Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 13.06.2003

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 13.06.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Oldenburg S 1 SB 172/00
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 SB 180/01
Die Berufung wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu
erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen seine Verurteilung, beim Kläger das Merkzeichen ”aG”
(außergewöhnliche Gehbehinderung) festzustellen.
Bei dem 1963 geborenen Kläger hatte das Versorgungsamt (VA) Oldenburg zuletzt mit Bescheid vom 5. August
1996/Widerspruchsbescheid vom 4. November 1996 folgende auf einem Arbeitsunfall beruhende Funktionsstörungen
festgestellt:
Gleichgewichtsstörungen in Form einer Stand- und Gangataxie, Störung der Feinmotorik und Tremor beider Hände mit
ausgeprägter Störung der Schreibfähigkeit, dysarthrische Sprachstörung, Fehlstellung des linken Auges mit
Doppelbildwahrnehmung beim Blick nach links und Augenmuskelschwäche, Augenzittern beiderseits in Form eines
feinschlägigen Blickrichtungsnystagmus, Lückenbildung im Schädelknochen, leichte Bewegungseinschränkung im
linken Handgelenk mit Behinderung der Unterarmdrehbeweglichkeit bei nicht ausgeheiltem Abriss des Griffelfortsatzes
der Elle, Muskelminderung am rechten Oberschenkel.
Der Grad der Behinderung (GdB) betrug 70. Darüber hinaus waren die Voraussetzungen des Merkzeichens ”G”
(erhebliche Gehbehinderung) festgestellt, während der Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens ”aG” mit den
genannten Bescheiden abgelehnt worden war.
Am 24. November 1998 wiederholte der Kläger den Antrag auf Feststellung seiner außergewöhnlichen
Gehbehinderung und machte wegen Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes einen höheren GdB geltend.
Dem Antrag war das für die Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen erstattete arbeitsmedizinische Gutachten
des Arztes für Allgemeinmedizin I. vom Februar 1997 beigefügt.
Das VA Oldenburg holte von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. J. einen Befundbericht ein und lehnte
nach versorgungsärztlicher Überprüfung den Antrag vom November 1998 ab (Bescheid vom 8. April 1999). Dabei ging
die Versorgungsverwaltung davon aus, dass sowohl der Antrag auf Feststellung eines höheren GdB wie derjenige auf
Zuerkennung des Merkzeichens ”aG” nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu prüfen seien.
Im sich anschließenden Widerspruchsverfahren lagen dem VA der Bescheid der Berufsgenossenschaft für
Fahrzeughaltungen vom 8. Dezember 1999 und das Zweite Rentengutachten vom September 1999 neben weiteren
medizinischen Gutachten vor, denen zufolge die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab 1. Juli 1999 80 v.H. betrug.
Nach Prüfung durch den Versorgungsärztlichen Dienst erließ die Versorgungsverwaltung den Teil-Abhilfebescheid
vom 19. April 2000, mit dem der GdB ab 1. Juli 1999 mit 80 festgestellt wurde, während der Widerspruch wegen des
Merkzeichens ”aG” mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2000 zurückgewiesen wurde.
Dagegen hat der Kläger am 14. Juli 2000 bei dem Sozialgericht (SG) Oldenburg Klage erhoben. Er ist der Ansicht,
dass ihm das Merkzeichen wegen der bei ihm bestehenden schwersten spastisch-ataktischen Gangstörung zustehe,
derentwegen ihm das Gehen nur mit Fortbewegungshilfen möglich sei. Strecken über 100 m könne er ohne
zusätzliche Hilfe einer zweiten Person nicht zurücklegen. Klimatische Veränderungen verstärkten die Gehstörung
weiter und machten ihm zeitweise das Gehen ganz unmöglich. Auch seine Sehstörung beeinträchtige die
Fortbewegungsfähigkeit. Zur Unterstützung seines Vorbringens hat der Kläger dem SG Bescheinigungen der
Physiotherapeutischen Praxis K. und L. und des Dr. J. vorgelegt.
Auf Anordnung des SG hat der Facharzt für Neurologie M. das Gutachten vom 3. Mai 2001 erstattet.
Im Laufe des Klageverfahrens hat der Beklagte mit Bescheid vom 16. August 2001 ab 24. November 1998 das
Merkzeichen ”B” (ständige Begleitung) festgestellt. Mit Urteil vom 23. Oktober 2001 hat das SG Oldenburg den
Bescheid vom April 1999 und den Widerspruchsbescheid vom Juni 2000 aufgehoben und den Beklagten zur
Bescheinigung des Nachteilsausgleichs ”aG” ab Antragstellung verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die beim
Kläger bestehenden Funktionsdefizite hätten laut dem physiotherapeutischen Bericht der Frau K. zur Folge, dass der
Kläger nur kurze Gehstrecken auf ebenem Boden bewältigen könne. Auf Sandwegen könne er sich ohne fremde Hilfe
kaum fortbewegen. Zusätzlich erschwerten erhebliche Gleichgewichtsstörungen die Fortbewegung des Klägers, die
ihm extreme Anstrengungen abverlangten. Auch durch Gehhilfen könne sich der Kläger keinerlei Erleichterung
verschaffen, da deren Gebrauch wegen der Ataxie der Arme und des Tremors beider Hände ausgeschlossen sei. Die
im physiotherapeutischen Bericht enthaltenen Beobachtungen seien von dem Sachverständigen M. bestätigt worden.
Bei der vom Sachverständigen festgelegten Höchststrecke von 100 m sei der Kläger außergewöhnlich gehbehindert.
Aufgrund der Befunderhebung habe die Kammer keinerlei Zweifel gehabt, dass der Schweregrad der Beeinträchtigung
beim Gehen im Falle des Klägers durchaus mit den Geherschwernissen von prothetisch versorgten
Doppelunterschenkelamputierten komparabel sei. Auch diese Vergleichsgruppe sei heranzuziehen, nicht nur die der
Querschnittgelähmten.
Gegen das ihm am 6. November 2001 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 6. Dezember 2001 Berufung eingelegt.
Gegen die außergewöhnliche Gehbehinderung des Klägers spreche, dass er nach den Feststellungen des vom SG
beauftragt gewesenen Sachverständigen in der Lage sei, ohne Begleitung und ohne Hilfsmittel Strecken zwischen 50
und 100 m zurückzulegen, außerdem seit 1997 wieder selbst Auto fahre. Die Mitteilungen im physiotherapeutischen
Bericht vom Dezember 2001, wonach der Kläger die Praxis "mal relativ gut und mal unter extremen Anstrengungen”
aufsuchen könne, bedeute, dass eine schwerwiegende Einschränkung der Fortbewegungsmöglichkeit zumindest nicht
dauernd bestehe. Für das streitige Merkzeichen komme es im Übrigen nicht auf die Bodenverhältnisse von Straßen,
Wegen und Plätzen oder andere örtliche geologische Gegebenheiten an. Der Beklagte weist auf das eigene
Vorbringen des Klägers hin, er müsse erst bei einer Distanz von mehr als 100 m von einer Hilfsperson begleitet
werden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Oldenburg vom 23. Oktober 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er stützt sich auf die für ihn günstige erstinstanzliche Entscheidung und sieht sie durch den Vortrag des Beklagten
zur Berufungsbegründung nicht in Frage gestellt.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt ihrer vorbereitenden Schriftsätze Bezug
genommen.
Dem Senat lagen außer der Prozessakte die Schwerbehinderten-Akten des VA Oldenburg vor; auch auf ihren Inhalt
wird verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist unbegründet.
Der Kläger ist außergewöhnlich gehbehindert und hat Anspruch auf das Merkzeichen "aG”.
Der Anspruch ist nicht im Wege der Neufeststellung nach § 48 SGB X zu prüfen. Bei der Ablehnung des
Merkzeichens im Jahre 1996 handelte es sich nicht um einen Dauerverwaltungsakt (BSGE 58, 27). Über den
Zeitpunkt der Bekanntgabe der ablehnenden Entscheidung hinaus waren damit keine Wirkungen verbunden, so dass
im Bescheid vom April 1999 über den Nachteilsausgleich "aG” im Wege der Erstfeststellung zu entscheiden war.
Zutreffend hat das SG in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils die Voraussetzungen des
Merkzeichens dargestellt; zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug (§ 153 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz - SGG). Mit Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe
behinderter Menschen - (SGB IX) zum 1. Juli 2001 hat sich hierzu nichts geändert.
Zu dem bevorzugten Personenkreis der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten,
Doppelunterschenkelamputierten, Hüftexartikulierten und einseitig Oberschenkelamputierten, die außerstande sind,
ein Kunstbein zu tragen oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, gehört der Kläger nicht. Der Senat folgt
dem SG in der Feststellung, dass er allerdings diesem Personenkreis gleichzustellen ist. Das Bundessozialgericht
(BSG) hat in ständiger Rechtsprechung die Gleichstellung angenommen, wenn die Gehfähigkeit des Betroffenen in
ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie der privilegierte
Personenkreis oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Das BSG hat jüngst in seiner Entscheidung vom 10.
Dezember 2002 (B 9 SB 7/01 R) klargestellt, dass die Zugangsschwelle zum Merkzeichen "aG” nicht auf das Niveau
von Querschnittsgelähmten und der bevorzugten Gliedmaßenamputierten ohne orthopädische Versorgung angehoben
ist, so dass eine außergewöhnliche Gehbehinderung nur bei nahezu Fortbewegungsunfähigen in Betracht kommen
würde. Die Gehfähigkeit muss - so das BSG in dem Urteil vom Dezember 2002 - nur so stark eingeschränkt sein,
dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Unter Hinweis darauf, dass eine in
Metern ausgedrückte Wegstrecke grundsätzlich nicht zur Feststellung des gesteigerten Energieaufwandes beim
Gehen geeignet sei, stellt das BSG darauf ab, unter welchen Bedingungen dem Betroffenen das Gehen zumutbar
noch möglich ist.
Der Kläger gehört danach zum berechtigten Personenkreis, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße
eingeschränkt ist u n d er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann wie der
bevorzugte Personenkreis. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem
Maße eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen r e g e l m ä ß i g körperlich besonders
anstrengen müssen (BSG a.a.O.). Das Gehvermögen des Klägers ist ungewöhnlich stark eingeschränkt wegen der
schwersten spastisch-ataktischen Gangstörungen, der schweren blickmotorischen Störung und erheblichen
Gleichgewichtsstörungen. Hinzu kommen Störungen der Feinmotorik und ein Tremor beider Hände, die dem Kläger
nicht erlauben, Gehhilfen zu benutzen. Die die Gehfähigkeit in außergewöhnlich hohem Maße beeinträchtigenden
Gesundheitsstörungen sind dokumentiert durch das Attest von Dr. J., den Bericht der Physiotherapeutin K. sowie das
Gutachten des Neurologen M ... Gerade das Zusammenwirken der genannten hochgradigen Gesundheitsstörungen -
die Gangstörung selbst, die Gleichgewichtsstörungen und die blickmotorische Störung, die sich sämtlich auf das
Gehvermögen auswirken - rechtfertigt hier die Annahme einer außergewöhnlich eingeschränkten Gehfähigkeit. Belegt
wird das auch dadurch, dass der Kläger sogar - wenn auch nicht regelmäßig - die Kontrolle über seinen Körper verliert
und hinfällt (vgl. seine Angaben gegenüber dem Sachverständigen M ...
Der Senat ist darüber hinaus überzeugt, dass dem Kläger eine dem bevorzugten Personenkreis vergleichbar große
körperliche Anstrengung beim Gehen abverlangt wird. Es trifft zu, dass die körperliche Anstrengung, die der Kläger
beim Gehen aufwenden muss, nicht den Verhältnissen eines Querschnittsgelähmten entspricht. Aber es ist - so hat
das SG zu Recht ausgeführt - der Kraftaufwand zumindest vergleichbar mit demjenigen, den ein
Doppelunterschenkelamputierter beim Gehen mit Prothesen normalerweise aufzubringen hat. Auch die erforderliche
große Kraftanstrengung ergibt sich aus der Komplexität des Krankheitsbildes - nämlich Gangataxie,
Gleichgewichtsstörungen und Sehstörungen -, das schon die ungewöhnlich stark eingeschränkte Gehfähigkeit
begründet hat, ohne dass es im Einzelnen darauf ankommt, welche Gehstrecke dem Kläger noch möglich ist.
Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger dauerhaft außergewöhnlich gehbehindert ist. Daran ändert nichts die
Auskunft der behandelnden Physiotherapeutin, der Kläger bewältige die 15 m vom Parkplatz zur Praxis "mal relativ
gut, mal unter extremer Anstrengung”. Aus dem Zusammenhang des Gesamtberichtes der Physiotherapeutin ergibt
sich, dass sie ersichtlich nicht von einem zeitweise guten Gehvermögen des Klägers hatte sprechen wollen, sondern
nur davon, dass nach den Verhältnissen des Klägers die von ihm aufzubringende Anstrengung beim Gehen
gelegentlich auch einmal nicht extrem hoch ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestanden nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).