Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 14.02.2006

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 14.02.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 48 AS 886/05 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 9 AS 19/06 ER
Der Beschluss des Sozialgerichtes Hannover vom 20. Dezember 2005 wird aufgehoben.
Die Beschwerdegegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Beschwerdeführer ab dem 10.
November 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.
Die Beschwerdegegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeführers zu tragen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten darum, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II) hat.
Der am 12. Oktober 1987 geborene Beschwerdeführer besucht die 12. Klasse des Gymnasiums B. in Hannover. Bis
zum 15. Juli 2005 lebte er mit seinen Eltern in einer Wohnung.
Sowohl die Eltern des Beschwerdeführers als auch er selbst beziehen seit dem 01. Januar 2005 Leistungen nach dem
SGB II von der Beschwerdegegnerin. Diese forderte die Eltern des Beschwerdeführers unter dem 24. Juni 2005 auf,
ihre Unterkunftskosten zu senken. Daraufhin bezogen die Eltern des Beschwerdeführers eine kleinere Wohnung. Ab
dem 01. August 2005 bezog auch der Beschwerdeführer eine eigene Wohnung und beantragte bei der
Beschwerdegegnerin, ihm nunmehr Leistungen nach dem SGB II für seinen eigenen Haushalt zu bewilligen. Dem kam
die Beschwerdegegnerin nur teilweise nach. Hiergegen hatte der Beschwerdeführer bereits ein einstweiliges
Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hannover betrieben. Dieses hatte weitergehende Ansprüche des
Beschwerdeführers mit Beschluss vom 06. Oktober 2005 verneint (Az.: S 48 AS 646/05 ER). Der Beschluss war
rechtskräftig geworden.
Im September 2005 beantragte der Beschwerdeführer erneut bei der Beschwerdegegnerin, ihm Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren. Dies lehnte die Beschwerdegegnerin mit Bescheid vom 20. Oktober
2005 ab. Zur Begründung wies sie darauf hin, der Beschwerdeführer gehe einer Ausbildung nach, die grundsätzlich
nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) förderungsfähig sei. Damit seien Ansprüche nach dem SGB
II ausgeschlossen.
Am 10. November 2005 beantragte der Beschwerdeführer erneut den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur
Sicherung seines Lebensunterhalts bei dem SG. Dieses lehnte den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit
Beschluss vom 20. Dezember 2005 ab. Zur Begründung wies das SG unter Auseinandersetzung mit Rechtsprechung
und Literatur darauf hin, nach seiner Auffassung stehe dem Beschwerdeführer in der Zeit, in der er weiter die Schule
besuche, nur dann ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zu, wenn er bei seinen Eltern lebe.
Gegen den ihm am 22. Dezember 2005 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 04. Januar 2006
Beschwerde eingelegt.
Er ist der Auffassung, ihm stünden keine Leistungen nach dem Ausbildungsförderungsrecht zu. Daher müssten ihm
Leistungen nach dem SGB II gewährt werden. Der Beschwerdeführer hat den Leistungen nach dem BAföG
versagenden Bescheid der Region Hannover vom 17. Januar 2006 vorgelegt.
Der Beschwerdeführer beantragt sinngemäß,
die Beschwerdegegnerin unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichtes Hannover vom 20. Dezember 2005
im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in
gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Beschluss.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie auf den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beschwerdegegnerin sowie auf den
ebenfalls beigezogenen Vorgang des Sozialgerichts Hannover zum Aktenzeichen S 48 AS 646/05 ER Bezug
genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
II.
Die zulässige Beschwerde ist auch begründet.
Das SG hat voraussichtlich zu Unrecht entschieden, dass dem Beschwerdeführer keine Ansprüche auf Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zustehen. Der Bescheid der Beschwerdegegnerin vom 20.
Oktober 2005 ist voraussichtlich rechtswidrig.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Voraussetzung
für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d.h. die
Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) und ein Anordnungsanspruch (d.h. die
hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht
werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO -).
Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine
Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw.
Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch
und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache
offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den
Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der
Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In
der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht
gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn
etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer
Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers
umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die
Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05). Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch
auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen
(Bundesverfassungsgericht, a. a. O.). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte
Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die
tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a.
O., Rdnrn. 16 b, 16 c).
Insoweit ist das Vorliegen eines Anordnungsgrunds im Falle des Beschwerdeführers ohne weiteres zu bejahen, da
diesem nach seinem Vortrag, der von der Beschwerdegegnerin auch nicht bestritten wird, keinerlei Mittel zur Deckung
seines täglichen Bedarfs zur Verfügung stehen.
Der Beschwerdeführer hat auch das Vorliegen eines Anordnungsanspruches glaubhaft gemacht. Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts erhalten nach § 19 SGB II erwerbsfähige Hilfebedürftige. Erwerbsfähig ist nach § 8
SGB II, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außer Stande ist, unter den üblichen
Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Insoweit liegen
dem Senat keinerlei Erkenntnisse darüber vor, dass der Beschwerdeführer die Voraussetzungen dieser Vorschrift
nicht erfüllt.
Der Beschwerdeführer ist auch hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 SGB II. Danach ist
hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln vor allem nicht
durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern
kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen erhält.
Der Beschwerdeführer hat nach dem dem Senat bekannt gewordenen Sachverhalt keine Möglichkeiten, seinen
Lebensunterhalt anderweitig zu sichern. Er kann insbesondere keine Unterhaltsansprüche gegen seine Eltern geltend
machen, weil diese ebenfalls laufend Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II beziehen, woraus sich ergibt,
dass sie nicht in der Lage sind, dem Beschwerdeführer Unterhalt zu leisten.
Der Hilfebedürftigkeit des Beschwerdeführers steht im Gegensatz zur Annahme des SG und der Beschwerdegegnerin
nicht § 7 Abs. 5 i.V.m. § 7 Abs. 6 SGB II entgegen. Nach diesen Vorschriften haben Auszubildende, deren
Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) dem Grunde nach förderungsfähig ist,
keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Diese Grundregel des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB
II findet indessen keine Anwendung auf Auszubildende, die aufgrund von § 2 Abs. 1 a des BAföG keinen Anspruch
auf Ausbildungsförderung haben.
Die von dem Beschwerdeführer betriebene Ausbildung ist indessen nicht "dem Grunde nach" förderungsfähig im Sinne
des BAföG. Zwar ergibt sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 1 BAföG zunächst, dass für den Besuch von weiterführenden
allgemein bildenden Schulen, wie hier des Gymnasiums, Ausbildungsförderung geleistet wird. Nach § 2 Abs. 1 a
BAföG wird für den Besuch derartiger allgemein bildender Schulen in Fällen, in denen der Auszubildende nicht bei
seinen Eltern wohnt, jedoch nur Ausbildungsförderung geleistet, wenn die weiteren in § 2 Abs. 1 a Nr. 1 – 3 BAföG
genannten tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Dies ist in der Person des Beschwerdeführers indessen
nicht der Fall. Dieser ist weder verheiratet, noch wäre ein Gymnasium von der Wohnung seiner Eltern nicht erreichbar,
noch lebt er mit einem Kind zusammen. Allein dies war auch Anlass für die Region Hannover, ihm mit Bescheid vom
17. Januar 2006 unter ausdrücklichem Hinweis auf § 2 Abs. 1a BAföG die Gewährung von BAföG-Leistungen zu
versagen. Damit ist die von ihm betriebene Ausbildung schon "dem Grunde nach" nach dem BAföG nicht
förderungsfähig.
Die Regelung von § 2 Abs. 1 a BAföG muss vor dem Hintergrund der Grundentscheidung des Gesetzgebers gesehen
werden, wonach die Finanzierung von Schulausbildungen grundsätzlich eine Sache der Eltern ist. Sie soll in der Regel
gerade nicht durch Leistungen des BAföG gewährleistet werden. Daher ist ausbildungsförderungsrechtlich auch
unumstritten, dass Schüler, die nicht bei ihren Eltern leben und die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 a BAföG nicht
erfüllen, schon "dem Grunde nach" nicht förderungsfähig sind (vgl. Rothe/Blanke, BAföG Stand 2003, § 2 Rdnr. 24, §
12 Anm. 7.1; Ramsauer/Stallbaum/Sternal, Bundesausbildungsförderungsgesetz, 4. Aufl., 2005, § 2 Rdnr. 47).
Diese Grundsätze haben bereits unter Geltung der Vorläufervorschrift von § 7 Abs. 5 und 6 SGB II, nämlich § 26
BSHG, dazu geführt, dass im Sozialhilferecht angenommen worden ist, dass nicht im Haushalt der Eltern lebende
Schüler allgemeinbildender Schulen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Sozialhilferecht haben (vgl.
hierzu Brühl in LPK-BSHG 6. Aufl., 2003, § 26 Rdnr. 32; OVG Lüneburg, Beschluss vom 30. November 1989, Az.: 4
M 96/89, Nds. MBI 1990, 201; Beschluss vom 12. Mai 1998, Az.: 4 M 2072/98 = FEVS 49, 24 ff). Das OVG Lüneburg
hat hierzu begründend ausgeführt, durch die Regelung in § 26 Abs. 2 Nr. 1 BSHG, die inhaltsgleich mit § 7 Abs. 6 Nr.
1 SGB II ist, sei klargestellt worden, dass die vom Normbereich dieser Vorschrift umfassten Hilfeempfänger Anspruch
auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG hätten. Die Regelung des § 26 BSHG ist vom Gesetzgeber ohne
Veränderungen sowohl in das SGB XII (vgl. dort § 22) als auch in die bereits mehrfach zitierten Regelungen des § 7
Abs. 5 und 6 SGB II übernommen worden. Dies hat der Gesetzgeber vor dem Hintergrund der bekannten
sozialhilferechtlichen Rechtsauffassungen getan. Daher spricht nach Auffassung des Senats nichts dafür, dass der
Gesetzgeber insoweit die unter dem BSHG geltende Rechtslage ändern wollte (vgl. hierzu auch Brühl in LPK-SGB
XII, § 22 Rdnr. 32). Es bleibt daher dabei, dass der Beschwerdeführer auch aus der Sicht der Grundsicherung für
Arbeitssuchende durch den Besuch des Gymnasiums keine Ausbildung betreibt, die dem Grunde nach nach dem
BAföG förderungsfähig ist, weil er die tatbestandlichen Voraussetzungen der in § 7 Abs. 6 Nr. 1 SGB II formulierten
Ausnahme vom Ausschluss zu § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II erfüllt.
Dem Beschwerdeführer ist es voraussichtlich auch nicht zumutbar, den Besuch des Gymnasiums abzubrechen, um
sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II ist Arbeit nicht zumutbar, wenn der
Ausübung der Arbeit ein wichtiger Grund entgegen steht. Unter einem wichtigen Grund ist auch der Schulbesuch an
einer allgemein bildenden, höheren Schule zu verstehen(vgl. hierzu Brühl in LPK-SGB II, § 10 Rdnr. 55; Rixen in
Eicher/Spellbrink, SGB II, § 10 Rdnr. 129 f). Insoweit hat der Senat keine Zweifel, dass der weitere Besuch des
Gymnasiums durch den Beschwerdeführer der Förderung seiner beruflichen Ausbildung dient.
Insoweit die Beschwerdegegnerin im Verwaltungsverfahren deswegen Bedenken gegen die Übernahme der
Unterkunftskosten des Beschwerdeführers hatte, weil dieser sich volljährig eine eigene Wohnung genommen hat und
nicht mehr mit seinen Eltern zusammen wohnt, wird dieser Einwand im gerichtlichen Verfahren nicht mehr geltend
gemacht. Der Senat sieht sich – auch vor dem Hintergrund der derzeit geführten Debatte im politischen Raum -
indessen veranlasst, darauf hinzuweisen, dass er keine gesetzliche Grundlage für einen derartigen Einwand erkennen
kann. Es ist – derzeit und im Zeitpunkt der Anmietung der Wohnung durch den Beschwerdeführer - keine Norm
ersichtlich, aus der sich die Verpflichtung des Beschwerdeführers zur Wohnsitznahme bei seinen Eltern ergibt.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.
Der Beschluss ist für die Beteiligten in Anwendung von § 177 SGG nicht anfechtbar.