Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 19.06.2002

LSG Nsb: polizei, bedingter vorsatz, schuss, rechtswidrigkeit, explosion, angriff, gefährdung, geschoss, zigarette, wahrscheinlichkeit

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 19.06.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 18 VG 45/93
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 10/9 VG 5/98 ZVW
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. Januar 1995 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über Ansprüche des Klägers nach dem Opferentschädi-gungsgesetz (OEG).
Der 1969 geborene Kläger nahm in der Sylvesternacht 1991/1992 zusammen mit etwa 60 weiteren Personen an einer
Feier teil, die in einem Tennisheim veran-staltet wurde. Um Mitternacht begaben sich mehrere Festteilnehmer ins
Freie. Dabei bildeten sich mindestens zwei Menschengruppen. Die eine Menschen-gruppe (Gruppe 1) hielt sich auf
einer Straße in unmittelbarer Nähe zu dem Ein-gangstor des Geländes des Tennisheims auf. Die andere Gruppe
(Gruppe 2) befand sich in etwa 15 m Entfernung von der Gruppe 1 auf einem unbefestigten Weg, der im rechten
Winkel zu der Straße verlief. Die beiden Gruppen waren durch eine dazwischen liegende Weidefläche getrennt. Im
Rahmen des Abbren-nens von Sylvesterfeuerwerk bewarfen sich die beiden genannten Personen-gruppen gegenseitig
mit Knallkörpern. Von den Mitgliedern der Gruppe 2 wurden auch Abschussgeräte zum Verschießen von
Signalmunition verwendet. Hiermit wurden Leuchtraketen und auch Pyro-Knallgeschosse P 15 mm verschossen. Aus
der Gruppe 2 heraus wurden auch Leuchtraketen in Richtung der Gruppe 1 verschossen, zunächst über die Köpfe der
Gruppe 1 hinweg, später auch in Kör-perhöhe.
Nachdem dem Kläger von einem Mitglied der Gruppe 2 Knallkörper nicht näher geklärter Art ausgehändigt worden
waren, begab er sich in die Nähe der Grup-pe 1 und warf von dort aus die gezündeten Knallkörper auf die Weidefläche.
Nach seinen Ausführungen etwa 10 Sekunden nach dem Werfen des letzten Knallkörpers kam es unter nicht näher
geklärten Umständen zu der Verletzung des Klägers. Hierbei kam es zu einer Zerstörung des rechten Augapfels des
Klä-gers, der dann operativ entfernt werden musste. Hierbei wurden aus dem Aug-apfel des Klägers mehrere
Papierstücke herausoperiert, die nach dem Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung wahrscheinlich von einem
Pyro-Knallgeschoss P 15 mm der Art stammten, wie sie auch von der Gruppe 2 ver-wendet worden waren.
Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Hildesheim vom 12. Juni 1992 wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt, weil
sich innerhalb der als Täter in Betracht kommenden Personengruppe 2 der Täter nicht habe ermitteln lassen.
Den Antrag des Klägers auf Leistungen nach dem OEG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 2. November 1992 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 1993 ab. Es habe nicht geklärt werden können, ob der Kläger
Op-fer einer vorsätzlichen Körperverletzung geworden sei. Der Tathergang lasse vielmehr auch den Schluss zu, dass
es sich um einen tragischen Unglücksfall gehandelt habe.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover mit Urteil vom 20. Januar 1995 als unbegründet
abgewiesen. Bezüglich der gegen den Kläger gerichteten Tat sei weder ein direkter noch ein bedingter Vorsatz
festzustellen. Weil der Täter nicht bekannt sei, sei auch der konkrete Beweggrund des Täters für sein Handeln nicht
feststellbar.
Gegen das ihm am 8. März 1995 zugestellte Urteil wendet sich die am 6. April 1995 bei dem Landessozialgericht
eingegangene Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Das die Berufung zurückweisende Urteil
vom 17. Oktober 1995 hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 4. Februar 1998 aufgehoben und die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Der Kläger hält daran fest,
dass die be-kannt gewordenen Tatumstände den Schluss darauf zuließen, dass der Täter jedenfalls mit bedingtem
Vorsatz gehandelt habe. Im Übrigen sei mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Wege
des Beweises des ersten Anscheins ein vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff auch anzuneh-men, wenn ohne
Kenntnis der näheren Umstände des den Kläger letztlich verlet-zenden Knallgeschosses eine abstrakte
Gefährdungslage dadurch bestanden habe, dass mehrfach Leuchtraketen von der Gruppe 2 in Richtung auf die Grup-
pe 1 geschossen worden seien. Hiervon sei nach dem Ergebnis der Beweisauf-nahme auszugehen. Gegebenenfalls
sei insoweit weiterer Beweis zu erheben.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. Januar 1995 und den Bescheid des Beklagten vom 2. November
1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 1993 aufzuhe-ben,
2. "Verlust des rechten Auges, Sehbehinderung des linken Au-ges” als Schädigungsfolgen iS des
Opferentschädigungsgesetzes festzustellen,
3. den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger deswegen Versor-gung seit Januar 1992 zu gewähren,
hilfsweise, die Zeuginnen E. und F. zu der Gefährdung der Personengrup-pe 1 durch das Verhalten der
Personengruppe 2 zu vernehmen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. Januar 1995 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zu-treffend. Hierin sieht er sich durch das
Ergebnis der Beweisaufnahme bestätigt.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat das Gericht Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen Stephan
G. und des Sachverständigen Klemens H ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der
Sitzungs-niederschrift vom 16. April 2002 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der
Beschädigtenakte des Versorgungsamtes Hannover An-tragslisten-Nr. 119/92, der Schwerbehindertenakte des
Versorgungsamtes Han-nover Az: 3112101-7305 sowie der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Hil-desheim Az:
14 Js 7629/92 Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der
Entscheidungsfindung.
Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter und ohne
mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat zu Recht entschieden, dass bei dem Kläger Schädigungsfolgen nicht festzustellen sind und ihm
Leistungen nach dem OEG nicht zustehen. Vorausset-zung sowohl für die begehrte Feststellung als auch für alle in
Betracht kommen-den Leistungen ist gemäß § 1 Abs 1 OEG, dass der Kläger infolge eines vorsätz-lichen
rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Zwar hat der Kläger am 1. Januar 1992
eine gesundheitliche Schädigung erlitten, die mit Wahrscheinlichkeit auf das schädigende Ereignis im Zusammen-
hang mit dem Abbrennen von Sylvesterfeuerwerk zurückzuführen ist. Das schä-digende Ereignis ist jedoch nicht mit
der erforderlichen Gewissheit ein solches, das Ansprüche nach dem OEG begründen könnte. Denn es stellt keinen
vorsätz-lichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinn des § 1 OEG dar.
Nach der Rechtsprechung des BSG, vgl Urteil vom 4. Februar 1998, Az: B 9 VG 5/96 R, SozR3-3800 § 1 Nr 12, mwN,
ist tätlicher Angriff im Sinn des § 1 OEG jede in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper irgend eines
ande-ren zielende Einwirkung, ohne Rücksicht auf den Erfolg. Die feindliche Willens-richtung muss sich nicht gegen
das Opfer richten. Es kommt lediglich darauf an, dass das Verhalten des Täters auf Rechtsbruch gerichtet ist und
dadurch seine Rechtsfeindlichkeit erkennen lässt, vgl Urteil des BSG vom 28. Mai 1997, Az: 9 RVg 1/95. Vorsatz in
dem genannten Sinn liegt bereits vor, wenn der Täter überhaupt die Verletzung eines anderen als Folge seines
Verhaltens für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat. Ein Angriff ist dann rechtswidrig, wenn er den
Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt. Die Tatbestandsmä-ßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit, vgl
Kunz/Zellner, Kommentar zum Opferent-schädigungsgesetz, § 1 RdNr 13. Allerdings fehlt die Rechtswidrigkeit, wenn
das Handeln des Täters sozial angemessen gewesen ist, vgl Urteil des BSG vom 23. Oktober 1985, Az: 9a RVg 5/84,
SozR 3800 § 1 Nr 6.
Alle anspruchsbegründenden Tatsachen, also insbesondere auch das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriffs müssen nachgewiesen sein, die bloße Wahrscheinlichkeit reicht nicht aus, Urteil des BSG vom 22.
Juni 1988, Az: 9/9a RVg 3/87, BSGE 63, 270.
Das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen ist nach wie vor nicht be-wiesen und nach Auffassung des
Gerichts auch nicht weiter aufklärbar. Das Ge-richt geht insoweit davon aus, dass die Verletzung des Klägers durch
die Explosi-on eines Pyro-Knallgeschosses P 15 mm in unmittelbarer Nähe seines Gesichtes verursacht worden ist.
Der im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren ge-hörte Sachverständige I. hat aus einem Vergleich der aus
dem Auge des Klägers entfernten Papierstücke mit den sonstigen Asservaten in für das Gericht nach-vollziehbarer
Weise den Schluss gezogen, dass die Papierstücke aus dem Auge des Klägers wahrscheinlich von einem Pyro-
Knallgeschoss P 15 mm stammen. Diese Auffassung hat auch der von dem erkennenden Gericht gehörte Sachver-
ständige J. geteilt und ergänzend ausgeführt, dass aufgrund der Gesamtumstän-de sich das Geschoss zum Zeitpunkt
der Explosion in einer Entfernung von höchstens etwa 20 cm vom Gesicht des Klägers befunden haben muss.
Nach wie vor ungeklärt ist jedoch, wie das Pyro-Knallgeschoss an den Ort gelangt ist, an dem es schließlich
explodierte. Nach den Ausführungen des Sachverstän-digen J. ist letztlich nicht auszuschließen, dass der Kläger das
Pyro-Knallgeschoss durch die Glut einer Zigarette selbst zur Detonation gebracht ha-ben könnte. Bei einem solchen
Geschehensablauf würden offensichtlich die Vor-aussetzungen eines Anspruchs nach dem OEG nicht bestehen.
Selbst wenn aber eine dritte, unbekannt gebliebene Person dafür verantwortlich gewesen wäre, dass das Pyro-
Knallgeschoss an den Ort der Explosion gelangt ist, lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Rechtswidrigkeit des
Tuns und auf den Vorsatz des Täters nicht ziehen. Insoweit geht das Gericht davon aus, dass es sich bei dem
Abbrennen von Sylvesterfeuerwerk um sozial übliches Verhalten handelt, Rechtswidrigkeit also grundsätzlich nicht
vorliegt. Dies gilt auch im Hinblick dar-auf, dass mit dem Abbrennen von Sylvesterfeuerwerk erfahrungsgemäß nicht
unerhebliche Gefahren verbunden sind. Allein etwa in der Sylvesternacht von 2000 auf 2001 wurden in dem
Zuständigkeitsbereich der Feuerwehr Berlin 517 durch Feuerwerk verletzte Personen registriert, davon 62
Schwerverletzte, vgl. Berliner Zeitung, Ausgabe vom 19. Dezember 2001. Die Sozialüblichkeit des Ab-brennens des
Sylvesterfeuerwerks ist in vorliegenden Fall auch nicht allein im Hinblick darauf entfallen, dass es sich bei den - auch
- verwendeten Pyro-Knallgeschossen P 15 mm an sich nicht um einen für die Benutzung bei einem
Sylvesterfeuerwerk bestimmten Sprengkörper gehandelt hat und dass sie mögli-cherweise über eine höhere
Sprengkraft und damit eine gesteigerte Gefährlichkeit als üblicherweise für Sylvesterfeuerwerk zu benutzende
Knallkörper verfügt hat. Denn der Sachverständige J. hat ausdrücklich ausgeführt, dass auch ein Pyro-Knallgeschoss
P 15 mm bei bestimmungsgemäßen Einsatz zu einer Gesund-heitsgefährdung weder für den Schützen noch für die
umstehenden Personen führt. Denn bei dem bestimmungsgemäß nach oben abgegebenen Schuss kommt es nach
den Versuchen des Sachverständigen in eine Höhe von ca. 15 bis 50 m zur Explosion des Geschosses. Die Reste
rieseln völlig ungefährlich nach unten. Die Explosion eines vertikal abgeschossenen Pyro-Knallgeschosses P 15 mm
nach seinem Herabfallen etwa in Kopfhöhe einer umstehenden Person hat der Sachverständige ausdrücklich
ausgeschlossen.
Allein aus dem Umstand der Explosion des Pyro-Knallgeschosses P 15 mm in der Nähe des Gesichtes des Klägers
lässt sich nicht mit ausreichender Sicherheit auf einen Vorsatz des etwaigen Schützen schließen. Denn der Schluss
lässt sich nicht ziehen, dass der Abschuss des Geschosses in bestimmungswidriger Weise so erfolgt ist, dass damit
für den etwaigen Schützen erkennbar eine erhebliche Gefährdung anderer Personen zu befürchten gewesen ist. Nicht
jeder Schuss, der nicht senkrecht nach oben gerichtet ist, birgt ein erkennbares Gefährdungs-potential. Vielmehr kann
auch ein horizontal abgefeuerter Schuss aus der Sicht des Schützen völlig ungefährlich sein, wenn er nämlich in eine
Richtung gezielt ist, in der sich etwa verletzungsgefährdete Personen nicht oder jedenfalls für den Schützen nicht
sichtbar befinden. Es ist nicht auszuschließen, dass ein derart an sich nicht gefährlicher Schuss den Kläger getroffen
haben könnte. Der Sachver-ständige J. hat nämlich ausdrücklich ausgeführt, dass derartige Geschosse durchaus von
Bäumen oder Gebäudeteilen, von Zäunen oder auch vom Boden abprallen und damit in ihrer Schussbahn ganz
erheblich abgelenkt werden kön-nen. Nachdem sich bei den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen keine konkre-ten
Erkenntnisse über die Flugbahn des den Kläger verletzenden Geschosses ergeben haben, muss die Möglichkeit eines
Abprallens immerhin in Betracht ge-zogen werden. Dies gilt umso mehr, als der Zeuge G. anlässlich seiner Verneh-
mung vor dem erkennenden Gericht am 16. April 2002 davon berichtet, zum Zeit-punkt des schädigenden Ereignisses
sei bereits die Rede davon gewesen, die Rakete, die den Kläger getroffen habe, sei von einem der Pfosten der
Pferdekop-pel abgeprallt.
Nicht ausschließen lässt sich auch, dass sich der den Kläger verletzende Schuss unbeabsichtigt oder jedenfalls für
den Schützen nicht vorhersehbar gelöst haben könnte. Der Tatverdächtige Jörg K. hat bereits anlässlich seiner ersten
Verneh-mung durch die Polizei am Mittag des Neujahrstages 1992 erklärt, seine Waffe habe eine Ladehemmung
gehabt und plötzlich habe sich dann ein Schuss gelöst.
Schließlich ist auch die Möglichkeit trotz der gegenteiligen Beteuerung des Klä-gers nicht auszuschließen, dass das
ihn verletzende Pyro-Knallgeschoss in sei-nen Händen explodiert sein könnte. Der Kläger hat bei Gelegenheit seiner
Ver-nehmung durch die Polizei am 15. Januar 1992 nämlich eingeräumt, dass er zu-vor von einem der späteren
Tatverdächtigen zwei Knaller ausgehändigt bekom-men hat. Da die Munition, wie der Tatverdächtige Mark L. am 18.
Januar 1992 ausgeführt hat, für alle zugriffsbereit lag, ist nicht auszuschließen, dass dem Klä-ger - irrtümlich - ein
Pyro-Knallgeschoss ausgehändigt worden sein könnte. Be-merkenswerterweise sind "normale” Knaller mit Zündschnur
bei den Tatverdäch-tigen später nicht sichergestellt worden. Im Übrigen unterscheiden sich nach dem Eindruck, den
das Gericht nach dem Lichtbild Blatt 30a der Ermittlungsakte von den Pyro-Knallgeschossen gewinnt, diese
Geschosses in ihrem äußeren Er-scheinungsbild nicht so wesentlich von "normalen” Knallern, dass eine Ver-
wechslung - noch dazu bei Nacht - ausgeschlossen wäre. Der Sachverständige J. hat im Übrigen auch ausdrücklich
darauf hingewiesen, dass eine Entzündung ei-nes Pyro-Knallgeschosses auch durch eine glimmende Zigarette
möglich ist. Der Kläger hat ausdrücklich ausgeführt, dass er die ihm ausgehändigten Knaller mit-tels einer
glimmenden Zigarette entzündet hat.
Das Gericht sieht insoweit auch keine weiteren Möglichkeiten der Beweisaufnah-me. Keiner der von der Polizei bereits
vernommenen Tatzeugen konnte zum da-maligen Zeitpunkt irgendwelche sachdienlichen Hinweise zur Ermittlung des
Tä-ters oder auch nur zur Rekonstruktion der Flugbahn des den Kläger verletzenden Knallgeschosses machen. Dem
Gericht sind auch keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass eine erneute Vernehmung der Zeugen oder eine
erstmalige Ver-nehmung anderer Zeugen zu anderen Ergebnissen führen könnte. Das Gericht verkennt in diesem
Zusammenhang nicht, dass es sich bei den möglicherweise in Betracht kommenden Täter um einen relativ kleinen,
bekannten Personenkreis gehandelt hat. Sie sind jedoch zur damaligen Zeit sämtlich von der Polizei gehört worden
und haben ihre Tatbeteiligung sämtlich abgestritten. Wenn auch mögli-cherweise strafrechtliche Verjährung
inzwischen eingetreten sein könnte, so sind doch damit nicht zugleich alle zivilrechtlichen Forderungen gegen den
etwaigen Täter ausgeschlossen. Auf § 5 OEG wird insoweit Bezug genommen. In Anbe-tracht dessen hat das Gericht
auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass der etwaige Täter sich bei einer erneuten Vernehmung zu der Tat bekennen
würde.
Das Gericht verkennt in diesem Zusammenhang auch nicht, dass allein bei dem damals Tatverdächtigen K. Pyro-
Knallgeschosse P 15 mm sichergestellt worden sind. Daraus lässt sich jedoch nicht mit ausreichender Sicherheit
begründen, dass der Tatverdächtige K. tatsächlich der Täter gewesen ist. Denn es steht ge-rade nicht fest, dass nur
der Verdächtige K. in der streitigen Sylvesternacht Pyro-Knallgeschosses P 15 mm verschossen hat. Insoweit ist
nämlich darauf hinzu-weisen, dass ausweislich seiner Aussage vor der Polizei vom 18. Januar 1992 auch der damals
Verdächtige L. "10 oder 20” Pyro-Knallgeschosse zu dem Feu-erwerk mitgebracht hatte. Der Verdächtige L. hat
zudem in derselben Verneh-mung ausgesagt, dass die gesamte Munition für alle Tatverdächtige zugriffsbereit in oder
auf einem Kraftfahrzeug gelegen habe. Dies hat der Verdächtige K. in der Einlassung seiner Bevollmächtigten vom 8.
Mai 1992 bestätigt. Nach den Ausfüh-rungen der Sachverständigen I. und J. steht auch fest, dass alle fünf Abschuss-
geräte der Tatverdächtigen technisch dazu geeignet gewesen sind, Pyro-Knallgeschosse P 15 mm zu verschießen.
Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind auch nicht im Wege des Beweises des ersten Anscheins nachgewiesen.
Nach der Rechtsprechung des BSG, vgl. das bereits benannte Urteil vom 4. Februar 1998, mwN, kommt im Rahmen
des § 1 OEG die damit verbundene Beweiserleichterung auch hinsichtlich des inneren Tatbestandes in Betracht. In
der genannten Entscheidung hat das BSG hierzu die Frage aufgeworfen, ob im vorliegenden Fall ein vorsätzlicher
rechtswidriger An-griff mit folgendem Erfahrungssatz zu bejahen sein kann: Ist eine Menschen-gruppe aus einer
anderen Gruppe heraus wiederholt mit Gegenständen beschos-sen oder beworfen worden, die geeignet sind,
Körperverletzungen hervorzurufen, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der oder die Schützen
bzw Werfer Verletzungen von Menschen für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben. Wie sich aus
den vorstehenden Ausführungen ergibt, lassen sich mit dem genannten Erfahrungssatz nicht alle noch ungeklärten
An-spruchsvoraussetzungen nachweisen. Erforderlich wäre nämlich, dass auch im Wege des Beweises des ersten
Anscheins Klarheit über die weitere Anspruchs-voraussetzung der Rechtswidrigkeit erlangt werden könnte, dass
nämlich das den Kläger verletzenden Pyro-Knallgeschoss nicht in sozial adäquater Weise verwen-det worden wäre.
Weil im vorliegenden Fall die Frage der nicht sozial adäquaten Verwendung des den Kläger verletzenden Pyro-
Knallgeschosses einerseits und die Frage des Vorsatzes andererseits in unmittelbar innerem Zusammenhang
wenigstens stehen können, könnte möglicherweise über einen entsprechend er-weiterten Erfahrungssatz der Beweis
des ersten Anscheins hinsichtlich beider noch ungeklärter Anspruchsvoraussetzungen zu führen sein.
Die Anwendung des genannten Erfahrungssatzes auf den vorliegenden Fall setzt voraus, dass die Personengruppe 1
von der Personengruppe 2 vor der Verlet-zung des Klägers mehrfach mit gefährlichen Gegenständen beworfen oder
be-schossen worden ist. In diesem Zusammenhang geht das Gericht davon aus, dass zu den von dem BSG
erwarteten Voraussetzungen des Erfahrungssatzes nicht die Feststellung der inneren und äußeren Umstände jedes
einzelnen Wurfes bzw Schusses gehört. Diese würden sich ohnehin nicht feststellen lassen. Als Anknüpfungspunkt
genügt vielmehr, dass die Wurfgegenstände oder Geschosse aus der einen Gruppe herrührten und sich von dort aus
auf die andere Men-schengruppe hin bewegt haben. Bei einem solchen rein tatsächlichen Geschehen würde sich
möglicherweise die Erkenntnis aufdrängen, dass es sich nicht bei al-len Würfen oder Schüssen um Querschläger oder
Abpraller oder unbeabsichtigt ausgelöste Würfe oder Schüsse gehandelt haben kann. Wenigstens bei einer nicht zu
vernachlässigenden Anzahl von Würfen oder Schüssen muss es sich in dem Sinne um gezielte Würfe oder Schüsse
gehandelt haben, dass der oder die Werfer oder Schützen das Erreichen der anderen Menschengruppe mit den
Wurfgegenständen oder Geschossen und damit eine Gefährdung von Mitgliedern der Gruppe 1 wenigstens für möglich
gehalten haben oder hätten für möglich halten müssen. In diesem erweitert verstandenen Sinn hat die Gruppe der
späte-ren Tatverdächtigen die ihnen gegenüberstehende Personengruppe 1 mehrfach mit Feuerwerkskörpern
beschossen. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Ge-richts aus den Aussagen der Zeugen Sabine F. und Markus L.
vor der Polizei vom 20. bzw 21. Januar 1992. Diese beiden Zeugen haben übereinstimmend ausgesagt, dass
Geschosse aus der Richtung der Gruppe der späteren Tatver-dächtigen so niedrig abgefeuert worden sind, dass sie
nicht etwa nur über die Köpfe der gegen-überstehenden Menschengruppe hinwegflogen. Zugunsten des Klägers geht
das Gericht insoweit auch davon aus, dass dieses Verhalten der Gruppe der späteren Tatverdächtigen auch bis
unmittelbar vor den Eintritt der Schädigung angehalten hat. Eine weitere Beweisaufnahme zu diesem Thema,
insbesondere durch Vernehmung der Zeuginnen F. und Sandra E., ist daher nicht erforderlich.
Aber die von dem BSG in Aussicht genommene Schlussfolgerung, dass es sich nämlich auch bei dem den Kläger
konkret verletzenden Schuss um einen in dem oben genannten Sinn gezielten Schuss gehandelt hat, lässt sich im
vorliegenden Fall nicht ziehen. Voraussetzung für die Schlussfolgerung wäre nämlich, dass unter vergleichbaren
Umständen erneut ein aus der Gruppe der späteren Tatver-dächtigen herrührendes Geschoss die gegenüberliegende
Personengruppe er-reicht hätte. Diese Sachverhaltsumstände, an die der Beweis des ersten An-scheins anknüpfen
könnte, sind jedoch nicht nachgewiesen.
Insbesondere ist nicht bewiesen, dass das den Kläger letztlich verletzende Ge-schoss ebenfalls aus der Gruppe der
späteren Tatverdächtigen herrührte. In die-sem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Ergebnis der
Be-weisaufnahme entgegen der Beteuerung des Klägers gegenüber der Polizei am 15. Januar 1992 nicht
auszuschließen ist, dass der Kläger das ihn verletzende Geschoss doch selbst entzündet haben könnte. Auf die
obigen Ausführungen dazu wird Bezug genommen.
Nicht auszuschließen ist darüber hinaus, dass das den Kläger verletzende Pyro-Knallgeschoss zwar nicht von ihm
selbst, aber auch nicht aus der Gruppe der späteren Tatverdächtigen stammte. Soweit ersichtlich, sind die
Ermittlungen der Polizei nie in die Richtung gegangen, ob etwa noch weitere Personen als nur die zu der
umschriebenen Gruppe der Tatverdächtigen gehörenden Personen im Zu-sammenhang mit dem Sylvesterfeuerwerk
über den Jahreswechsel 1991/1992 Pyro-Knallgeschosse P 15 mm verwendet haben. Im Übrigen ist auch nicht aus-
zuschließen, dass etwa eine dritte Person ebenfalls von einem der Tatverdächti-gen ein Pyro-Knallgeschoss
ausgehändigt bekommen haben könnte. Bei der Zündung dieses Pyro-Knallgeschosses könnte es zu der Verletzung
des Klägers gekommen sein.
Darüber hinaus steht auch nicht fest, dass das den Kläger verletzende Pyro-Knallgeschoss in die Richtung der den
Tatverdächtigen gegenüberstehenden Personengruppe 1 geflogen ist. Da die Flugbahn des Knallgeschosses nicht ge-
klärt ist, könnte eine in Richtung auf die den Tatverdächtigen gegenüberstehende Personengruppe zielende Flugbahn
nur anzunehmen sein, wenn der Kläger sich zum Zeitpunkt der Verletzung in dieser Personengruppe oder jedenfalls in
ihrer unmittelbaren Nähe aufgehalten hätte. Davon ist nach dem Ergebnis der ver-schiedenen Aussagen gegenüber
der Polizei und auch im vorliegenden Rechts-streit nicht auszugehen. Denn die Aussagen der verschiedenen Zeugen
und des Klägers bezüglich des Standplatzes des Klägers unterscheiden sich durchaus deutlich. Nur um die
Schwankungsbreite anzudeuten sei darauf hingewiesen, dass der Verdächtige Mark L. anlässlich seiner polizeilichen
Vernehmung vom 18. Januar 1992 ausgesagt hat, der Verletzte habe in Höhe des Eingangs zum Tennisheim - also in
unmittelbarer Nähe der Gruppe 1 - auf dem Erdboden ge-kniet. Der Kläger hat demgegenüber bei dem SG Hannover in
dem Termin zur mündlicher Verhandlung am 20. Januar 1995 erklärt, die zuvor beschossene Gruppe 1 habe sich in
der Nähe des Tores zum Tennisheim aufgehalten. Sein Abstand dazu, also zu der Gruppe 1, habe ca. 15 bis 18 m
betragen. Er sei daher auch erst ca. eine Minute nach der Schädigung entdeckt worden. Hat sich der Kläger
tatsächlich etwa in 15 bis 18 m Entfernung von der Personengruppe 1 aufgehalten und ist er dort von dem Pyro-
Knallgeschoss getroffen worden, so kann aus dem Treffen des Klägers nicht der Schluss gezogen werden, das Pyro-
Knallgeschoss in Richtung auf die Personengruppe 1 abgefeuert worden ist. Das-selbe würde auch bei einer Distanz
von 10 m zwischen dem Kläger und der ande-ren Personengruppe gelten, wie dies von dem Verdächtigen Falk M.
beschrieben worden ist, vgl. seine Vernehmung vom 22. Januar 1992.
Im Hinblick darauf kann dahingestellt bleiben, ob es sich selbst unter der Annah-me einer Flugbahn des den Kläger
verletzenden Geschosses von der tatverdäch-tigen Gruppe 2 zu der anderen Personengruppe 1 hin überhaupt um
einen derart vergleichbaren Sachverhalt gehandelt haben würde, dass die Anwendung des von dem BSG aufgestellten
Erfahrungssatzes gerechtfertigt wäre. Es bestehen nämlich ganz erheblich Zweifel, ob bereits vor dem den Kläger
verletzenden Ge-schoss Pyro-Knallgeschosse von der Gruppe der Tatverdächtigen auf die andere Personengruppe
geschossen worden sind, oder ob es sich bei diesen Geschos-sen nicht vielmehr um "normale” Leuchtraketen
gehandelt hat. Diese Vermutung legt die Aussage des Zeugen G. vor dem erkennenden Gericht nahe. Für diesen Fall
wäre nämlich davon auszugehen, dass die Mitglieder der Gruppe 2 die bei ihnen ja vorhandenen Pyro-Knallgeschosse
zuvor - möglicherweise in Kenntnis der höheren Gefährlichkeit bewusst - nur bestimmungsgemäß verwendet haben.
Denn offensichtlich sind vor der Verletzung des Klägers auch Pyro-Knallgeschosse verschossen worden. Die bei dem
Verdächtigen K. sicherge-stellte geringe Anzahl von Pyro-Knallgeschossen - nach dem Foto Blatt 30a der
Ermittlungsakte wohl nur ein einziges noch nicht verschossenes Knallgeschoss - ließe sich anders nicht mit den
Angaben der Verdächtigen K. und L. über die Menge der zu dem Feuerwerk mitgebrachten Knallgeschosse
vereinbaren. Als-bald nach der Verletzung des Klägers wurde das Abbrennen des Feuerwerks durch die Gruppe 2
eingestellt, vgl. Aussage des Zeugen Markus L. bei der Poli-zei am 21. Januar 1992. Bei dem - unter dieser Prämisse
erstmaligen - Verschie-ßen eines Pyro-Knallgeschosses in Richtung auf eine andere Personengruppe würde dann
möglicherweise der gleichförmige Handlungsablauf fehlen, der die Anwendung des Erfahrungssatzes rechtfertigen
würde.
Nur der Vollständigkeit halber wird im Übrigen darauf hingewiesen, dass das Ge-richt keinerlei Anhaltspunkte dafür
hat, dass dem Kläger etwa von einem der Tat-verdächtigen absichtlich ein Pyro-Knallgeschoss in der Erwartung
ausgehändigt worden sein könnte, dass der Kläger sich damit selbst verletzen würde.
Dahingestellt bleiben kann darüber hinaus, ob in der Person des Klägers Leis-tungsversagungsgründe im Sinn des § 2
Abs 1 OEG vorliegen. Im vorliegenden Fall ist nicht zu entscheiden, ob wegen der bereits dargestellten allgemeinen
Gefährlichkeit von Sylvesterfeuerwerken bereits derjenige mit seinem Leistungs-begehren ausgeschlossen ist, der
sich überhaupt in Reichweite derartiger Aktivi-täten aufhält. Insbesondere kann dahingestellt bleiben, ob die
Leistungen dem Kläger möglicherweise deshalb zu versagen sein könnten, weil er sich der aus dem wiederholten
Beschuss resultierenden erkennbaren konkreten Gefahr einer Verletzung nicht rechtzeitig entzogen hat, vgl Urteil des
BSG vom 18. April 2001, Az: B 9 VG 3/00 R, SozR3-3800 § 2 Nr 10. In Betracht zu ziehen sein könne auch der
Gesichtspunkt, dass der Kläger etwa dadurch eine annähernd gleichwertige Bedingung zu der verletzenden Tat
gesetzt haben könnte, dass er seinerseits in Richtung auf die Gruppe der Tatverdächtigen Knallkörper geworfen hat,
vgl BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998, Az: B 9 VG 6/97 R, SozR3-3800 § 2 Nr 9.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 des Sozial-gerichtsgesetzes (SGG).
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG.