Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.03.2001
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 20.03.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 22 U 315/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 9/6 U 182/99
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 23. Februar 1999 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Kosten
sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Erkrankung der Atemwege des Klägers als Berufskrankheit im Sinne der
gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen ist.
Der 1943 geborene Kläger hat von 1958 bis 1961 eine Berufsausbildung zum Tischler durchlaufen. In der Folgezeit hat
er überwiegend in diesem Beruf gearbeitet, bis er im Herbst 1994 laufend arbeitsunfähig wurde. Seit Mai 1995 bezieht
er Erwerbsunfähigkeitsrente
Nach seiner Erklärung hat der Kläger bis 1961 mit formaldehydhaltigen Farben gearbeitet, danach sind nur noch
Nitrolacke verwendet worden. Kurzfristige Expositionen hätten auch gegenüber Asbest und Glaswolle vorgelegen.
Während der gesamten Zeit der Erwerbstätigkeit sei er der Einwirkung von Holzstäuben ausgesetzt gewesen. Von
1966 bis 1978 und von 1985 bis 1988 hatte er Zigaretten geraucht, am Schluss mehr als 50 Zigaretten am Tag.
Atemwegsbeschwerden mit rezidivierenden Infekten der oberen Atemwege hätten seit 1969 bestanden. Nach dem
erstmaligen Auftreten schwerer Luftnot im Jahr 1988 habe er das Rauchen aufgegeben.
Auf eine Verdachtsanzeige der Innungskrankenkasse Hannover von Januar 1995 hin hat die Beklagte ein
Verwaltungsverfahren eingeleitet, in deren Verlauf der Kläger ambulant von dem Arzt für Lungen- und
Bronchialheilkunde Dr. I. begutachtet worden ist. Dieser Arzt hat bei dem Kläger eine chronische obstruktive
Atemwegserkrankung diagnostiziert, die zwar nicht durch berufliche Einwirkungen entstanden, durch die
kontinuierliche berufliche Schadstoffexposition aber wesentlich verschlimmert worden sei. Die Beklagte hat dem
Kläger daraufhin ein vierwöchiges Heilverfahren in der berufsgenossenschaftlichen Klinik für Berufskrankheiten
Falkenstein bewilligt. Nach Abschluß des Heilverfahrens hat Dr. J. auf der Grundlage der dabei gewonnenen
Erkenntnisse ein weiteres Gutachten über den Kläger erstattet. Sie hat ein Intrinsic Asthma diagnostiziert, das
anlagebedingt sei. Daneben bestehe bei dem Kläger der Verdacht auf eine schwergradige bronchiale Hyperreagibilität,
die anlagebedingt und im übrigen auf das Zigarettenrauchen zurückzuführen sei. Diese Erkrankung habe sich jedoch
durch die Einwirkungen der beruflichen Schadstoffe verschlechtert. Ob Dr. J. die daneben diagnostizierte
Hypogammaglobulinämie als Folge beruflicher Einwirkungen angesehen hat, ist nach dem Gutachten nicht eindeutig.
Zusammenfassend hat Dr. J. eine Berufskrankheit nach Nr 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung
(BKVO) angenommen und den berufsbedingten Anteil der Atemwegserkrankung mit einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH bewertet.
Dem hat Dr. K. in einer Stellungnahme nach Aktenlage widersprochen. Das Krankheitsbild des Klägers werde
ausschließlich durch außerberufliche Faktoren unterhalten, nämlich durch das Rauchen von 40 bis 50 Zigaretten pro
Tag über die Dauer von 20 Jahren. Daneben hätten auch die angeborene Nasenmuschelhyperplasie links und die
chronische Sinusitis maxillaris links eine erhebliche Rolle gespielt. Darauf gestützt hat die Beklagte mit Bescheid vom
11. Februar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. September 1997 die Feststellung einer
Berufskrankheit und die Bewilligung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung abgelehnt.
Dagegen hat der Kläger am 1. Oktober 1997 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben und zur Begründung
insbesondere geltend gemacht, er habe nicht über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg ununterbrochen geraucht.
Vielmehr habe es in der Zeit von 1978 bis 1985 eine Unterbrechung gegeben.
Mit Urteil vom 23. Februar 1999 hat das SG die Beklagte verurteilt, dem Kläger aufgrund der Berufskrankheit nach Nr
4302 der Anlage 1 zur BKVO Verletztenrente in Höhe von 20 vH der Vollrente zu gewähren. Auf der Grundlage des
Gutachtens der Dr. J. hat das SG zur Begründung die Auffassung vertreten, die Erkrankung des Klägers sei durch die
berufliche Tätigkeit verschlimmert worden. Der Einfluß des Nikotinabusus sei demgegenüber nicht geklärt. Insoweit
sei nämlich nicht letztlich festgestellt, welche Zigarettensorte und in welchem Umfang der Kläger geraucht habe und
welche genauen beruflichen Einflüsse bei ihm bestanden hätten.
Gegen das ihr am 14. April 1999 zugestellte Urteil wendet sich die am 10. Mai 1999 bei dem Landessozialgericht
eingegangene Berufung der Beklagten, mit der sie die Wiederherstellung der angegriffenen Bescheide begehrt. Zur
Begründung vertritt sie die Auffassung, das Leiden des Klägers sei berufsunabhängig entstanden. Hierin sieht sie sich
durch das Ergebnis der Beweisaufnahme bestätigt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 23. Februar 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und sieht sich hierin durch das Ergebnis der Begutachtungen durch Dres
I. und J. bestätigt. Demgegenüber könne das in zweiter Instanz eingeholte Gutachten von Prof. Dr. L. letztlich keine
streitentscheidende Bedeutung haben, weil dieser sowohl hinsichtlich des Umfangs des Zigarettenrauchens als auch
hinsichtlich der beruflichen Schadstoffexposition von falschen Voraussetzungen ausgehe.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat das Gericht ein Gutachten von dem Internisten Prof. Dr. L. eingeholt.
Der Sachverständige hat in dem nach ambulanter Untersuchung des Klägers unter dem 25. Februar 2000 erstatteten
Gutachten zusammenfassend ausgeführt, bei dem Kläger liege eine chronisch obstruktive Bronchitis mit
unspezifischer bronchialer Hyperreaktivität, ein mäßiggradiges zentrilobuläres Lungenemphysem und ein
sinubronchiales Syndrom vor. Die Bronchitis, das Lungenemphysem und das sinubronchiale Syndrom hätten sich
unabhängig von der Einwirkung beruflicher Schadstoffe entwickelt. Die unspezifische bronchiale Hyperreaktivität
werde durch jede inhalative Noxe verschlimmert. Die Vermutung sei nicht abwegig, daß eine Mitunterhaltung der
Atembeschwerden durch berufliche schädigende Einwirkungen erfolgt sei. Diese seien jedoch nicht unter die Nr. 4302
der Anlage 1 zur BKVO zu subsumieren.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der
Verwaltungsakten der Beklagten Az: 4 95 01248 0U Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren ihrem
wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgereicht eingelegt, sie ist auch begründet.
Das angefochtene Urteil des SG ist rechtswidrig und verletzt die Beklagte in ihren Rechten. Es hat zu Unrecht die
angegriffenen Bescheide der Beklagten aufgehoben. Die Bescheide sind jedoch rechtmäßig. Der Kläger hat weder
einen Anspruch auf die Feststellung von Folgen einer Berufskrankheit noch auf die Gewährung von
Entschädigungsleistungen.
Bei dem Kläger liegt keine Berufskrankheit im Sinne von § 551 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm Nr
4302 der Anlage 1 zur BKVO vor. Für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreites ungeeignet ist das
Gutachten des Dr. I ... Ohne Nennung detaillierter nachvollziehbarer Befunde und ohne Differenzierung der
verschiedenen Aspekte der Erkrankung des Klägers kommt er zu einem pauschalen Ergebnis, das den Anforderungen
des Berufskrankheitenrechts nicht gerecht wird: Mit Dr. J. und Prof. Dr. L. ist davon auszugehen, daß die ganz im
Vordergrund stehende Atemwegserkrankung nicht durch die Einwirkung beruflicher Schadstoffe verursacht worden ist.
Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob es sich um eine asthmatische Krankheit handelt, die mit anfallsweiser
Verschlechterung der Atemsituation einhergeht, wie Dr. J. angenommen hat. Dr. J. hat dieses Leiden jedenfalls als
anlagebedingt bezeichnet. Prof. Dr. L. hat insoweit bei seiner Diagnosestellung weniger den anfallsweisen Charakter
als vielmehr ihren Ausgangspunkt in einer Entzündung der Bronchien in den Vordergrund gestellt und die Erkrankung
als Bronchitis bezeichnet. Auch diese Erkrankung ist nach den überzeugenden und für den Senat nachvollziehbaren
Ausführungen von Prof. Dr. L. nicht mit der Einwirkung beruflicher Schadstoffe in Zusammenhang zu bringen.
Die von beiden Sachverständigen diagnostizierte unspezifische bronchiale Hyperreaktivität ist unabhängig von ihrer
Ursache jedenfalls keine Berufskrankheit im Sinne der Nr 4302 der Anlage 1 zur BKVO. Von der genannten Nummer
sind nur obstruktive Atemwegserkrankungen erfaßt, also Erkrankungen, die zur Verengung der Atemwege führen, vgl.
Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort "Obstruktion". Die unspezifische bronchiale Hyperreaktivität ist selbst
jedoch keine obstruktive Atemwegserkrankung, allenfalls ihr Vorläufer oder ihr Begleiter, vgl.
Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, Seite 1033, so auch SG Suhl, Urteil
vom 3. September 1998, Az: S 7 U 623/96.
Wenn auch möglicherweise eine Mitverursachung der unspezifischen bronchialen Hyperreaktivität des Klägers durch
die Einwirkung von Holzstäuben nicht auszuschließén ist, fehlt es insoweit an einer anerkennungsfähigen
Berufskrankheit in der Liste in Anlage 1 zur BKVO.
Eine solche Listenerkrankung kommt allenfalls im Hinblick auf die Einwirkung der in den von dem Kläger verwendeten
Lacken vorhandenen Lösungsmitteln in Betracht. Hier sind insbesondere Benzol und Toluol zu erwarten, die in der Nr.
1303 der Anlage 1 zur BKVO erfaßt sind. Diese Einwirkungen wären jedoch nur dann Ursache der unspezifischen
bronchialen Hyperreaktivität im Sinne der im Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der rechtlich wesentlichen
Bedingungen, wenn das Mitwirken der beruflichen Schadstoffe an dem Eintritt oder der Entwicklung der Erkrankung
von rechtlich wesentlicher Bedeutung wäre. Davon kann jedoch nicht ausgegangen werden. Zu Recht haben. Dr. K.
und Prof. Dr. L. auf den ganz erheblichen Nikotinmißbrauch des Klägers hingewiesen. Dr. K. hat darüber hinaus sehr
detailliert dargelegt, daß gerade die hier zu diskutierenden Lösungsmittel im Zigarettenrauch in ganz erheblichen
Konzentrationen vorkommen. Wenn auch der Kläger entgegen der Annahme von Dr. K. nicht etwa 20 Jahre hindurch
täglich 50 Zigaretten geraucht hat, so liegt doch auch nach dem Eingeständnis des Klägers eine
Gesamtmißbrauchszeit von wenigstens 15 Jahren vor. Wenigstens in den letzten 3 Jahren, und damit unmittelbar vor
dem Auftreten der ganz gravierenden Krankheitserscheinungen, hat der Kläger nach seiner Einlassung 50 Zigaretten
täglich geraucht. Mit Dr. K. und Prof. Dr. L. ist daher davon auszugehen, daß für den Eintritt aber auch für die
Entwicklung der unspezifischen bronchialen Hyperreaktivität der Nikotinmißbrauch von ganz überragender Bedeutung
gewesen ist. Insoweit ist für den Senat insbesondere die Erklärung des Prof. Dr. L. von ausschlaggebender
Bedeutung. Danach ist die oxidative Wirkung des Tabakrauches um bis zu drei Zehnerpotenzen – also bis zu 1000
mal – größer als die der bei dem Kläger in Frage kommenden beruflichen Schadstoffe. Diese können allenfalls einen
rechtlich nicht bedeutenden Anteil an der Entwicklung der Erkrankung genommen haben.
Als Berufskrankheit anzuerkennen ist auch nicht das Lungenemphysem des Klägers. Prof. Dr. L. hat zu Recht darauf
hingewiesen, daß das Lungenemphysem nicht nach Nr 4302 der Anlage 1 zur BKVO anzuerkennen ist. Ein
Lungenemphysem kann lediglich nach Nr 4111 der Anlage 1 zur BKVO als Berufskrankheit anerkannt werden, deren
Voraussetzungen der Kläger aber ganz offensichtlich nicht erfüllt. Der Kläger hat nämlich nicht langjährig unter Tage
gearbeitet. Unabhängig von dem Umfang der Einwirkungen der Lacklösungsmittel kommt die Anerkennung des
Lungenemphysems als Berufskrankheit auch nicht nach Nr 1303 der Anlage 1 zur BKVO in Betracht. Nach dem
Merkblatt für diese Berufskrankheit sind bei der langzeitigen Einwirkung kleiner Dosen der genannten Lösungsmittel
primär systemische Erkrankungen als mögliche Berufskrankheiten zu erwarten.
Weder im Hinblick auf die unspezifische bronchiale Hyperreaktivität noch auf das Lungenemphysem hat der Senat
Anhaltspunkte für das Bestehen neuer medizinischer Erkenntnisse im Sinn des § 551 Abs. 2 RVO.
Als Berufskrankheit kann schließlich auch nicht die Hypogammaglobulinämie anerkannt werden. Dr. J. hat diesen
auffälligen Laborbefund festgestellt, zu einer möglichen Ursache für diese Erkrankung jedoch in dem Gutachten nicht
ausdrücklich Stellung genommen. Auf Grund eines Hinweises in dem Entlassungsbericht der Dr. J. vom 8. August
1996 ist jedoch davon auszugehen, daß die Hypogammaglobulinämie nicht etwa Folge beruflicher Einwirkungen
sondern der Steroiddauertherapie ist.
Mangels anerkennungsfähiger Berufskrankheit kommt die Gewährung von Rentenleistungen insoweit ohnehin nicht in
Betracht. Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Anlaß für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG.