Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 31.10.2000

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 31.10.2000 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 18 Vs 43/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5/9 SB 203/97
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Kläger nach den Maßstäben des Schwerbe-hindertengesetzes (SchwbG) als
Schwerbehinderter anzuerkennen ist.
Bei dem am 01.06.1951 geborenen Kläger hatte das Versorgungsamt (VA) mit dem Be-scheid vom 13. Juni 1989 auf
der Basis des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch Ver-waltungsverfahren (SGB X) mit Wirkung vom 22. Februar
1989 einen Grad der Behinde-rung (GdB) von 30 festgestellt aufgrund folgender Behinderungsbezeichnung:
1. Funktionsminderung des rechten Kniegelenks (verwaltungsinterne Bewer- tung: 20), 2. postthrombotisches
Syndrom (verwaltungsinterne Bewertung: 20), 3. Nierensteinleiden (verwaltungsinterne Bewertung: 10), 4. umformende
Wirbelsäulenveränderungen (verwaltungsinterne Bewertung: 10).
Auf den am 16. Februar 1996 eingegangenen Neufeststellungsantrag holte das VA Be-fundberichte des Arztes für
Allgemeinmedizin H. vom 11. März 1996 (mit weiteren ärztli-chen Unterlagen) sowie der Fachärztin für Hals-Nasen-
Ohrenkrankheiten Frau I. vom 25. März 1996 ein. Mit Bescheid vom 25. Juni 1996 lehnte es eine Änderung des bishe-
rigen Bescheides ab, da die Voraussetzungen des § 48 SGB X nicht vorgelegen hätten. Der auf den
Entlassungsbericht der Orthopäden J. und Frau K. vom 23. September 1996 gestützte Widerspruch blieb erfolglos
(Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 1997).
Mit der am 23. Januar 1997 eingegangenen Klage hat der Kläger eine neurologische und orthopädische Begutachtung
angeregt. Der Klage hat er Arztbriefe der Neurochirur-gen L. (vom 10. Dezember 1996) und M. (vom 28. Oktober 1996)
sowie ein Attest des Arztes für Allgemeinmedizin H. vom 9. Mai 1997 beigefügt.
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat mit Urteil vom 29. Juli 1997 die Klage abgewiesen. In den
Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des §
48 Abs 1 Satz 1 SGB X hätten nicht vorgelegen. Nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) 1996 seien ein-
seitige Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk mittleren Grades mit einem GdB von 20 zu bewerten. Mitgeteilte
Leistenschmerzen rechts ohne neurologisches Substrat be-dingten angesichts der beschwerdefreien Intervalle keinen
GdB und könnten sich nicht erhöhend auf die bereits anerkannte Behinderung Nr. 2 auswirken. Der Morbus-Meniere
sei als Behinderung im Sinne des SchwbG nicht anzunehmen, da es sich um einen einmaligen Vorfall aus dem Jahr
1994 gehandelt habe.
Das am 18. August 1997 zugestellte Urteil greift der Kläger mit der am 3. September 1997 eingegangenen Berufung
an. Er hat sich auf Verschlimmerungen im orthopädi-schen Bereich gestützt, die er durch eine Bescheinigung des H.
vom 9. Mai 1997 sowie ein Attest des Orthopäden N. vom 26. Januar 1998 und Arztbriefe des Radiologen O. vom 13.
Mai 1998 und des Internisten P. vom 23. März 2000 belegt sieht.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des SG Hannover vom 29. Juli 1997 sowie den Bescheid vom 25. Juni 1996 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 8. Januar 1997 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verpflichten, mit Wirkung vom 1. Februar 1996 einen GdB von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Das Landessozialgericht Niedersachsen hat Befundberichte des Arztes für Allgemein-medizin H. vom 23. Februar
1998 mit weiteren ärztlichen Unterlagen sowie des Arztes für Allgemeinmedizin Q. vom 16. Mai 2000 eingeholt.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehindertenakten des VA
Hannover (Az.: 31 121 01-5437 7) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt, § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Entscheidungsgründe:
Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden, § 124 Abs 2
SGG.
Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Der GdB des Klägers ist mit 30 zutreffend festgestellt.
Behinderung im Rechtssinne ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden, son-dern zumindest für sechs
Monate anhaltenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen
Zustand beruht, § 3 Abs 1 SchwbG. Der GdB ist nach in § 30 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen
Maßstäben zu bestimmen, § 3 Abs 3 SchwbG. Das bedeutet, dass alle körperlichen o-der geistigen
Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmer-zen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen
einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, § 128 Abs 1 Satz 1 SGG, hat das
Gericht alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und entsprechend § 287 Zivilprozessord-nung (ZPO) mit
ärztlicher Hilfe selbständig zu bewerten. Liegen mehrere Funktionsbe-einträchtigungen vor, ist nach § 4 Abs 1 Satz 1
SchwbG das Vorliegen einer Behinde-rung als Gesamtzustand festzustellen (BSGE 81, 50; BSGE 82, 176).
Insoweit haben sich der Beklagte und das SG an die Maßstäbe der rechtsnormähnli-chen (BSGE 72, 285; E 75, 176)
AHP gehalten. Der GdB ist mit ärztlicher Unterstützung nach natürlichen, wirklichkeitsorientierten und funktionalen
Gegebenheiten im Einzelfall zu bestimmen. Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB mit Rücksicht auf alle Funktionsbe-
einträchtigungen dürfen die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Re-chenmethoden sind für die Bildung
eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer
Gesamtheit unter Be-rücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander, § 4 Abs 3 S. 1 SchwbG. Dabei
führen leichte Gesundheitsstörungen, die einen GdB von lediglich 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des
Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Ge-samtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann
nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbe-
einträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine we-sentliche Zunahme des
Ausmaßes der Behinderung zu schließen (AHP S. 35).
Zutreffend hat das SG die Funktionsminderung des rechten Kniegelenks mit einem Teilwert von 20 in
Übereinstimmung mit dem Beklagten eingeschätzt (AHP S. 151). Be-wegungseinschränkungen im Kniegelenk
geringen Grades einseitig sind mit einem Wert von 0 bis 10 einzustufen. Ausgeprägte Knorpelschäden der
Kniegelenke mit anhalten-den Reizerscheinungen sind, soweit sie einseitig auftreten und ohne Bewegungsein-
schränkung sich darstellen, mit einem Wert von 10 bis 30, mit Bewegungseinschrän-kung mit einem Wert von 20 bis
40 zu bewerten (AHP 151, 152). Eine geringe Bewe-gungseinschränkung ist zuletzt in dem MDK-Gutachten des R.
vom 22. Juli 1997 mit einem Ausmaß von Streckung/Beugung von 0-0-110 (vgl AHP S. 15) belegt. Die Mag-
netresonanztomographie des rechten Kniegelenks durch O. vom 13. Mai 1998 hat einen schwererwiegenden Befund
nicht erbracht. Trotz Knorpelverschmächtigung wird der Knorpel als intakt beurteilt. Zwar besteht eine
Gelenksarthrose im Bereich der ober-schenkelzugewandten Kniescheibe mit Beeinträchtigung des Knorpelgewebes,
jedoch sind die übrigen Kniegelenksstrukturen im Wesentlichen unauffällig dargestellt. Der ausführliche Arztbrief des
Internisten P. vom 23. März 2000 enthält bezüglich des rech-ten Kniegelenks keine negativen Befundmitteilungen.
Angesichts dieses Befundbildes ist der GdB von 20 für diese Beeinträchtigung als Teilwert nicht zu beanstanden.
Dies gilt auch für das postthrombotische Syndrom, das mit einem Wert von 20 zutref-fend eingestuft ist (AHP S. 91).
Das MDK-Untersuchungsgutachten des S. vom 22. Juli 1997 weist aus, dass zu diesem Zeitpunkt Beschwerden
wegen der Beinvenenthrombo-se nicht bestanden. Der Arztbrief des Dermatologen T. vom 27. Juni 1997 berichtet
zwar anamnestisch von den rechten Unterschenkel betreffenden Schmerzangaben des Klä-gers. Bei der durch die
Untersuchung durch Herrn T. festgestellten guten Rekanalisie-rung im Unterschenkelbereich kann von erheblicher
Ödembildung, häufig rezidivieren-den Entzündungen ein- oder beidseitig (Teilwert 20 bis 30) oder gar von chronischen
rezidivierenden Geschwüren, je nach Ausdehnung und Häufigkeit einschließlich arthro-genen Stauungssyndroms
(Teilwert 30 bis 50) nicht die Rede sein. Etwas anderes folgt nicht aus der in dem Arztbrief des Internisten U. vom 25.
September 1997 mitgeteilten Perianalvenenthrombose, denn diese war akut zu behandeln und stellt eine dauerhafte
Behinderung nicht dar.
Weder der Internist P. noch der Arzt für Allgemeinmedizin Q. haben Befunde erhoben, die wesentliche Beschwerden
oder Funktionseinschränkungen in Zusammenhang mit dem Nierensteinleiden belegen. Demgemäß ist dieses mit dem
anerkannten Teilwert von 10 zutreffend bewertet (AHP S. 105).
Zutreffend ist auch die Einschätzung des Beklagten, dass allenfalls ein schmerzhafter Fingergelenkverschleiß dem
Befundbericht des Q. vom 16. Mai 2000 entnommen wer-den kann. Dieser ist mit einem Teilwert ebenfalls lediglich in
Höhe von 10 bewertbar, da es sich weder um eine Versteifung noch gar um einen Verlust von Fingern handelt (AHP
S. 145).
Die in dem Entlassungsbericht der Ärzte V. vom 23. September 1996 angesprochenen tiefsitzenden LWS-
Beschwerden sind angesichts des dort erhobenen Befundes nicht zu bewerten. Denn die Vorbeuge war mit normalem
Ausmaß möglich, Wiederaufrichtungs-schmerzen klagte der Kläger nicht. Sonstige Befunde sind auch in dem
Gutachten des R. vom 22. Juli 1997 nicht erhoben. Gleiches gilt für die Meniere-Krankheit (AHP S. 75). Der Kläger
hat gegenüber R. von nur seltenen Beschwerden berichtet; dies rechtfertigte einen Teilwert allenfalls in Höhe von 10.
Angesichts der vorzunehmenden Gesamtschau lässt sich ein höherer GdB als 30 bei den festgestellten Teilwerten
von jeweils 20 für das Kniegelenksleiden und das post-thrombotische Syndrom sowie jeweils 10 für das
Nierensteinleiden, die Wirbelsäulen-veränderung und die Beeinträchtigung der Finger nicht rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG.