Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 12.12.2001
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 12.12.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 27 SB 675/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 7 SB 162/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt im Rahmen eines Neufeststellungsverfahrens die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches – aG –
(außergewöhnliche Gehbehinderung).
Mit Bescheid vom 16. Mai 1984 erkannte das Versorgungsamt D. bei dem Kläger einen Grad der Behinderung – GdB
– von 80 und das Vorliegen der folgenden Behinderungen an:
1. Verlust des linken Unterschenkels, Narben am rechten Fuß, rechten Unterschenkel und rechten Handrücken,
chronisches Ekzem und Durch-blutungsstörungen am linken Unterschenkelstumpf (Schädi-gungsfolge). 2.
Veränderungen der Wirbelsäule. 3. Kniegelenksveränderungen rechts.
Darüber hinaus stellte es fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G” vorliegen. Der
Bescheid stützte sich auf die Feststellungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), einen Befundbericht des
Internisten Dr. E., vom 9. Januar 1984 und die versorgungsärztliche Stellung-nahme des Dr. F. vom 15. Februar 1984.
Am 14. Juli 1997 beantragte der Kläger die Feststellung eines höheren GdB, weiterer Behinderungen und die
Zuerkennung des Merkzeichens "aG” und "1. Klasse”. Er gab zur Begründung an, dass eine Herzerkrankung,
chronische Bronchitis, Hand- und Schultergelenksentzündungen hinzugetreten seien. Er überreichte einen Entlas-
sungs-bericht des G. des Landkreises D. vom 30. März 1992 und ein Attest des Dr. H. vom 8. Juli 1997. Die Beklagte
holte daraufhin ein Gutachten des Arztes für Chirurgie Dr. I., vom 23. Juni 1998 ein, der bestätigte, dass sich die
anerkannten Schädigungsfolgen durch eine fixierte Skoliose der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule verschlimmert
haben und eine Gebrauchsminderung des rechten Schultergelenkes sowie eine ko-ronare Herzkrank-heit nach
Bypassoperation hinzugetreten sei. Dementsprechend hob das Versor-gungsamt D. mit Bescheid vom 14. August
1998 seinen Bescheid vom 16. Mai 1984 auf und stellte bei dem Kläger ab 14. Juli 1997 einen GdB von 100 und das
Vorliegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:
1. Verlust des linken Unterschenkels, Narben im rechten Fuß, rechten Unterschenkel und rechten Handrücken,
chronisches Ekzem und Durch-blutungsstörungen am linken Unterschenkelstumpf, fixierte Skoliose der unteren Brust-
und der Lendenwirbelsäule. 2. Veränderungen der Wirbelsäule. 3. Veränderungen des rechten Kniegelenkes. 4.
Gebrauchsminderung des rechten Schultergelenkes. 5. Coronare Herzkrankheit, Bypassoperation.
Die Zuerkennung des Merkzeichens "aG” und "1. Klasse” lehnte das Versorgungs-amt ab, weil die entsprechenden
Voraussetzungen nicht vorlägen.
Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger einen Bericht des Arztes für Dermatolo-gie Dr. J., vom 7. Oktober 1999
vor. Das Niedersächsische Lan-desamt für Zentrale Soziale Aufgaben wies den Widerspruch indes mit Wider-
spruchsbescheid vom 30. November 1998, gestützt auf eine gutachterliche Stellung-nahme des Dr. K. vom 24.
Oktober 1998, zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 4. Dezember 1998 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben, die er auf das
Merk-zeichen "aG” beschränkt hat. Er hat vorge-tragen, er sei auf einen geräumigen Behin-dertenparkplatz
angewiesen, da aufgrund der Gesundheitsstörungen das Aussteigen aus dem PKW sehr schwierig sei. Die Beklagte
hat zur Stützung ihres Vorbringens auf versorgungsärztliche Stellungnah-men des Dr. L. vom 19. April 1999 und 15.
Oktober 1999 verwiesen. Das (SG) Hannover hat in der münd-lichen Verhandlung am 27. Juli 2000 als ärztlichen
Sachverständigen den Medizinal-direktor Dr. Dr. M. gehört, der aufgrund der Befundberichte und nach Be-fragung des
Klägers eine Gehfähigkeit von 30 bis 40 Metern als gegeben ansah und den Kläger im Bezug auf seine
Gesamtmobilität nicht mit dem Personen-kreis von beidseits Oberschenkelamputierten gleichgestellt hat. Das SG hat
die Klage mit Urteil vom gleichen Tage abgewiesen. Auf die Ent-scheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das am 26. September 2000 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10. Oktober 2000 Berufung eingelegt. Er ist
der Auffassung, da er tatsächlich nur noch 30 bis 40 Meter zurücklegen könne, seien die Voraussetzungen für das
Merkzeichen "aG” ge-geben, zumal er die neue Prothese nicht regelmäßige benutzen könne. Der Kläger überreicht zur
Stützung seines Vorbringens einen Kurzbericht des N. vom 20. März 2000 sowie eine ärztliche Bescheinigung des Dr.
O., vom 15. August 2001.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 27. Juli 2000 aufzuheben und den Bescheid des Versorgungsamtes
Hannover vom 14. August 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für
Zentrale Soziale Aufgaben vom 30. November 1998 abzuändern,
2. den Beklagten zu verpflichten, ab 14. August 1998 den Nachteilsaus-gleich "aG” festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist ergänzend auf versor-gungsärztliche Stellungnahmen des
Dr. P. vom 15. Mai, 19. Juli und 13. August 2001.
Im vorbereitenden Verfahren hat der Senat Befundberichte des Arztes für Orthopädie Dr. Q. vom 12. Februar 2001,
des Unfallchirurgen Dr. R. vom 5. Juni 2001 nebst Krankenunterlagen, des Arztes für Innere Medizin Dr. S., vom 14.
Juni 2001, des Kardiologen Dr. T., vom 12. Juni 2001 nebst Krankenunterlagen und des Arztes für Dermatologie Dr. J.
vom 12. Juli 2001 beigezogen. In dem Termin zur Erörterung des Sachverhalts und der Beweisaufnahme am 26.
Oktober 2001 wurde der Arzt für Orthopädie Dr. U., gehört. Wegen des Ergebnisses der Beweis-aufnahme wird auf die
schriftlichen Berichte nebst Anlagen und die Sitzungsnieder-schrift verwiesen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrich-terin ohne mündliche Verhandlung
am 26. Oktober 2001 zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Betei-ligten wird auf die Prozessakte und
die den Kläger betreffende Schwerbehinderten-akte des Versorgungsamtes D. Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Mit Zustimmung der Beteiligten konnte die Berichterstatterin anstelle des Senats ge-mäß §§ 155 Abse 3 und 4
Sozialgerichtsgesetz (SGG) und ohne mündliche Ver-handlung gemäß § 124 Abs 2 SGG entscheiden.
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig eingelegte Berufung ist unbegründet.
Der Bescheid des Versorgungsamtes D. vom 14. August 1998 und der Wi-derspruchsbescheides des
Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 30. November 1998 sind – soweit damit die
Zuerkennung des Merk-zeichens "aG” abgelehnt wurde, rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des Nachteilsausglei-ches der außergewöhnlichen Gehbehinderung.
Nach § 69 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilnahme behinderter Menschen –
SGB IX – (bis zum 30. Juni 2001: § 4 Abs 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz – SchwbG -) stellen die für die
Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen und den GdB fest.
Ferner treffen diese Behörden nach § 69 Abs 4 SGB IX (bis zum 30. Juni 2001: § 4 Abs 4 SchwbG) die erforderlichen
Feststellungen, wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für
die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Sind bereits Behinderungen beziehungsweise das Vorliegen der
Voraussetzung für die Zubilligung von Nachteilsausgleichen anerkannt und ein Gesamt-GdB festgesetzt, kann eine
Ände-rung dieser Feststellungen auf der Rechtsgrundlage des § 48 Abs 1 des Zehnten Buches des
Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB X) vorgenommen werden. Danach ist ein Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung für die Zukunft aufzuhe-ben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem
Er-lass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Hinsichtlich des begehr-ten Merkzeichens "aG” ist
jedoch keine wesentliche Änderung in den gesundheitli-chen Verhältnissen des Klägers, die bei Erlass des
Bescheides vom 16. Mai 1984 maßgeblich waren, festzustellen.
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches der außerge-wöhnlichen Gehbehinderung ergibt
sich nicht aus dem SGB IX beziehungsweise dem SchwbG, sondern aus den – aufgrund des § 6 Abs 1 Nr 14
Straßenverkehrsge-setz – StVG – in Verbindung mit § 46 Abs 1 Nr 11 Straßenverkehrsordnung – StVO – ergangenen
Verwaltungsvorschriften. Danach sind als Schwerbehinderte mit außer-gewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen
anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstren-gung
außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen: Quer-schnittsgelähmte,
Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig
Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese
tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach
versorgungsärztlicher Feststellung auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis
gleichzustellen sind.
Das SG hat zu Recht entschieden, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen für das streitige Merkzeichen "aG”
nicht vorliegen. Es hat die Voraussetzungen des Merkzei-chens zutreffend dargestellt, den entscheidungserheblichen
Sachverhalt umfassend ermittelt, rechtlich bewertet und seine Entscheidung mit schlüssigen Erwägungen begründet.
Auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils wird insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug
genommen (§ 153 Abs 2 SGG).
Aus den im Berufungsverfahren eingeholten ärztlichen Unterlagen, den von dem Kläger vorgelegten Berichten sowie
der sachverständigen Stellungnahme des Dr. V. ergibt sich weder die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen
medizinischen Feststellungen noch eine wesentliche Verschlechterung der Gehfähigkeit des Klä-gers gegenüber dem
damaligen Zustand. Die Befundberichte des Dr. W. und Dr. R. beschreiben den Verlust des linken Unterschenkels mit
immer wieder auftretenden Ekzemen und Durchblutungsstörungen sowie eine deutliche Bewe-gungseinschränkung
des rechten Knie- und Hüftgelenkes und eine erhebliche Bewe-gungseinschränkung und Verspannung der Wirbelsäule.
Hierdurch ist der Kläger in seiner Gehfähigkeit über längere Strecken erheblich beeinträchtigt, er kann jedoch, wie Dr.
V. überzeugend dargestellt hat, noch ununterbrochen Gehstrecken, die nicht länger als 200 Meter sind, zurücklegen.
Die Berichte belegen indessen nicht, dass er dauerhaft außer Stande ist, seine Unterschenkelprothese zu tragen. Die
mit der außergewöhnlichen Gehbehinderung verbundenen Nachteilsausgleiche können aber nur solchen Personen
gewährt werden, denen der unausweisliche Fußweg zwi-schen einem ordnungsgemäß haltenden oder parkenden
Fahrzeug und dem ange-strebten Ziel in ähnlicher Weise außerordentlich schwer fällt wie den ausdrücklich genannten
Personen. Das Gehen muss deshalb nur unter ebenso großer Anstren-gung möglich sein, wie bei den beispielhaft
aufgeführten Personen der Vergleichs-gruppe bei denen vorrangig Schäden der unteren Extremitäten in einem
erheblichen Ausmaß vorliegen, die bewirken, dass Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der
Fortbewegung nicht oder nur unter besonderen Erschwernissen erfüllen (BSG, Urteil vom 10.12.1997 – 9 RVs 166/97
– in SozR 3-3870 § 4 Nr 22). Dieses Ausmaß erreicht das beschriebene Gehvermögen indessen nicht. Selbst wenn
der Kläger ständig außer Stande wäre, die Unterschenkelprothese zu tragen, könnte er dem Personenkreis nicht
gleichgestellt werden, weil die Voraussetzungen, der ein-seitig Oberschenkelampu-tierte erfüllt, der ständig außer
Stande ist ein Kunstbein zu tragen. Da die Bewegungs- und Belastungsfähigkeit des rechten Hüft- und Kniege-lenkes
zwar eingeschränkt, aber nicht aufgehoben ist, entspricht das Krankheitsbild nicht einem
Doppelunterschenkelamputierten, wie Dr. W. zu Recht dar-gelegt hat. Die andere Beurteilung des Dr. R. vermochte
angesichts der im We-sentlichen gleichen Befunde nicht zu überzeugen.
Auch aus den kardiologischen Befunde ergibt sich keine außergewöhnliche Gehbe-hinderung des Klägers. Nach den
Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG (AHP
1996) kommt eine Gleichstellung mit dem ausdrücklich aufgeführten Personenkreis bei Erkrankung der inneren
Organe beispielsweise bei Herzschäden mit schweren Dekompensationser-scheinungen oder Ruheinsuffizienz in
Betracht. Die Befundberichte des Arztes für Innere Medizin Dr. X. und des Kardiologen Dr. Y. beschreiben keine
wesentlichen Insuffizienzerscheinungen oder kardiale Dekompensation, noch von Seiten der chronischen Bronchitis
größere Atembeschwerden. Dementsprechend bestätigt auch Dr. Y., dass von einer zumutbaren Gehstrecke von bis
zu 500 Metern ausgegangen werden kann. Die Gehfähigkeit des Klägers ist danach zwar erheblich beeinträchtigt,
jedoch nicht als außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne der Vorschriften einzustufen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).