Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 26.11.2002

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 26.11.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 30 SB 80/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 SB 48/01
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 zusteht.
Mit Bescheid vom 12. August 1997 stellte das Versorgungsamt (VA) Hamburg bei dem am 11. April 1933 geborenen
Kläger folgende Behinderungen fest:
1.1 koronare Herzkrankheit ( GdB von 30 ) 1.2 degeneratives Wirbelsäulenleiden ( GdB von 20 )
Der GdB beträgt 40.
Am 9. Februar 1998 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag auf Anerkennung eines GdB von mindestens
50, da die Verschlechterung seiner Herzerkrankung im Dezember 1997 eine Operation am offenen Herzen mit 7
Bypaessen in den USA erforderlich gemacht hätte. Diesen Antrag lehnte das VA Oldenburg - Außenstelle Osnabrück
– mit Bescheid vom 12. November 1998 ab, da eine wesentliche Veränderung in den gesundheitlichen Verhältnissen
des Klägers nicht eingetreten sei. Nach den aktuellen kardiologischen Befunden liege ein gutes postoperatives
Ergebnis vor. Zudem bestehe Beschwerdefreiheit in Bezug auf die Angina – Pectoris - Episoden.
Am 1. Februar 1999 hat der Kläger Untätigkeitsklage erhoben, die er nach Zurückweisung seines Widerspruchs mit
Widerspruchsbescheid vom 26. April 1999 fortführt hat. Er hat die Auffassung vertreten, dass er nach einem im
Januar 1990 erlittenen Herzinfarkt schwerbehindert sei und auch zeitlebens bleibe. Ein weiterer Herzanfall im
Dezember 1997 habe die 7-fache Bypasslegung notwendig gemacht. Auch nach der erfolgreichen Operation sei er nur
eingeschränkt belastbar. Dies belege das bei seinem Kardiologen Dr. G. im Sommer 1998 durchgeführte Belastungs-
EKG, das nach 2 Minuten bei einer Belastung mit 100 Watt wegen Erschöpfung habe abgebrochen werden müssen.
Auch seien seine bereits seit Jahren bestehenden HWS-/LWS-Beschwerden – entgegen der vom medizinischen
Berater des Beklagten vertretenen Ansicht – keine Alterserscheinungen.
Das Sozialgericht (SG) hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Ltd. Landesmedizinaldirektors i.R. Dr. H. in der
mündlichen Verhandlung als Terminssachverständigen. Mit Urteil vom 27. Februar 2001, zugestellt am 12. März 2001,
hat das SG die Klage abgewiesen.
Dagegen richtet sich die am 30. März 2001 eingegangene Berufung des Klägers, mit der er im Wesentlichen geltend
macht, dass die Berechnung des Gesamt- GdB unter Zugrundelegung der vom Beklagten festgestellten Einzel-GdB
mathematisch fehlerhaft sei. Darüber hinaus hält er an seiner Auffassung fest, dass die signifikante Verschlechterung
seines Herzleidens im 2. Halbjahr 1997 zu der Notoperation im Dezember 1997 in den USA geführt habe. Allein aus
diesem Umstand leite sich bereits die vom Beklagten bei der Neufestsetzung des GdB zu berücksichtigende
Verschlimmerung seines Leidens ab. Insoweit bezweifele er - der Kläger - den Sachverstand des
Terminssachverständigen.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des SG Hannover vom 27.Februar 2001 sowie den Bescheid des Beklagten vom 12. November 1998 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. August 1999 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verpflichten, einen GdB von mindestens 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, die Bypass-Operation habe – entgegen der Auffassung des Klägers – ausschließlich der Verbesserung
seines Gesundheitszustandes gedient bzw der Verhinderung einer Verschlechterung. Dies bestätige auch das gute
postoperative Ergebnis.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge hat die den Kläger betreffende Schwerbehindertenakte (Az. I.) des VA
Oldenburg – Außenstelle Osnabrück – vorgelegen und ist Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 124 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die gemäß § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.
Auf der Grundlage der Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 20.Oktober 1999 (Az: B 9
SB 4/98 R) zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Feststellung der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers lassen
sich auch im Berufungsverfahren die Voraussetzungen für einen höheren GdB als 40 nicht feststellen.
Rechtsgrundlage für die Neufeststellung ist § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. §§ 3, 4
Schwerbehindertengesetz (SchwbG) und § 69 SGB IX. Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem
Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Gesundheitszustand des Klägers hat sich durch die
im Dezember 1997 vorgenommene Bypass-Operation gegenüber den Verhältnissen, die der Erteilung des Bescheides
vom 12. August 1997 zugrunde lagen zwar verändert, es ist jedoch keine wesentliche Verschlechterung eingetreten.
Im Gegenteil ist mit dem Terminssachverständigen davon auszugehen, dass die Bypass-Operation im Grunde zu
einer Verbesserung der koronaren Herzkrankheit geführt hat. So hat sich die kardiale Belastbarkeit des Klägers
verbessert und ausweislich des Befundberichts des behandelnden Kardiologen Dr. G. vom 14. September 1998 eine
ergometrische Belastung mit 100 Watt über 2 Minuten erlaubt. Auch die Angina pectoris Symptomatik hat sich
zurückgebildet. Dies wird bestätigt durch die Befundberichte der behandelnden Internistin Dr. J ... So wird im
Befundbericht vom 10. Dezember 1999 festgestellt, dass keine Angina pectoris Beschwerden mehr bestehen und im
Befundbericht vom 11. Oktober 2001 wird die kardiale Situation als unverändert bezeichnet. Auf der Grundlage dieser
Befunde ist das Herzleiden nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz” 1996 (AHP) - Rdnr. 26.9 Seite 86/87 - mit einem
Einzel-GdB von allenfalls 20 zu bewerten, so dass die Festsetzung des Beklagten mit einem Einzel-GdB von 30 für
die Herzerkrankung als günstig gelten muss. Dies hat das SG zutreffend ausgeführt. Dabei verkennt der Senat nicht,
dass der Kläger ein kranker Mann ist, der unter den noch fortbestehenden Herzbeschwerden leidet. Auch hat der
Senat keine Zweifel an der Schwere der beim Kläger in den USA vorgenommenen Bypass-Operation schon im
Hinblick auf deren Lebensgefährlichkeit. Doch ist nach den AHP, die von der Verwaltung und den Gerichten im
Interesse gleichmäßiger Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (BSGE 72,285 und
75,176), für die Bemessung des GdB weniger die Art einer Herzerkrankung maßgeblich als die je nach dem
vorliegenden Stadium des Leidens unterschiedliche Leistungseinbuße. Die danach maßgebliche
Leistungsbeeinträchtigung wird nach der großen Operation von den behandelnden Ärzten in Übereinstimmung mit dem
Terminssachverständigen aber eher geringer (günstiger) eingeschätzt.
Nach den AHP ist auch das Wirbelsäulenleiden des Klägers mit einem Einzel-GdB von 20 korrekt bewertet, da sich
dem Befundbericht von Herrn K. vom 27. August 2001 keine weitergehende Bewegungseinschränkung entnehmen
lässt. Aus der erstmals erwähnten Funktionseinschränkung der Hüftgelenke ergibt sich noch keine auf Dauer
feststellbare Behinderung.
Soweit der Kläger die Bildung des Gesamt-GdB rügt, weist der Senat daraufhin, dass bei der Ermittlung des Gesamt-
GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen die Einzelwerte nicht addiert werden dürfen.
Nach dem Grundsatzurteil des BSG (Urteil vom 15. März 1979; BSGE 48, 82) stellen mathematische Formeln für die
Bildung des Gesamt-GdB ein untaugliches Instrument dar. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen
Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
zueinander (AHP 1996 Rdnr. 19, Seite 33). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der
Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren
Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und wieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also
wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der
Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Um die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer
Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander beurteilen zu können, muss aus
der ärztlichen Gesamtschau beachtet werden, dass die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander
unterschiedlich sein können. Die Auswirkungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene
Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich aber auch auf eine
andere besonders nachteilig auswirken. Die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen können sich auch
überschneiden oder werden durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung gar nicht verstärkt. Zusätzliche leichte
Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des
Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann
nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten
Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme
des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (AHP 1996, S. 34, 35; ebenso AHP 1983 S. 27/28).
Nach diesen Kriterien ist der Gesamt-GdB beim Kläger mit 40 festzusetzen. Führend ist die Herzerkrankung mit
einem Teil-GdB von 30, der sich durch den für die Wirbelsäulenbeschwerden vergebenden Einzel-GdB von 20 auf 40
erhöhen läßt. Damit sind die Auswirkungen des orthopädischen Status auf die kardial bedingte Leistungsminderung
hinreichend berücksichtigt. Dabei kommt es zu einer Überschneidung der Funktionsbeeinträchtigungen, da der
Herzschaden bereits die gesamte Leistungsfähigkeit des Klägers einschränkt, so dass sich das Wirbelsäulenleiden
nur noch mäßig auswirkt. Mit einem Gesamt-GdB von 40 steht der Kläger einem Behinderten gleich, dessen
Leistungsfähigkeit aufgrund einer Herzerkrankung bereits bei mittlerer Belastung, wie etwa zügigem Gehen,
beeinträchtigt ist. Die Funktionsstörungen des Klägers in ihrer Gesamtheit so zu bewerten, scheint angemessen und
ausreichend, während dieser Gesamtstatus nicht zu vergleichen wäre mit einer Herzerkrankung mit
Leistungsbeeinträchtigung bei alltäglicher leichter Belastung, wie z.B. spazieren gehen, die mit einem GdB von
mindestens 50 bewertet wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Es besteht kein Anlaß, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).