpelverhältnisse (Bericht vom 22. März 1995, histologischer Bericht vom 8.
Februar 1995, OP-Bericht vom 6. Februar 1995. Eine neurologische und elektroneurographische Untersuchung ergab
keine Hin-weise für Nervenläsionen (Bericht des Nervenarztes Dr. G. vom 29. Juni 1995). Die Klägerin wurde zur
Schmerzbehandlung an Prof Dr. H., Technische Univer-sität I., überstellt. Es fand sich nach Auswertung der
Röntgenaufnahmen kein pathologischer Befund, eine Instabilität wurde verneint, die Beweglichkeit im obe-ren und
unteren Sprunggelenk war nahezu normal (Bericht vom 18. September 1995). Danach unterzog sich die Klägerin acht
schmerztherapeutischen Behand-lungen bei dem Facharzt für Anästhesiologie J. (Bericht vom 9. September 1995).
Vom 2. November 1995 bis 3. Juni 1996 stand die Klägerin in der schmerzthera-peutischen Behandlung bei Prof. Dr.
K., Städtisches Krankenhaus C ... Prof. Dr. L. kamen nach Auswertung der inzwischen beigezogenen medizinischen
Unterlagen zu keiner geänderten Auffassung hinsichtlich der Höhe der MdE (Stellungnahme vom 10. September
1996).
Im Rahmen der ambulanten Untersuchung durch Prof Dr. M. (Gutachten vom 6. Februar 1997) gab die Klägerin an, die
Schmerzintensität habe nach der kran-kengymnastischen Behandlung nach Juli 1994 zugenommen. Nach ihrem
Wech-sel des Arbeitsplatzes von Hildesheim nach Hannover im Juli 1996 leide sie unter erheblichen
Konzentrationsstörungen. Die Gutachter fanden lediglich eine nur geringe Umfangvermehrung der Knöchelregion und
nur eine geringe Einschrän-kung der Beweglichkeit von 5 Grad gegenüber links. Sie diagnostizierten ein chronisches
Schmerzsyndrom und führten dieses auf den Unfall vom Dezember 1984 zurück. Dagegen seien die
Magenbeschwerden unfallunabhängig. Prof. Dr. N. konnten in ihrem Gutachten vom 9. Juli 1997 die Beschwerden der
Klägerin nicht objektivieren. Das obere Sprunggelenk weise keinen vermehrten Verschleiß und keine vermehrte
Strahlentransparenz der knöchernen Strukturen als Anhalt für eine Inaktivitätsosteoporose auf und die
Fußsohlenbeschwielung sei seitengleich. Die Leberwerte seien zwar seit Juli 1996 deutlich erhöht. Dies könne durch
eine Medikamenteneinnahme verursacht sein, diese lasse sich aber nicht mit den nicht zu objektivierenden
Beschwerden erklären. Ein Kausalzu-sammenhang sei nur anzunehmen, wenn sich im Rahmen einer psychosomati-
schen Begutachtung herausstellen sollte, dass der Unfall derart gravierend gewe-sen sei, dass der Klägerin deren
Bewältigung nicht gelungen sei und deshalb zur Einnahme der Schmerzmedikamente geführt habe (Stellungnahme
der Gutachter vom 11. November 1997).
Im Januar 1998 begann die Klägerin eine psychotherapeutische Behandlung bei Dr. O. und berichtete dort über eine
Sprunggelenksfraktur rechts mit anschlie-ßenden Operationen und langjähriger Morphiumtherapie. Dr. O. teilte mit,
dass sich aufgrund einer anhaltenden Schmerzstörung eine chronifizierte depressive Symptomatik entwickelt habe,
die zu einer erheblichen Einschränkung der Leis-tungsfähigkeit geführt habe (Bericht der Dr. O. in der Beiakte der BfA
vom 12. Januar 1998). Prof. Dr. P. bejahten unter Bezugnahme auf das chirurgische Gutachten des Prof. Dr. Q. u.a.
den Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den Beschwerden (Gutachten vom 16. März 1998). Sie
bewerteten die MdE aus psychosomatischer Sicht seit 25. Dezember 1994 mit 15 vH. Die mit der Be-rufstätigkeit
zusammenhängenden äußeren Umstände (früher Arbeitsbeginn, lan-ge Anfahrtswege) verstärkten das
Schmerzempfinden der Klägerin. Der Neurologe und Psychiater Dr. R. widersprach in seiner Stellungnahme vom 4.
April 1998 den Ausführungen der Gutachter Prof. Dr. S ... Bei dem Unfall vom 20. Dezember 1984 habe es sich um
ein Bagatelltrauma gehandelt, das zu keiner objektivierbaren Verletzung geführt habe. Die Annahme Prof. Dr. Q. u.a.,
dass es zur Zerreißung sensibler Schmerzfasern gekommen sei, sei hypothetisch und nicht zu belegen. Da diese
peripheren Nerven eine ausgezeichnete Heilungsten-denz hätten, würde deren Zerreißung auch nicht die Entwicklung
eines chroni-schen Schmerzsyndroms erklären. Prof. Dr. T. biete keine hinreichende Erklärung für das
Schmerzsyndrom, die lange Latenzzeit von ca. 9 Jahren zwischen dem Unfall und der ab ca. 1994 aufgenommenen
Behandlung sowie für die Progre-dienz der Beschwerden. Es fänden sich in der Akte keine Hinweise, dass in den 9
Jahren überhaupt eine Schmerzsymptomatik bestanden habe. Stattdessen sei die spätere Entwicklung durch die
aktuellen familiären und beruflichen Belastun-gen erklärbar. Daraufhin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 2. Juni 1998 den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 15. Juni 1998 Klage erhoben. Sie hat vorgetra-gen, sie habe starke Schmerzen im
rechten Knöchel, die sie nur mit Schmerz-mitteln (MST 160 mg 3 mal tgl. und drei mal zwei Tabletten Paracetamol)
ertra-gen könne. Von 1985 bis 1994 sei sie wegen der noch erträglichen Schmerzen und Schwellungen ständig in
ärztlicher Behandlung bei Dres. U. gewesen. Das ständige Schmerzsyndrom sei während der krankengymnastischen
Behandlung ab 22. November 1994 entstanden. Die Klägerin hat den Entlassungsbericht der V.-Klinik vom 10.
November 1986 vorgelegt. Das Sozialgericht (SG) hat ein Vorerkrankungsverzeichnis der DAK vom 5. November
1998, einen Befundbericht des Dr. W. vom 17. Februar 1999 und dessen Behandlungsunterlagen, den Bericht der
Krankengymnastin X. vom Juli 1999, einen Bericht des Dr. Y. vom 3. August 1999 sowie einen Bericht des PD Dr. D.
vom 16. August 1999 eingeholt. Danach hat Prof. Dr. T. eine ergänzende Stellungnahme vom 8. März 2000
abgegeben. Mit Urteil vom 4. Mai 2000 hat das SG Hildesheim die angefochtenen Bescheide der Beklagten
abgeändert und festgestellt, dass als weitere Folge des Arbeitsun-falls vom 20. Dezember 1984 ein chronisches
Schmerzsyndrom im Bereich des rechten Sprunggelenkes besteht. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die
Beklagte verurteilt, der Klägerin 1/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Kammer sei davon
überzeugt, dass das bei der Klägerin bestehende Schmerzsyndrom wesentlich durch die Unfallfolgen und die deshalb
verordnete krankengymnastische Behandlung im November 1994 verursacht worden sei. Hieran ändere auch die
übereinstimmende Einschätzung der Gut-achter nichts, dass sich kein objektivierbarer Verletzungsbefund im rechten
Sprunggelenk finden lasse. Die von Prof. Dr. Q. mitgeteilte funktionelle Bandin-stabilität sei von der Beklagten auch
anerkannt worden. Dagegen liege bei der Klägerin nach Einschätzung aller Gutachter keine MdE in
rentenberechtigendem Grade vor. Auch seien die nervliche Belastungsschwäche und die Magen- und Leberprobleme
nicht auf den Unfall, sondern auf die übrigen nicht unerheblichen psychischen Probleme der Klägerin im privaten
Bereich zurückzuführen.
Gegen das jeweils am 22. Mai 2000 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. Juni 2000 und die Klägerin am 19. Juni
2000 Berufung eingelegt.
Die Klägerin hält das Urteil hinsichtlich der Feststellung des chronischen Schmerzsyndroms als Unfallfolge für
zutreffend und beruft sich insoweit auf die Gutachten des Prof. Dr. Z. und T ... Allerdings sei beiden Gutachten auch
zu ent-nehmen, dass sie wegen der unfallbedingten Schmerzen auf eine erhebliche Me-dikamenteneinnahme
angewiesen sei, die zu Schädigungen des Magens und der Leber geführt habe.
Die Klägerin beantragt,
1. die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildes-heim vom 4. Mai 2000 zurückzuweisen,
2. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 4. Mai 2000 und den Be-scheid der Beklagten vom 6. Februar 1995 in
der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 2. Juni 1998 zu ändern,
3. festzustellen, dass Magen- und Leberbeschwerden Folgen des Arbeits-unfalls vom 20. Dezember 1984 sind,
4. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 4. Mai 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
2. die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildes-heim vom 4. Mai 2000 zurückzuweisen.
Sie wendet sich gegen die Feststellung eines chronischen Schmerzsyndroms als Unfallfolge und stützt sich insoweit
auf die Stellungnahme des Dr. R ...
Der Senat hat die medizinischen Unterlagen der BfA und die Schwerbehinderten-Akte des Versorgungsamtes
Braunschweig beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verwaltungs-akten der Beklagten und die
Gerichtsakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die statthaften Berufungen beider Beteiligten sind zulässig. Die Berufung der Be-klagten ist auch begründet. Das SG
Hildesheim hat zu Unrecht festgestellt, dass bei der Klägerin als Folge des Unfalls vom 20. Dezember 1984 ein
chronisches Schmerzsyndrom besteht. Dagegen ist die Berufung der Klägerin unbegründet. Das SG Hildesheim hat
die Klage hinsichtlich der Feststellung einer Magen- und Lebererkrankung als Unfallfolge und die Klage auf Zahlung
von Verletztenrente zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung weiterer Unfallfolgen aus An-lass des Ereignisses vom 20.
Dezember 1984 und sie hat deshalb auch keinen Anspruch auf Verletztenrente nach den auf diesen Sachverhalt noch
anwendba-ren §§ 581 ff. Reichsversicherungsordnung (RVO; vgl. Art. 36 Unfallversiche-rungseinordnungsgesetz, §
212 Sozialgesetzbuch - SGB - VII).
1. Unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Dr. R. sowie vor allem der Gutachten des Prof. Dr. AB. u.a. und
des Prof. Dr. T. u.a. lässt sich nicht mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen hinreichenden
Wahrscheinlichkeit feststellen, dass das chronische Schmerzsyndrom der Klägerin Folge des Unfalls vom 20.
Dezember 1984 ist. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass nach der geltenden ärztlich-
wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusam-menhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich
einer anderen Verursachung ausscheiden. Beim vernünftigen Abwägen aller Umstände müssen die auf eine
unfallbedingte Verursachung hinweisenden Faktoren so stark überwie-gen, dass hierauf die Entscheidung gestützt
werden kann (vgl. Schönberger/ Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl. 1998, S. 117). Nicht
ausreichend ist die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs. Erhebliche Zweifel an dem Kausalzusammenhang
zwischen den von der Klä-gerin angegebenen Beschwerden und dem Unfall vom 20. Dezember 1984 bestehen hier
aus folgenden Gründen:
a) Die Entwicklung einer unfallbedingten chronischen Schmerzerkrankung setzt einen unfallbedingten Erstkörper-
Schaden, d.h. eine strukturelle Ver-letzung, voraus, worauf Dr. R. zutreffend hingewiesen hat. Seine Einschät-zung ist
auch deshalb überzeugend, da sie im Einklang mit den vom Senat zu berücksichtigenden unfallmedizinischen
Erfahrungsgrundsätzen steht. Nach diesen setzt eine außergewöhnliche Schmerzreaktion einen mor-phologischen
Unfallschaden voraus (vgl. Schönberger/ Mehrtens/ Valen-tin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl. 1998, S. 238;
Ludolph in Kursbuch der ärztlichen Begutachtung 12. Aufl. 2001, Abschnitt Vi-1.3.8, S. 5). Ein solcher struktureller
Körperschaden fehlt im vorliegenden Fall. Der Unfall vom 20. Dezember 1984 hat lediglich zu einer folgenlos aus-
heilenden Distorsion des rechten Sprunggelenkes geführt. Ein struktureller Schaden ist bei diesem Umknickvorgang
nicht entstanden. Knöcherne o-der ligamentäre Verletzungen des Sprunggelenkes sind bei den zahlrei-chen
medizinischen Untersuchungen sowohl zeitnah nach dem Unfall wie auch während der seit 1994 aufgenommenen
Behandlung nicht festgestellt worden (Berichte des PD Dr. D. vom 20. Dezember 1984, 25. Februar 1985, 9. April
1985 und 16. März 1994). Hierauf hat auch Prof. Dr. Q. u.a. in seinem Gutachten zutreffend hingewiesen. Auch eine
Bandinstabilität bestand zeitnah nach dem Unfall nicht (Berichte des PD Dr. D. vom 20. Dezember 1984, 25. Februar
1985 und 16. März 1994), ebenso wenig fanden sich Hinweise auf eine Nervenläsion oder neurologische Auffällig-
keiten (Bericht des Dr. G. vom 29. Juni 1995; Bericht des Neurologen BB. vom 31. Oktober 1996). Die von Prof. Dr.
Q. u.a. vertretene Auffassung, dass bei dem Umknickvor-gang die afferenten Nervenfasern rupturiert und dadurch der
Muskeleigen-reflex der Musculii peronaeii unterbrochen worden sei und eine funktionelle Instabilität des rechten
oberen Sprunggelenk herbeigeführt habe, ist durch diese Befunderhebungen der Ärzte und die Stellungnahme des Dr.
R. wi-derlegt worden. Eine Instabilität des Sprunggelenkes ist wiederholt ausge-schlossen worden (so z.B. Bericht des
PD Dr. D. vom 16. März 1994, Be-richt des Prof. Dr. H. vom 31. August 1995). Zudem hat Dr. R. darauf hin-gewiesen,
dass die peripheren Nervenfasern eine ausgezeichnete Hei-lungstendenz haben und die Entwicklung einer
langjährigen chronischen Schmerzerkrankung nicht erklären. Infolgedessen haben PD Dr. D. (Bericht vom 16. März
1994) und Prof. Dr. CB. nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass die Entstehung (Gene-se) der Beschwerden unklar
sei, dass es kein pathologisches Substrat für die Beschwerden gebe und diese nicht zu objektivieren seien. Selbst
Prof. Dr. T., der den Kausalzusammenhang des Schmerzsyndroms mit dem Unfall bejaht, hat keinen objektiven
Organbefund erheben können. Dass dieser - wie von ihm vorgeschlagen - von den Ärzten anderer Fach-disziplinen zu
klären sei, ist nicht nachvollziehbar (seine Stellungnahme vom 8. März 2000). Zum einen hat lediglich Prof Dr. DB.
eine Schädigung im Bereich des rechten Sprunggelenks mitgeteilt (Rupturierung der affe-renten Nervenfasern), die in
die Beurteilung des neurologischen Gebietes - und damit das des Prof Dr. T. fällt -, zum anderen haben die Ärzte der
Neurologie, Orthopädie und Chirurgie gerade keine Gesundheitsstörung festgestellt. Hieran ändert auch der während
der Arthroskopie im Februar 1996 diagnostizierte Narbenstrang im lateralen Gelenkwinkel nichts. Keiner der die
Klägerin behandelnden oder begutachtenden Ärzte hat hier einen Zusammenhang mit dem Unfall gesehen. Den
Gutachtern Prof. Dr. Z. u.a., Prof. Dr. AB. u.a., Prof. Dr. T., Dr. R. lagen dieser Operationsbericht und der
histologische Befund vor und sie haben in Kenntnis dieser Befunde keinen Zusammenhang mit dem Unfall
angenommen. Mit den fehlenden strukturellen Verletzungsbefunden im Einklang steht die Tatsache, dass die Ärzte
über die Jahre hinweg keine Schonungszeichen feststellen konnten. Die Gutachter haben vielmehr stets eine
seitengleiche Beschwielung der Fußsohlen mitgeteilt (Gutachten Prof. Dr. Q. u.a.; Gut-achten Prof. Dr. AB. u.a.), und
auch die Beweglichkeit war zumindest bis Juni 1997 uneingeschränkt frei bzw. nur geringgradig eingeschränkt (Be-
richte PD Dr. D. vom 16. März 1994, 22. März 1995; Gutachten Prof. Dr. Q. u.a.; Bericht des Prof. Dr. H. vom 31.
August 1995; Gutachten des Prof. Dr. Z. u.a.), was belegt, dass die Klägerin über Jahre hinweg ihr rechtes Bein
normal benutzt und dies nicht etwa - was bei einer schweren Ver-letzung zu erwarten gewesen wäre - geschont hat.
Der Einschätzung des Prof. Dr. T., die chronische Schmerzkrankheit auch ohne entsprechenden objektivierbaren
Verletzungsbefund als Unfallfolge anzuerkennen, vermochte sich der Senat nicht anzuschließen. Dem stehen die
Stellungnahme des Dr. R. und - wie bereits ausgeführt - die unfallmedi-zinischen Erfahrungsgrundsätze entgegen, die
einen strukturellen Ge-sundheitsschaden für die Annahme einer unfallbedingten Schmerzkrank-heit fordern. Auch
wenn entsprechend den Ausführungen des Prof Dr. Lamprecht in der medizinischen Literatur die Auffassung vertreten
wird, dass es für das Vorliegen einer Schmerzerkrankung keiner objektivierbaren Organschädigung bedarf, so kann
diese Erkrankung im Recht der gesetz-lichen Unfallversicherung nicht einem Arbeitsunfall zugerechnet werden mit der
Folge, dass der Unfallversicherungsträger entschädigungspflichtig wird, obwohl dieser Arbeitsunfall gerade keinen
strukturellen Körperschaden zur Folge hatte.
Eine Entschädigung der Schmerzerkrankung wäre in dieser Situation dann denkbar, wenn der Unfall so dramatisch
und schwerwiegend gewesen ist, dass er geeignet wäre, eine chronische - psychosomatisch begründete -
Schmerzerkrankung hervorzurufen (Stellungnahme des Dr. R.). Dies ist aber bei dem Umknickvorgang vom 20.
Dezember 1984 nicht der Fall.
b) Weiterhin spricht der lange zeitliche Abstand von fast 9 Jahren zwischen der Beendigung der zeitnahen Behandlung
der Distorsion im Juni 1985 und der Wiederaufnahme der Behandlung im März 1994 gegen einen
Kausalzusammenhang zwischen den Beschwerden und der Distorsion. Nach Auswertung der umfangreichen
medizinischen Unterlagen lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin seit dem Unfall im Dezember 1984 un-
unterbrochen unter Schmerzen im Sprunggelenk gelitten und deshalb in regelmäßiger Behandlung gestanden hat.
Nach Eintritt der Arbeitsfähigkeit im Juni 1985 hat die Klägerin - abgesehen von diversen Unterbrechungen wegen
anderer zahlreicher Erkrankungen - durchgehend gearbeitet und war erst wieder im Februar 1995 - nach 10 Jahren -
wegen des Sprungge-lenkes arbeitsunfähig (Vorerkrankungsverzeichnis der DAK vom 5. Novem-ber 1998). Dr. W. hat
eine ärztliche Behandlung wegen des Sprunggelenks erst für die Zeit ab 1996 beschrieben. Dr. Y. behandelte die
Klägerin erst ab 29. Oktober 1987, d.h. 2 Jahre nach dem Unfall, PD Dr. D. zunächst bis Juni 1985 und dann erst
wieder ab 1992. In diesem Jahr – 1992 - war die Klägerin wegen langanhaltender Beschwerden im Bereich der
Halswirbel-säule und der Schultern in ärztlicher Behandlung, die Beschwerden von Seiten des rechten
Sprunggelenkes sind hier nicht erwähnt (Bericht des Orthopäden Dr. EB. vom 14. Dezember 1992,
Schwerbehinderten-Akte).
Infolgedessen war das Urteil des SG Hildesheim vom 4. Mai 2000 insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen.
2. Die Berufung der Klägerin hat demgegenüber keinen Erfolg. Es lässt sich nicht mit der erforderlichen hinreichenden
Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die Klägerin unfallbedingt an einer Magen- und Lebererkran-kung leidet. Diesen
Zusammenhang hat Prof. Dr. Z. u.a., der die Klägerin schmerztherapeutisch lange behandelt hat, ausdrücklich
verneint. Diesem Kausalzusammenhang steht bereits entgegen, dass - wie bereits un-ter 1 a) ausgeführt - nicht
hinreichend wahrscheinlich ist, dass die Schmerzer-krankung der Klägerin durch den Umknickvorgang vom Dezember
1984 ver-ursacht worden ist. Damit steht auch die Einnahme der Medikamente - die wegen der Schmerzangaben der
Klägerin erfolgt und auf die sie die Magen-erkrankung zurückführt - nicht im Zusammenhang mit dem Unfall. Im
Übrigen ist den umfangreichen medizinischen Unterlagen zu entnehmen, dass die Klägerin bereits seit langen Jahren -
vor Beginn der Einnahme von Morphium und Paracetamol - unter einer Magenerkrankung leidet. Dr. W. hat die
Klägerin bereits seit März 1988 wiederholt wegen erheblicher Magenbe-schwerden behandelt. In seinem Bericht vom
17. Februar 1999 ist auch ver-merkt, dass bei der Klägerin seit 1972 ein nervöses Magenleiden bekannt sei.
Weiterhin lässt sich auch nicht feststellen, dass eine nervliche Belastungs-schwäche der Klägerin Folge der
Schmerzerkrankung des Unfalls vom 20. Dezember 1984 ist. Zum einen ist dieser Umknickvorgang zu banal und
deshalb nicht geeignet ist, um eine psychische Störung zu verursachen (Stel-lungnahme Dr. R.). Zum anderen sind
nach den eigenen Angaben der Kläge-rin ihre psychischen Probleme - wie Müdigkeit und Konzen-trationsschwäche -
erst mit der Einnahme der Medikamente im Jahre 1996 eingetreten. Nach der Auskunft der DAK aber hat die Klägerin
bereits in den 80er Jahren wiederholt unter psychisch-physischen Erschöpfungszuständen gelitten, die jeweils mit
stationären Heilverfahren verbunden waren. Zudem finden sich in der Le-bensgeschichte der Klägerin seit Beginn der
90er Jahre genügend private und berufliche Lebensereignisse (u.a. diverse Operationen im November 1991, Frühjahr
1993 sowie März 1997, familiäre und Arbeitsplatzprobleme im Juli 1994 (vgl. Entlassungsbericht des Städtischen
Klinikums C. vom 21. Juli 1994); Wechsel des Arbeitsplatzes von C. nach FB. 1996 und erneuter Wech-sel nach GB.
1997; lange Anfahrtszeiten zum Arbeitsplatz), die eine psy-chisch-physische Erschöpfung hinreichend erklären
(Stellungnahme des Dr. R.; Entlassungsbericht der Kurklinik HB. vom 27. Oktober 1997).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Es liegt kein Grund vor, die Revision zuzulassen ( § 160 Abs 2 SGG).