Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 05.08.2003

LSG Nsb: somatoforme schmerzstörung, wechsel, berufsunfähigkeit, niedersachsen, persönlichkeitsstörung, ausbildung, rentenanspruch, belastung, erwerbsfähigkeit, qualitätskontrolle

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 05.08.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 1 RA 136/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 RA 53/02
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit hat.
Der 1948 geborene Kläger hat den Beruf des Elektroinstallateurs erlernt und war danach als Elektromonteur
beschäftigt. Im Jahre 1981 legte er die Meisterprüfung ab und machte sich bis 1984 selbständig. Danach war er zwei
Jahre lang als angestellter Elekt-romeister tätig. Zuletzt arbeitete er nach längerer Arbeitslosigkeit nochmals von 1992
bis September 1993 in seinem erlernten Beruf. Seitdem ist der Kläger mehr berufstätig ge-wesen. Er bezieht
Leistungen vom Arbeitsamt.
Im März 1995 stellte der Kläger einen Rentenantrag wegen bestehender Wirbelsäulen-probleme. Die Beklagte zog
einen Entlassungsbericht der Fachklinik D. vom 12. Januar 1994 bei und veranlasste dann eine Untersuchung und
Begutachtung des Klägers durch den Orthopäden Dr. E ... Nachdem dieser Sachverständige in seinem Gutachten
vom 6. Juni 1995 zu dem Ergebnis gekommen war, dass der Kläger trotz sich nachteilig auswir-kender
Veränderungen im Bereich des Bewegungs- und Stützapparates noch vollschich-tig leichte körperliche Arbeiten im
Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen und oh-ne besondere Belastung der Wirbelsäule unter Schutz vor
Nässe und Kälte verrichten könne, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. August 1995 den Rentenantrag ab.
Auf den Widerspruch des Klägers hin zog die Beklagte weitere medizinische Unterlagen bei und ließ den Kläger durch
den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. und dem Orthopäden G. untersuchen und begutachten. Nachdem diese
Sachverständigen in ihren Gutachten vom 2. August 1996 und 17. März 1997 übereinstimmend zu der Feststellung
gelangt waren, dass dem Kläger mittelschwere körperliche Arbeiten ohne Zwangshaltun-gen vollschichtig zumutbar
seien, bewilligte die Beklagte dem Kläger ein Heilverfahren, das in der Zeit vom 27. Juni bis zum Abbruch am 11. Juli
1997 in der H. durchgeführt wurde. Trotz der auch hier diagnostizierten chronischen Lumbalgien bei degenerativen
Wirbelsäulenveränderungen und einer bestehenden Spondylolisthesis hielten die Ärzte den Kläger weiterhin für fähig,
leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten zu leisten. Dennoch veranlasste die
Beklagte ein weiteres Gutachten, in dem die Neurologen und Psychiater Dres. I. unter dem 17. Oktober 1997 zu dem
Er-gebnis kamen, dass eine Leistungsfähigkeit für mittelschwere körperliche Arbeiten noch vollschichtig gegeben sei.
Das Heben und Tragen schwerer Lasten sowie Zwangshal-tungen seien jedoch nicht zumutbar. Auch seien Arbeiten
im Team nicht angezeigt. Die Beklagte machte sich diese Beurteilung des Leistungsvermögens zu eigen und wies
den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 18. März 1998 zurück. In den Gründen führte sie aus, dass der
Kläger zwar nicht mehr in seinem Hauptberuf als Elektroinstal-lateurmeister vollschichtig tätig sein könne, es bestehe
jedoch ein Restleistungsvermö-gen für aufsichtsführende Tätigkeiten in seinem Berufsbereich. Außerdem seien auch
Arbeiten als Kundenberater oder Fachverkäufer für ihn vollschichtig möglich.
Hiergegen hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Detmold erhoben, die dann an das zuständige SG Hannover
verwiesen worden ist. Zur Begründung hat er geltend ge-macht, bei der Beurteilung des ihm verbliebenen
Leistungsvermögens seien nicht alle Gesundheitsstörungen berücksichtigt und in ihrem Ausmaß nicht zutreffend
beurteilt worden. Das SG hat Befundberichte des Arztes für Physikalische und Rehabilitative Me-dizin Dr. J. vom 2.
März 2000 sowie des Orthopäden K. vom 13. März 2000 beigezogen. Es hat den Kläger dann durch den Orthopäden
Dr. L. untersuchen und begutachten las-sen, der in seinem Gutachten vom 8. August 2000 zusätzlich zu den
Veränderungen auf orthopädischem Gebiet die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörungen bei nar-zistischer
Persönlichkeitsstörung und einer Tachykardie diagnostizierte. Das Leistungs-vermögen hat er dahin gewürdigt, dass
der Kläger noch körperlich leichte Arbeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen in geschlossenen Räumen
leisten könne. Ar-beiten unter besonderen Zeitdruck oder Stress seien nicht möglich, ebenso könne er nicht auf
Gerüsten und Leitern arbeiten. Mit diesen Einschränkungen sei der Kläger je-doch vollschichtig einsetzbar. Auf Antrag
des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Arzt für Neurochirurgie Prof. Dr. M. ein weiteres
Gutachten erstattet. In seinem Gutachten vom 9. Mai 2001 hat er die bei dem Kläger festgestellten Gesund-
heitsstörungen im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates dahin gewürdigt, dass nur noch leichte Arbeiten im
Wechsel der Haltungsarten unter Schutz vor Nässe und Kälte und mit den schon von den Vorgutachtern aufgeführten
weiteren qualitativen Ein-schränkungen drei Stunden arbeitstäglich möglich seien. Das SG hat diese Feststellun-gen
zum Anlass genommen, den Kläger noch einmal orthopädisch untersuchen und be-gutachten zu lassen. In seinem
Gutachten vom 11. November 2001 ist der Arzt für Or-thopädie Dr. N. zu dem Ergebnis gekommen, dass dem Kläger
trotz der von Seiten der Wirbelsäule bedingten Einschränkungen noch vollschichtig leichte Arbeiten im regel-mäßigen
Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen, überwiegend in temperierten Räumen ganztägig zumutbar seien. Mit
Urteil vom 31. Januar 2002 hat das SG die Klage abgewiesen und in den Gründen im einzelnen ausgeführt, dass von
einem vollschichti-gen Leistungsvermögen des Klägers auszugehen sei. Insbesondere könne der Auffas-sung des
gemäß § 109 SGG gehörten Arztes Prof. Dr. M. nicht gefolgt werden, da dieser Sachverständige keine zusätzlichen
Befunde erhoben habe, die eine zeitliche Einschrän-kung des Leistungsvermögens des Klägers rechtfertigen würden.
Wenn aber von einem vollschichtigen Arbeitseinsatz auszugehen sei, bestehe ein Rentenanspruch nicht. Zwar könne
der Kläger nicht mehr im handwerklichen Bereich tätig sein. Er müsse sich aber nach dem höchstrichterlich
entwickelten Mehrstufenschema auf die Tätigkeit eines An-gestellten mit einer über zwei Jahre dauernden Ausbildung
sowie auch auf Tätigkeiten mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren verweisen lassen. Denkbar sei hier eine Tätigkeit
als technischer Sachbearbeiter, Auftragssachbearbeiter oder Reklamationssachbearbei-ter. Auch ein Arbeitseinsatz in
der Qualitätskontrolle innerhalb der Elektroindustrie sei zumutbar.
Gegen das ihm am 8. Februar 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 7. März 2002 eingelegte Berufung des
Klägers, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Er ist der Auffassung, dass eine Gesamtschau der bei ihm
bestehenden Gesundheitsstörungen und der damit verbundenen Leistungseinschränkungen nur den Schluss zulasse,
dass sein Leistungsvermögen aufgehoben sei. Unabhängig davon ist er der Auffassung, dass die bei ihm
bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf psychiatrischem Ge-biet bisher nicht hinreichend abgeklärt
seien. Auch auf orthopädischem Gebiet bestünde weiterer Aufklärungsbedarf.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 31. Januar 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 8. August 1995
in der Gestalt des Wi-derspruchsbescheides vom 18. März 1998 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Erwerbsun-fähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab
1. April 1995 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Bescheide nach wie vor für zutreffend und verweist ergän-zend auf die Gründe des
angefochtenen Urteils. Darüber hinaus ist sie der Auffassung, dass von ärztlicher Seite ein komplettes Leistungsbild
des Klägers erstellt worden sei, so dass eine weitere medizinische Sachaufklärung nicht erforderlich erscheine.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Arztes für Psychi-atrie und Psychotherapie und
Psychosomatik Dr. O., P., vom 6. März 2003. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das
vorgenannte Gutachten Bezug genom-men.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil des Vorsit-zenden ohne mündliche
Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird auf die Prozess- und
Beiakten verwiesen. Sie haben vorgelegen und sind Gegens-tand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte gemäß §§ 155 Abs. 3, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil des Vorsitzenden ohne mündliche Verhandlung
entscheiden, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfah-rensweise einverstanden erklärt haben.
Die gemäß §§ 143 f SGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig. Das
Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu bean-standen. Denn der Kläger hat
keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, und zwar weder auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
(EU)/Berufsunfähigkeit (BU) nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Recht (§§ 43, 44 Sechstes Buch
Sozialgesetz-buch –SGB VI- a.F.) noch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem seit dem 1. Januar
2001 geltenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI n.F.). Das SG hat in seinem Urteil die hier maßgeblichen Rechtsgrundlagen
des alten Rechts geprüft und rechtsfeh-lerfrei angewendet und auch den medizinischen Sachverhalt aufgeklärt und
nachvoll-ziehbar gewürdigt. Es hat sich insbesondere auch mit der Frage der Verweisbarkeit des Klägers in nicht zu
beanstandender Weise auseinander gesetzt. Nach allem ist es zu der richtigen Entscheidung gekommen, dass dem
Kläger eine Versichertenrente nicht zuge-sprochen werden kann. Es wird deshalb zur Vermeidung von
Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Urteil vom 31. Januar 2002 Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Das Ergebnis ist auch unter Geltung des neuen Rechts zutreffend, das noch hö-here Anforderungen an das Vorliegen
der Voraussetzungen für eine Rente hält.
Im Berufungsverfahren sind neue Gesichtspunkte nicht zu Tage getreten. Insbesondere haben sich in medizinischer
Hinsicht keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das dem Kläger verbliebene, und vom SG seiner Entscheidung
zugrunde gelegte Leistungsver-mögen nicht zutreffend beurteilt worden ist. Vielmehr sind die Feststellungen der im
Ver-laufe des Verwaltungsverfahrens und im erstinstanzlichen Verfahren von Amts wegen eingeholten Gutachten
bestätigt worden. Insbesondere haben sich auch auf psychiatri-schem Fachgebiet keine zusätzlichen
Einschränkungen ergeben, die eine zeitliche Ein-schränkung des Leistungsvermögens des Klägers bedingen würden.
Zwar hat der vom Senat beauftragte Sachverständige Dr. O. in seinem Gutachten nicht nur eine anhalten-de
somatoforme Schmerzstörung sowie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diag-nostiziert, sondern auch eine
leichte bis allenfalls mittelgradig ausgeprägte depressive Störung festgestellt. Er hat des weiteren aber
nachvollziehbar und überzeugend ausge-führt, dass der Kläger durch diese zusätzlich diagnostizierten
Gesundheitsstörungen nicht gehindert ist, vollschichtig und damit auch in dem von den Vorgutachtern für mög-lich
gehaltenen Umfang tätig zu sein. Diesen Schlussfolgerungen schließt sich der Senat an. Zusätzlich zu den von
orthopädischer Seite festgestellten qualitativen Leistungsein-schränkungen ist lediglich festzustellen, dass dem
Kläger Arbeiten unter besonderer psychischer Belastung, wie Arbeiten im Akkord, am Fließband und an Automaten,
nicht mehr zugemutet werden können. Entgegen der von dem Kläger geäußerten Ansicht liegt auch keine
Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Denn die fest-gestellten qualitativen Einschränkungen
ergeben sich überwiegend schon aus der Be-schränkung der Einsatzmöglichkeiten des Klägers auf leichte
Tätigkeiten.
Entgegen der Auffassung des Klägers scheint der medizinische Sachverhalt auch ge-klärt. Insbesondere sah sich der
Senat nicht gedrängt, den Sachverhalt auf orthopädi-schem Gebiet weiter aufzuklären. Abgesehen davon, dass der
Sachverständige Dr. O. die Einholung weiterer Fachgutachten, insbesondere auch auf orthopädischem Fachge-biet,
nicht für erforderlich gehalten hat, sind auch für den Senat keine Anhaltspunkte er-sichtlich, die es erforderlich
erscheinen ließen, den Kläger, der im Verlaufe dieses Ren-tenverfahrens mehrfach untersucht und begutachtet
worden ist, noch einmal einer Be-gutachtung zu unterziehen. Arztberichte, aus denen sich neue, bisher nicht
berücksich-tigte Befunde ergeben würden, liegen nicht vor. Derartige Befunde sind auch vom Kläger nicht konkret
benannt oder gar durch medizinische Feststellungen belegt worden. Bei dieser Sachlage besteht die Notwendigkeit
einer weiteren medizinischen Sachaufklärung nicht.
Nach allem hat das SG zu Recht entschieden, dass der Kläger mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen nicht
erwerbs- oder berufsunfähig ist. Nach dem für die Zeit ab 1. Januar 2001 anzuwendenden Neufassung des SGB VI
hat der Kläger erst Recht kei-nen Rentenanspruch. Denn für die Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung
und für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU (§§ 43, 240 SGB VI n.F.) müsste das zeitliche
Leistungsvermögen sogar auf weniger als 3 bzw. auf weniger als 6 Stunden pro Tag herabgesunken sein. Eine
derartige zeitliche Leistungseinschränkung hat sich jedoch – wie oben dargelegt – nach der umfangreichen
medizinischen Aufklä-rung des Sachverhalts nicht nachweisen lassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen.